Sonntag, 20. Dezember 2015

Warum der Weihnachtsmann nicht aus Lappland kommt



Als Popat in mein Leben trat stand das seine kurz vor dem Ende. Er musste damals in der Mitte der achtziger gewesen sein. Hinter ihm lag ein bewegtes Leben mit zwei Weltkriegen. Irgendjemand im Dorf wusste zu erzählen, dass Popat mit 13 Geschwistern in einem Insthaus auf einem Gut  aufgewachsen sein sollte. Genaues wusste niemand, auch die Gemeindeschreiberin von Groß Kramersdorf nicht, die Ende April  45 die Daten des Flüchtlings Popat aus Klein Kröpaan, einem Gutsdorf im ehemaligen Kreis Goldap, aufgenommen hatte. Er nannte ihr nur seinen Nach- oder Vornamen, eben Popat, und dass er am 26. Juni 1876 geboren wurde.
Auf die Frage, welchen Beruf er ausübte, antwortete er: „Nachtwächter.“
Wenn er mit einem Treck aus seiner Heimat gekommen war, musste er seine Leute irgendwo verloren haben. Er kam jedenfalls allein nach Bad Segeberg, der Kreisstadt, und wurde von dort unserem Dorf zugewiesen. Popat trug, als er ins Dorf kam, Knobelbecher vom Militär und Arbeitsbekleidung mit schwerer Lodenjoppe, wie sie zu der Zeit die Landarbeiter überall im Lande trugen. Sein einziges Gepäckstück bestand aus einem Paket, in dem sich, wie sich später herausstellte, ein roter Mantel und eine rote Mütze mit Lammfellbesatz  befanden. Papiere hatte er nicht und auf die Frage nach irgendwelchen Verwandten zuckte er nur mit den Schultern.
Bei Heimatort trug Maria Reimers, die Hilfe des Bürgermeisters, auf seine Antwort „Gutshof Klein Kröpaan, Kreis Goldap“ ein.
Spätere Nachforschungen seitens der Ämter ergaben eine kleine Sensation: Im  ehemaligen Kreis Goldap gab es weit und breit kein Dorf oder Gut mit dem Namen  Klein Kröpaan. Nur den Nachtwächter von Klein Kröpaan, Popat, den gab es!
Und der wohnte in einem kleinen Verschlag neben Cordes Hühnerstall, der vor der Zwangseinquartierung des Nachtwächters mit dem Weihnachtsmannkostüm,  den frischgeborenen Ferkeln mit der Muttersau sozusagen als Wöchnerin Station diente.
Popat besaß kein Geld und bis endlich eine kleine Rente an ihn ausgezahlt wurde, bekam er umschichtig von den Bauern des Dorfes sein Essen.  Als Gegenleistung wurde allerdings von ihm erwartet, dass er wieder in seinem früheren Beruf als Nachtwächter arbeitet.
Fortan musste Popat die Nacht über mit einem Stock bewaffnet durch das Dorf gehen. Alle Stunde sollte er in ein Horn tuten, als Nachweis, dass er auch wachte.  Vielleicht sollte das Tuten auch Gesindel  verscheuchen. Die großen Dorfbengel spielten dem armen Nachtwächter manchen Streich und taten so, als wären Einbrecher am Werke. Popat, altersgeschwächt und ängstlich, versteckte sich und nahm erstmal einen kräftigen Schluck aus seiner Buddel, um den nötigen Mut für weitere Nachforschungen zu haben. Wenn er sich schon leicht angetrunken wieder hervortraute, waren die Jungen verschwunden. Gegen Morgen torkelte der gute Mann dann in sein Domizil.
Er rief oft laut über den Hof: “Kiekeriki, ik go jetzt in minen Höhnerstall!”
Jedes Jahr am Heiligen Abend wechselte Popat in seinen Zweitberuf. Er schlüpfte bereits zeitig am Nachmittag des 24. Dezembers in sein rotes Weihnachtsmannkostüm, legte einen alten Getreidesack mit etwas Stroh über die Schulter, kämmte ausnahmsweise seinen langen, sonst leicht verfilzten weißen Bart und begab sich mit einer Rute aus Birkenreisern auf seine jährliche Weihnachtsrunde
von Haus zu Haus. Manche Eltern benutzten ihn als Erziehungsmittel, einige steckten ihm von ihren Kindern unbemerkt ein paar Geschenke zu, die er dann überreichen durfte. Viele Eltern in unserem Dorf wollten keinen und diesen Weihnachtsmann schon gar nicht. Oftmals kauften sie sich mit einem Gläschen Steinhäger vom unerwünschten Auftritt frei.
Ich machte meine Bekanntschaft mit Popat Weihnachten 1954. Vierjährig blickte ich auf den Tannenbaum mit seinen leuchtenden Kerzen. Das Schlagen der Rute gegen das Fenster des Weihnachtszimmers erschreckte mich zu Tode. Hinter der Scheibe sah ich den  Weihnachtsmann, der mit lauter Stimme Einlass verlangte. 
Von diesem Moment an war der Weihnachtsmann für mich ein Schreckgespenst und ich verdarb meinen Eltern und Geschwistern den Heiligen Abend mit meinem anhaltend lauten Angstgeschrei.
Es brauchte Wochen, bis ich zur Ruhe kam.

