Sonntag, 24. Januar 2016

Kreuzweise Vererbung



Langeweile bestimmte ihr Leben. Die beiden Jungen gingen schon seit einiger Zeit ihrer eigenen Wege. Etwas eher schon, als die meisten ihrer Alterskollegen. Niemanden wunderte es so richtig bei der Mutter! Einer Mutter, die glaubte, ihren fast erwachsenen Söhnen in Anwesenheit der heranwachsenden Nachbarstöchter noch die Nase putzen zu müssen.
Ihrem Mann Klaas putzte sie nicht mehr die Nase, vielleicht hatte sie es auch nie getan.
 Es waren wohl  andere Dinge, die den Architekten und Inhaber eines kleinen Baugeschäftes seit Jahren veranlassten, das Haus sehr früh zu verlassen und erst sehr spät wieder aufzusuchen. Ingeli, wie er sie in einer Anwandlung längst vergangener  Zärtlichkeit  nannte, war der Grund, warum er die Anwesenheit in seinem Heim auf das absolut niedrigste Maß beschränkte.
Da wundert´s niemanden, wenn Ingeborg König nach Erledigung der Hausarbeit all ihre Liebe und Fürsorge der rotbraunen Langhaardackelhündin „Hella“ widmete. Das Beste an dem Tier war, dass es auch noch beim  belanglosesten und blödesten  Gerede von Ingeborg König  freundlich mit dem Schwanz wedelte.

Die familieninterne Kommunikation  hatte sich im Wesentlichen bereits auf zwei Fragen reduziert: „Was gibt es zu essen?“ oder „Was gibt es heute im Fernsehen?“
Zu diesem Zeitpunkt nahte die Erlösung von unerwarteter Seite. Im Nachbarhaus zog eine siebenköpfige Familie ein.
 Leichtfertig, die zukünftige Entwicklung maßlos unterschätzend, ließ sich der Familienvater – mein Vater – auf Gespräche über den Gartenzaun ein. Es folgte die Geschichte mit dem kleinen Finger.  Ingeborg König genügte nach Jahren der Sprachlosigkeit in ihrem Heim nicht mehr der Finger. Es musste sehr bald schon die ganze Hand sein, am besten noch die zweite Hand dazu!
Mit der Präzision eines Uhrwerkes kam mein Vater nach einem  10-Stundentag Nachmittag für Nachmittag  zur gleichen Uhrzeit die Auffahrt heraufgefahren.
Mit gleicher Präzision öffnete  Frau König „zufällig“ gerade in dem Moment, in dem  mein Vater das Auto verließ, ihre Haustür und erlöst sich mit einem Schwall von Belanglosigkeiten von ihrem stummen Dasein. 
Anfangs ging er ja noch auf ihr hohles Gerede ein, wahrscheinlich  genoss  er es sogar, wenn sie seine kleinen Späße mit pubertärem Gekicher bedachte.  Immer häufiger geschah es dann schon, dass er sich mit Unwohlsein oder einer dringenden Angelegenheit der nachmittäglichen Zwangskommunikation entzog.
Dann, völlig überraschend, gelang meinem Vater ein mehrwöchiger Befreiungsschlag.
An einem wunderschönen Sommertag gegen Ende August verließ  er wie gewohnt sein Auto. Mit dem Klappen der Autotür öffnete sich die Haustür von Familie König. Ingeli, so nannten auch wir sie inzwischen immer dann, wenn wir unter uns waren, konnte ihre Erregung nicht mehr zurückhalten.
Was ihr auf der Seele lastete,  musste raus!
Viel zu lange schon hatte sie auf den dunkelgrünen Opel Rekord mit den Weißwandreifen gewartet.
„Herr Petersen, Herr Petersen, Sie glauben gar nicht, was passiert ist!“
„Nun beruhigen Sie sich doch erst einmal Frau König. Was ist denn Schlimmes passiert?“
Dass es etwas Schlimmes sein musste, verriet Ingeborg Königs sichtbare Aufgeregtheit.
„Meine „Hella“ ist läufig!“
„Na und, das ist doch ganz natürlich.“
„Ja, aber der „Hadschi“ aus der Caprivistraße weiß das auch. Sehen Sie mal, da steht er schon wieder an der Pforte. Der darf nicht auf unser Grundstück!“
„Kann er ja auch nicht, wenn Sie immer die Pforte gut geschlossen halten.“
„Er ist früher aber auch schon einmal über die Pforte  gesprungen.“
„Und, was kann ich nun tun? Soll ich mal mit „Hadschi“ reden?“
„Das ist nicht witzig, Herr Petersen. Es wäre nur sehr nett, wenn Sie „Hadschi“ vertreiben würden, falls er auf unserem Grundstück ist.  „Hadschi“ ist schließlich ein Terrier und kein Dackel. Sie verstehen, was ich meine?“
„Ja, ich glaube, dass ich es verstehe. Sie wollen ihrer „Hella“ den Spaß nicht gönnen.“
„Herr Petersen! So hätte ich das jetzt aber nicht gesagt.
Halten Sie bitte  einen Blick auf Hella?“
„Ja, ja. Das geht in Ordnung!“

