Dienstag, 5. Januar 2016

Schweinebacke mit Grünkohl im "Da Giovanni"



Ich bin auf der Rückfahrt von einem Seminar. Hungergefühle und der Wunsch nach einer Toilette fallen zusammen. Wie schön, dass bei der Durchfahrt durch eine Niedersächsische Kleinstadt ein Schild auf ein italienisches Restaurant hinweist.
„Da Giovanni“ steht auf dem Schild zu lesen und in der Unterzeile etwas kleiner „italienische Spezialitäten – durchgehend geöffnet“.
„Das passt!“
Schon 300 Meter weiter lenkt Jörn den Wagen auf den Parkplatz des Italieners.
Es ist ausgesprochen ruhig im Restaurant, wir sind die einzigen Gäste am frühen Nachmittag und allem Anschein nach haben sich Giovanni, seine Frau und alle ihre Angestellten zur Mittagsruhe zurückgezogen.

Ich sehe auf einer Kommode die Speisekarten.
„Na ja, wenn die Karten nicht zu mir kommen, muss ich zu den Karten“, denke ich und besorge zwei mit den italienischen Farben geschmückte Karten.
Gerade habe ich meine Karte geöffnet, lese „Hier bedient Sie der Chef persönlich!“ als ein Geräusch, vielleicht von aneinanderschlagenden Töpfen, durch die hinter dem Tresen geöffnete Tür an mein Ohr dringt.
Wir sind also nicht allein im Haus. Ich gehe zum Tresen und rufe durch die geöffnete Tür:
„Hallo, ist da jemand?“
Statt einer Antwort höre ich sanft schlurfende Schritte.
Ein grauhaariger Mann vielleicht eben jenseits der 70 kommt vom Tresen zu uns an den Tisch. Auf seiner Schürze mit deutlichen Arbeitsspuren sind Italiens Flagge abgebildet und ein fröhliches Porträt mit Kochmütze und dem Namenszug „Giovanni“.
„Goden Dach, was daafs sein?“
Artig begrüßen wir den Ober in Hauspantoffeln und fragen, ob wir trotz der späten Stunde noch etwas zu essen bekommen.
„Keen Probleem, se is jümmer tau Huus un, wenn Se wat wüllt, dann geiht se in´ne Köök un bruzzelt, wat ji wüllt.“
Ich weiß nicht, was mich geritten hat, vielleicht der plattdeutsch schnackende Giovanni?
„Sagen Sie, in der Karte steht, dass hier der Chef selber bedient. Sünd Se de Chef hier? Giovanni?“
„Jo, dat bün ick.“
Nun konnte ich irgendwie  nicht anders. Nix mehr mit „prego“, „Carta“, „Vino rosso“ „Quadro Stagioni“ und was ich sonst so in unserem italienischen Nachbarland oder in den verschiedensten Pizzabäckereien aufgeschnappt habe. Giovanni schnackt Platt und Platt künnt wi ook! Besser als italienisch allemal!
„Un Se heet ook Giovanni? Se schnackt Platt as een vun hier.“
Ein verschmitztes Grinsen geht über sein Gesicht. Gerade wollte er das Geheimnis über den plattschnackenden Giovanni lüften, als sich von der Küche eine Frauenstimme meldete.
„Giovaaanni, iste da Aabeit für cucina, no?“
„Dat is se, mine Maria. De is för de Köök taustännich. Mien Frau. De schnackt keen Platt ober jümmer wenn ick wat op Platt vertell, wat se nich verstohn schall, denn verstoht se dat. Viellicht sünd wi doch schon ganz scheun lang tohoope.“
„Verstoh ick dat nu richtich, Maria kummt ut Italien, oober Se, Se hört sick nu partout nich an, as wenn Se ut Italien kümmt?“
Maria kommt aus der Küche herbei, hängt sich bei Giovanni ein und begrüßt uns mit einem strahlenden Lächeln und zwei goldblitzenden Zähnen im linken Oberkiefer:
„Buon Giorno signori, gutte Tag. Iste meine Maan, Giovaanni, caro mio. Ihr könnt alles haben von der Carta oder ich habe noch Tagesgericht. Hast du schon gefragte, Giovanni Tesoro mio, no?“
„Nee, hebb ick nich.“
„Wat givt denn vun Dooch“, schaltet Jörn sich ein.
„Greunkool mit Swienback, Kassler un Koolwusst för sössföftich.“
Maria verabschiedet sich in Richtung Küche.
„Wat is, Jörn, schööt wi? Scheun Greunkool? Is all ´n ganze Tied her, dat ick Kool har, bi´n Kooleeten vun Seilvereen. Mool sehn, ob se den Kool ook so gau trech kreegt as bi uus. Hebt se ook de lüttjen seuten Kantüffeln?“
„Nee“, seggt Giovanni, dat kennt wi hier gor nich. Hebb ick oober all vun hört. Hier givt den Kool mit Soltkantüffeln.“
Wir verständigen uns mit Blicken über den Tisch.
„Jo, dann bringt Se uus mool twee Portionen Greunkool. Mool seehn, wat dat givt?“
„Maria, twee Mool Greunkool!“ ruft er zur geöffneten Küchentür.
 „Un ook wat tau drinken?“
„Een Wooter“, secht Jörn, „möt jo noch föhrn.“
„Ick har woll geern´n Beer. Wat anners kann ick mi nich vörstilln tau´n Greunkool.“

