Langeweile
bestimmte ihr Leben. Die beiden Jungen gingen schon seit einiger Zeit ihrer eigenen
Wege. Etwas eher schon, als die meisten ihrer Alterskollegen. Niemanden wunderte
es so richtig bei der Mutter! Einer Mutter, die glaubte, ihren fast erwachsenen
Söhnen in Anwesenheit der heranwachsenden Nachbarstöchter noch die Nase putzen
zu müssen.
Ihrem Mann
Klaas putzte sie nicht mehr die Nase, vielleicht hatte sie es auch nie getan.
Es waren wohl andere Dinge, die den Architekten und Inhaber
eines kleinen Baugeschäftes seit Jahren veranlassten, das Haus sehr früh zu
verlassen und erst sehr spät wieder aufzusuchen. Ingeli, wie er sie in einer
Anwandlung längst vergangener
Zärtlichkeit nannte, war der
Grund, warum er die Anwesenheit in seinem Heim auf das absolut niedrigste Maß
beschränkte.
Da wundert´s
niemanden, wenn Ingeborg König nach Erledigung der Hausarbeit all ihre Liebe
und Fürsorge der rotbraunen Langhaardackelhündin „Hella“ widmete. Das Beste an
dem Tier war, dass es auch noch beim belanglosesten
und blödesten Gerede von Ingeborg König freundlich mit dem Schwanz wedelte.
Die
familieninterne Kommunikation hatte sich
im Wesentlichen bereits auf zwei Fragen reduziert: „Was gibt es zu essen?“ oder
„Was gibt es heute im Fernsehen?“
Zu diesem
Zeitpunkt nahte die Erlösung von unerwarteter Seite. Im Nachbarhaus zog eine
siebenköpfige Familie ein.
Leichtfertig, die zukünftige Entwicklung
maßlos unterschätzend, ließ sich der Familienvater – mein Vater – auf Gespräche
über den Gartenzaun ein. Es folgte die Geschichte mit dem kleinen Finger. Ingeborg König genügte nach Jahren der
Sprachlosigkeit in ihrem Heim nicht mehr der Finger. Es musste sehr bald schon die
ganze Hand sein, am besten noch die zweite Hand dazu!
Mit der
Präzision eines Uhrwerkes kam mein Vater nach einem 10-Stundentag Nachmittag für Nachmittag zur gleichen Uhrzeit die Auffahrt
heraufgefahren.
Mit gleicher
Präzision öffnete Frau König „zufällig“
gerade in dem Moment, in dem mein Vater
das Auto verließ, ihre Haustür und erlöst sich mit einem Schwall von
Belanglosigkeiten von ihrem stummen Dasein.
Anfangs ging
er ja noch auf ihr hohles Gerede ein, wahrscheinlich genoss er es sogar, wenn sie seine kleinen Späße mit
pubertärem Gekicher bedachte. Immer
häufiger geschah es dann schon, dass er sich mit Unwohlsein oder einer
dringenden Angelegenheit der nachmittäglichen Zwangskommunikation entzog.
Dann, völlig
überraschend, gelang meinem Vater ein mehrwöchiger Befreiungsschlag.
An einem
wunderschönen Sommertag gegen Ende August verließ er wie gewohnt sein Auto. Mit dem Klappen der
Autotür öffnete sich die Haustür von Familie König. Ingeli, so nannten auch wir
sie inzwischen immer dann, wenn wir unter uns waren, konnte ihre Erregung nicht
mehr zurückhalten.
Was ihr auf
der Seele lastete, musste raus!
Viel zu
lange schon hatte sie auf den dunkelgrünen Opel Rekord mit den Weißwandreifen
gewartet.
„Herr
Petersen, Herr Petersen, Sie glauben gar nicht, was passiert ist!“
„Nun
beruhigen Sie sich doch erst einmal Frau König. Was ist denn Schlimmes
passiert?“
Dass es
etwas Schlimmes sein musste, verriet Ingeborg Königs sichtbare Aufgeregtheit.