Nur zwei Tage später:
Königs Haustür öffnete sich. Vater Petersen hatte einen anstrengenden Tag „im Dienst“ hinter sich, Kopfschmerz quälte ihn schon seit Stunden.  Ein Plausch über den Gartenzaun war das allerletzte, was er sich an diesem Tag und in seinem Zustand wünschte.
„Herr Petersen, unsere „Hella“ ist immer noch läufig!“
„Schön“, brachte er heraus und wandte sich seiner Haustür zu.
„So schön ist das ja nun auch nicht. Sie wissen ja, überall die Blutflecken. Sie darf nur noch in der Küche sein auf dem Terrazzoboden oder draußen im Garten.“
„Oh, Frau König, da fällt mir noch etwas ein. Gestern habe ich gesehen, wie der „Hadschi“ aus der Caprivistraße mit einem Riesensatz über die Gartenpforte sprang.“
„Oh Gott! Und dann?“
„Dann, also dann – ich konnte auch nichts mehr machen. Ich habe noch in die Hände geklatscht und gerufen. Aber Terrier hören wohl schlecht, wenn sie´s machen.“
„Wie? Was machen?“
„Na ja, der „Hadschi“ hat es halt gemacht mit der „Hella“. Ich konnte es nicht verhindern. Und das Schlimme ist …“
Er machte eine bedeutungsschwere Pause.
„Was ist das Schlimme? Herr Petersen, was ist so schlimm?“
„Also, ich als Landwirt weiß, dass es sich über Kreuz vererbt.“
„Wie über Kreuz?“
„Na ja. Also die Jungen. Die Jungen von „Hella“ werden vorne links ein langes und rechts ein kurzes Bein und hinten links ein kurzes und rechts ein langes Bein haben.“
Ingeli stößt einen Schreckensschrei aus. Kurze Zeit später stürmte sie mit „Hella“ in einer Tragetasche aus dem Haus.

Es ist nicht genau überliefert, ob er die Ruhe am Gartenzaun genossen hatte oder ob ihn irgendwelche Gewissensbisse geplagt haben.  Sechs oder sieben Wochen später hatte der Goldhamster meiner kleinen Schwester Durchfall. Meine Mutter hatte  „Goldi“ und meine Schwester zum Tierarzt begleitet.
„Das haben wir ganz schnell. Ich schreibe Ihnen ein Medikament auf. Davon geben sie dem Hamster täglich sieben Tropfen ins Futter.“
Plötzlich richtet er seinen fragend nachdenklichen Blick auf meine Mutter.
„Petersen heißen Sie und wohnen im August-Bolten Weg? Neben Königs?“
„Ja“, antwortete meine Mutter.
Der Tierarzt konnte sein Lachen nicht mehr unterdrücken.
„Dann hat Ihr Mann Frau König den Unsinn mit der kreuzweisen Vererbung der Beinlänge erzählt. Als Frau König mir das erzählte und auch noch sagte, dass ihr Nachbar schließlich Landwirt sei und sich damit auskenne, bin ich fast vor Lachen vom Stuhl gerutscht.“

Meine Mutter wusste nun, warum  am Gartenzaun Stille eingekehrt war. Ingeborg König, pardon „Hella“ König bekam keinen Nachwuchs und „Hadschi“ wurde nicht Vater. Mein Vater hatte seine Ruhe, vorerst zumindest,  und ich hatte eine Geschichte, die ich bis heute  immer mal wieder gerne erzähle.

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