Giovanni hat wirklich schöne Pantoffeln aus dickem Filz mit Karomuster in verschiedenen Brauntönen. Man hört nur ganz leise Schlurfgeräusche als er sich mit dem Tablett nähert.
„So denn, wohl bekomms. Vun wo kumt ji?  Stood?“
Er hatte längst unser Autokennzeichen gesehen.
„Nee, wi woohnt in Freiburg, weet Se dor bi…“, fängt Jörn an zu erklären.
„Jo, kenn ick. Mit den grooten Silo vun Kühlcke und Pieper. Vun K un P hebb ick Joohre trüch mool´n LKW Schroot kreegen.“

Nun war es aber endlich an der Zeit für eine Erklärung, Giovanni.
„Nu secht Se doch mool Giovanni, wat mookt Se mit´n LKW Schroot in´ne Pizzeria?“
Giovanni griemelt.
„Dat weer noch in de Tied, as  ick noch Johannes oder beeter Hannes heeten de, as ick noch Buer weer dor op de anner Siet vun ´e Stroot.“
„Verstoohst du dat, Jörn?“
Jörn konnte sich auch keinen Reim aus Giovannis Worten machen. Weil Maria sich noch mit dem Grünkohl abmühte, hatte Giovanni Zeit zum Erzählen.
„Dat weer so. As min erste Frau, mine Else, also Else Plaggenborch, as de dotbleeben is, dor hebbt Maria un Giovanni sick jümmer üm mi kümmert. Min Keuk bleev kolt, öber kott oder lang har ick mi nich mool mehr ´n Koffee mookt morns. Ohne Fröhstück in Kohstall taun melken. Ut´n Stall kun ick seehn, dat Maria un Giovanni ook all in Gang weern. Un dann bin ick jüst noo´n Melken jümmer röber in de ehr Keuk. Dor hebt wi dann fröhstückt. Middach kun ick mi´n Pizza utsöken un Oobens geev dat noch mool warm oder, een twee Joohr looter, har se denn ook schon Swattbrood för mi köfft. Se weet, wat ick am leevsten eeten dee. Un an mien 65. Geburtsdach hebt se mi froogt, wat ick denn woll geern tau Middach hem wull. Eers keem ick nich so richtich rut mit mien Wunsch.
„Dat künnt se doch nich mooken, wat ick wull geern mool eeten wull.“
Dann hebt se mi so lang löchert, bit ick  rutkäm mit min Wunsch.
„Greunkool mit Swiensbacke und Kassler.“
Ick hebb jem dat dann verkloort, wo Else dat jümmer mookt hett.
„Null Problemo, Amigo“, war Giovannis Antwort.
„Und, hett de Kool so schmeckt as bi Else?“
„Nee. Oober ick hebb nix secht. Oogen dicht un dör. Se sit blank mi an Disch un hebbt sick freit, dat eehrn Amiigo vun de anner Strootensiet eehrn Greunkool eeten de.“
„Nu secht Se oober mool, Maria is verheiroot mit Giovanni oober Se hebt vörhin vertellt, dat Maria Eehr Frau is. Ick glöv, dat ick irgendwat nich kapiert haar.“
Giovanni griemelt wieder.
„Daaaf doch?“ fragt er und setzt sich auf den freien Stuhl am Tisch, ohne eine Antwort abzuwarten. Ein untrüglicher Hinweis, dass die Geschichte noch eine längere Fortsetzung hat.
„Kööm?“ fragt Giovanni.
„Scheunen Dank. Nee ick moot noch föhrn, du Jörg?“
„Nee, danke, ick ook nich. Dank ook.“