„Meine „Hella“
ist läufig!“
„Na und, das
ist doch ganz natürlich.“
„Ja, aber
der „Hadschi“ aus der Caprivistraße weiß das auch. Sehen Sie mal, da steht er
schon wieder an der Pforte. Der darf nicht auf unser Grundstück!“
„Kann er ja
auch nicht, wenn Sie immer die Pforte gut geschlossen halten.“
„Er ist
früher aber auch schon einmal über die Pforte
gesprungen.“
„Und, was
kann ich nun tun? Soll ich mal mit „Hadschi“ reden?“
„Das ist
nicht witzig, Herr Petersen. Es wäre nur sehr nett, wenn Sie „Hadschi“
vertreiben würden, falls er auf unserem Grundstück ist. „Hadschi“ ist schließlich ein Terrier und
kein Dackel. Sie verstehen, was ich meine?“
„Ja, ich
glaube, dass ich es verstehe. Sie wollen ihrer „Hella“ den Spaß nicht gönnen.“
„Herr
Petersen! So hätte ich das jetzt aber nicht gesagt.
Halten Sie bitte
einen Blick auf Hella?“
„Ja, ja. Das
geht in Ordnung!“
Nur zwei
Tage später:
Königs Haustür
öffnete sich. Vater Petersen hatte einen anstrengenden Tag „im Dienst“ hinter
sich, Kopfschmerz quälte ihn schon seit Stunden. Ein Plausch über den Gartenzaun war das
allerletzte, was er sich an diesem Tag und in seinem Zustand wünschte.
„Herr Petersen,
unsere „Hella“ ist immer noch läufig!“
„Schön“, brachte
er heraus und wandte sich seiner Haustür zu.
„So schön
ist das ja nun auch nicht. Sie wissen ja, überall die Blutflecken. Sie darf nur
noch in der Küche sein auf dem Terrazzoboden oder draußen im Garten.“
„Oh, Frau
König, da fällt mir noch etwas ein. Gestern habe ich gesehen, wie der „Hadschi“
aus der Caprivistraße mit einem Riesensatz über die Gartenpforte sprang.“
„Oh Gott!
Und dann?“
„Dann, also
dann – ich konnte auch nichts mehr machen. Ich habe noch in die Hände
geklatscht und gerufen. Aber Terrier hören wohl schlecht, wenn sie´s machen.“
„Wie? Was
machen?“
„Na ja, der
„Hadschi“ hat es halt gemacht mit der „Hella“. Ich konnte es nicht verhindern.
Und das Schlimme ist …“
Er machte
eine bedeutungsschwere Pause.
„Was ist das
Schlimme? Herr Petersen, was ist so schlimm?“
„Also, ich
als Landwirt weiß, dass es sich über Kreuz vererbt.“
„Wie über
Kreuz?“
„Na ja. Also
die Jungen. Die Jungen von „Hella“ werden vorne links ein langes und rechts ein
kurzes Bein und hinten links ein kurzes und rechts ein langes Bein haben.“
Ingeli stößt
einen Schreckensschrei aus. Kurze Zeit später stürmte sie mit „Hella“ in einer
Tragetasche aus dem Haus.
Es ist nicht
genau überliefert, ob er die Ruhe am Gartenzaun genossen hatte oder ob ihn
irgendwelche Gewissensbisse geplagt haben.
Sechs oder sieben Wochen später hatte der Goldhamster meiner kleinen
Schwester Durchfall. Meine Mutter hatte „Goldi“ und meine Schwester zum Tierarzt begleitet.
„Das haben
wir ganz schnell. Ich schreibe Ihnen ein Medikament auf. Davon geben sie dem
Hamster täglich sieben Tropfen ins Futter.“
Plötzlich
richtet er seinen fragend nachdenklichen Blick auf meine Mutter.
„Petersen
heißen Sie und wohnen im August-Bolten Weg? Neben Königs?“
„Ja“,
antwortete meine Mutter.
Der Tierarzt
konnte sein Lachen nicht mehr unterdrücken.
„Dann hat
Ihr Mann Frau König den Unsinn mit der kreuzweisen Vererbung der Beinlänge
erzählt. Als Frau König mir das erzählte und auch noch sagte, dass ihr Nachbar
schließlich Landwirt sei und sich damit auskenne, bin ich fast vor Lachen vom
Stuhl gerutscht.“
Meine Mutter
wusste nun, warum am Gartenzaun Stille
eingekehrt war. Ingeborg König, pardon „Hella“ König bekam keinen Nachwuchs und
„Hadschi“ wurde nicht Vater. Mein Vater hatte seine Ruhe, vorerst zumindest, und ich hatte eine Geschichte, die ich bis
heute immer mal wieder gerne erzähle.
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