In der Adventszeit vor dem nächsten Weihnachtsfest fragte ich immer wieder sorgenvoll, ob der Weihnachtsmann dieses Jahr wiederkommen würde. Sowohl Vater als auch Mutter beruhigten mich. Ich könne sicher sein, dass der Weihnachtsmann bestimmt nicht kommen würde. Sicherlich klangen sie nur deshalb so überzeugend, weil mein Vater schon Tage vor Weihnachten mit einer Fünferschachtel Schneehasen Zigarren und einer Flasche Doornkaat bei Popat im Hühnerstall aufschlug, ihm die Geschenke unter der Bedingung überreichte, dass der Weihnachtsmann  in diesem Jahr auf jeden Fall den Hermannshof auslassen müsse.

Ich war dem anderen Popat, dem Nachtwächter, inzwischen mehrfach im Dorf begegnet. Er bückte sich zu mir runter, tätschelte mir die Wange und sprach mit seinem ostpreußischen Dialekt auf mich ein. Meine Großmutter nahm mir jede Angst vor diesem ungepflegten, wilden Mann mit der merkwürdigen Sprache. Sie erklärte mir, dass Popat seine Heimat verlassen musste, alles verloren hat und nun bei Cordes im Hühnerstall lebt. Das wichtigste aber sei, dass er nachts durchs Dorf geht, Räuber vertreibt und darauf achtet, dass niemand im Schlaf vom Feuer überrascht wird. Nachdem die Großmutter mir auch noch das Horn erklärt hatte, betrachtete ich seine Messingtröte  mit äußerster Hochachtung. Dieser Popat war ein guter Mann. So alt und abgerissen wie er war, war er für mich der Garant für Sicherheit, ein Held, der mich in dunkler Nacht vor Räubern beschützte.

Weihnachten stand wieder an!
Was für eine Vermessenheit von meinen Eltern zu glauben, dass der Weihnachtsmann sich tatsächlich mit einer Schachtel Zigarren und einer Flasche Schnaps bestechen lassen würde, seine weihnachtlichen Pflichten zu vernachlässigen. Popat hatte wahrscheinlich längst schon alle „Schneehasen“ aufgeraucht und die Schnapsflasche geleert, als er sich vor der Hofauffahrt zum Hermannshof entschied, doch noch einen kleinen Abstecher zur Petersen Familie zu machen.
Ich war inzwischen ein Jahr älter und als es am Fenster klopfte klammerte ich mich sofort ans Bein meiner Mutter. Geschrien habe ich nicht aber mit großer Angst verfolgt, wie mein Vater die Tür öffnete.
„Ich hatte dir doch gesagt, dass du dieses Jahr nicht mehr kommen sollst. Sieh zu, dass du vom Hof kommst.“
Der Weihnachtsmann trollte sich und redete in bestem Ostpreußisch vor sich hin. Ich kannte den Klang dieser Sprache. Unser tapferer Nachtwächter hat auch diese Stimme und Peter Krohn erst, der seit einigen Wochen bei uns auf dem Hof arbeitete.
Es kehrte Ruhe ein im Weihnachtszimmer. Wir machten uns fertig zum Essen.
Ich fragte meine Mutter:
„Hat das Christkind die Geschenke gebracht?“
„Ja.“
„Und wo wohnt es?“
„Im Himmel bei den Engeln.“
„Und der Weihnachtsmann kommt aus Ostpreußen!“
„Wie kommst du denn darauf?“
„Der spricht genauso, wie der Nachtwächter und der ist Flüchtling und kommt auch aus Ostpreußen, hat Großmutter gesagt.“

Noch Jahre später, als ich bereits in Hamburg lebte, erwischte ich mich beim Anblick der vielen Weihnachtsmänner in der vorweihnachtlichen Innenstadt immer mal wieder bei dem Gedanken:
„Arme Kerle, kommen aus Ostpreußen und  haben alle ihre Heimat verloren!“

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