„Also dat weer so. Twee Joohr trüch, ick har den Hoff all an min  Söhn Dennis öberschreven, keem Maria ganz opgerecht öber de Stroot röberjoocht un kuum dat se bi mi in´t Huus weer, röpt se jümmer „Giovanni is doot, Giovanni is doot!“
Dat hett se natürlich nich op Platt roopen.
Oober dot weer he trotzdem.“

Giovanni macht eine Pause und blickt nachdenklich irgendwo zwischen uns durch, hinaus auf die Straße.
„Grünkool iste fertich, Giovanni!“
Es ist, als hätte Maria ihn wieder ins Leben zurückgeholt.
„Nee, töv man noch´n beeten. Passt noch nich!“
Giovanni räuspert sich und setzt seine Geschichte fort.
„He har jümmer secht, dat he bi Mudder und Vadder in Eeboli liggen wul. Dat hett Maria mi vertellt. Eeboli dat liggt noch achter Neaapel. Todenhöft, dat is uusen Bestatter hier, also Todenhöft hett Giovanni mitsamt sine Kist no Eeboli föhrt.
Hett woll´n Barch Göld verdeent mit Giovannis letzte Reis.
Ick as gooden Frün nich nur vun Giovanni, ook vun Maria, hebb Maria in twee lange Dooch mit min ollen Deimler no de Beerdigung in Eeboli fööhrt. Nee, sowat hebbt ji noch nich beleevt. Dat ganze Dörp weer swatt un ick glöv, dat se all verwandt weern mit Giovanni.
Weent hebt se tauminst all.“

Giovanni macht eine Pause und lässt uns mit unseren Gedanken über den Fortgang der Geschichte alleine.

„Und dann, Herr Plaggenborch, was ist dann passiert?“
„Dann sünd wi weller trüchföhrt.
Kannst Giovanni tau mi seggn. Mookt se all hier.
Jo, und dann hebb ick Maria hölpt. Ick har mi Giovannis Schört ümbunnen und dat „Da Giovanni“ hett brummt as wi vör dat Mallöhr mit Giovannis Infarkt.“
„Oober Giovanni, heetst du nich eegentlich Johannes Plaggenborch. Dor fehlt mi noch wat“, bohrte ich neugierg geworden in seiner Vergangenheit.
„Letztet Joohr, kott vör Wiehnachten, de letzten Gäst weern all rut, door sitten Maria und ick mit Beer und Wien an Disch. Ick wull jüst röber no mien Sloopstuv an de anner Strootensied, door fangt Maria dat Schnacken an.
„Du, Hannes, deine Name iste doch korrekte Johannes?“
„Ja.“
„Iste Johannes nicht wie in Italia Giovanni?“
„Ja, kann sein.“
„Dann bist du die neue Giovanni, Hannes. Willst du nicht bleiben bei mir? Du bist mein Giovanni und ich bin deine Else.“
„Ich ahne etwas“, sagt Jörn.
„Jo“, sagt Giovanni, „ick bün dann nur noch rööber, miene Plünn tau holen. In Mai hebbt wi heiroot. Se heet nu Maria Plaggenborch un ick heet Giovanni Plaggenborch. Wi secht oober nur Maria und Giovanni.“
Giovanni macht eine kleine Pause.
„Maria, kannst den Greunkool bringen. Nu weet se de ganze Geschicht vun Giovanni un Giovanni!“

„Da Giovanni“ ist wohl das einzige italienische Restaurant, in dem es Grünkohl mit Schweinebacke, Kohlwurst und Kassler gibt. Und, dass das so ist, haben wir Giovanni und nicht etwa Giovanni zu verdanken.

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