Vincent Paul
von Borstel gehörte zu den ganz, ganz schlauen Kindern. Wahrscheinlich eines
der 80% hochbegabten Kinder, die unter ihrer nie erkannten Hochbegabung leiden.
Was genau
ihn so schlau gemacht hat, ist nie so wirklich untersucht worden. Vielleicht
kommt es von den Eltern. Aber, wenn auch die schon hochbegabt waren, ist es
auch bei denen nie erkannt worden.
Fakt ist,
dass Vincent Paul Einzelkind ist und ihm von klein auf die gesamte
Aufmerksamkeit seiner Eltern galt. Fest steht auch, dass so lange Vincent Paul
nicht ins Bett musste, er die Hoheit über den Familienfernseher besaß. Erstaunlich
war, dass ihn nie die Sendungen interessierten, die Eltern liebend gerne ihren
Kindern vorenthalten und dadurch das Verlangen nach dem Verbotenen noch einmal
unverhältnismäßig steigern. Der kleine Vincent Paul liebte die Sesamstraße, die
Sendung mit der Maus und später ließ er keine Sendung über Tiere, Pflanzen,
Naturphänomene und ferne Kontinente aus.
Das Wissen,
das er sich auf diese Weise aneignete, machte seinen Altersgefährten im
Kindergarten und später in der Schule Angst. Im Gegenzug konnte Vincent Paul
den alterstypischen Beschäftigungen der anderen Kinder in den meisten Fällen
nichts abgewinnen. So suchte sich der Junge von klein auf seine Sozialkontakte
im Kreise der Erwachsenen. Im Kindergarten unterhielt er sich, wenn freies
Spiel angesagt war, lieber mit einer Betreuerin über sein jüngst erworbenes
Wissen über Vulkane oder Dinosaurier.
Ich
begegnete Vincent Paul von Borstel erstmals als dieser aus der Grundschule in
die 5. Klasse kam.
Im
Übergangsbogen las ich: „Vincent Paul ist sehr an sachkundlichen Themen
interessiert.“
Anfangs
machte er mich neugierig, wenn er nach jeder Unterrichtsstunde vorne am Pult
erschien, um Zusatzwissen loszuwerden, Unterrichtsinhalte zu diskutieren oder
mich auf gravierende Fehler in meinem Unterricht hinzuweisen.
Erstaunen
und anfängliche Neugierde wichen in den Folgemonaten und Folgejahren und
wandelten sich häufig in Genervtheit. Zunehmend sicherte ich mich bei der
Unterrichtsvorbereitung bezüglich der Sachinhalte mehrfach ab. Neben dem
Unterrichtsbuch samt Lehrerbegleitmaterial zog ich vermehrt das Internet zu
Rate. Diese Taktik bescherte mir neben der regelmäßigen Kritik dann auch schon
mal ein anerkennendes Lob.
Ich fing an,
dieses Lob zu genießen und plante es bei der Unterrichtsvorbereitung förmlich
schon ein. Wenn es dann nicht kam, musste ich Vincent Paul nach Unterrichtsschluss
vorsichtig im Gespräch so führen, dass ich auch bekam, was ich für meinen
Einsatz erwartete.
Vincent Paul
war ein besonderes Kind. Trotz der Hartnäckigkeit, mit der er regelmäßig meine
Pausen verkürzte, schloss ich ihn in mein Herz. Ich genoss seine verschrobenen
Theorien, die er aus seinen beachtlichen
Fachkenntnissen entwickelte. Besonderes Vergnügen bereitete es mir, in sein
fassungsloses Gesicht zu blicken, wenn ich sein Wissen toppen konnte.
Schön war auch immer, wenn ich ihm etwas erzählte
und ihn im Anschluss bewerten ließ, ob meine Geschichte wahr oder falsch
sei. Oft lag er in seiner Einschätzung
richtig daneben. Vielleicht, weil ihm aufgrund seines Fachwissens eine gewisse
Unbefangenheit fehlte, auch unkonventionelle Lösungen in Betracht zu ziehen.
Auf einem
Elternsprechtag erschien Frau von Borstel gemeinsam mit Vincent Paul bei mir.
„Eigentlich
brauchen wir ja gar nicht zu Ihnen“, waren ihre Worte beim Eintreten. Damit
hatte sie schon ausgesprochen, was auch ich bei ihrem Anblick hätte sagen
wollen. Noch nicht ganz zuende gesprochen und schon saßen Mutter von Borstel
und mein „Schlaumeier“ Vincent Paul auf den ihnen zugedachten Stühlen.
„Was ich
noch mal sagen wollte, Vincent Paul
erzählt ja immer alles zu Hause. Ganz schön witzig, was er da so manchmal
mitbringt. Mich könnten Sie jedenfalls
nicht so veräppeln. Habe ich Vincent Paul auch schon erzählt. Die Kuh mit
den zwei Köpfen oder die Geschichte von der Dohle in Berlin, die immer dem
Rentner mit dem Schnabel auf den Schuh klopfte, wenn sie etwas von ihm zu
fressen haben wollte.
Gibt es noch
irgendetwas zu Vincent zu sagen?“
Es gäbe noch
so viel zu erzählen, aber vor der Tür sitzen auch noch Eltern, die echte
Probleme mit ihren Kindern haben.
„Nein“, sage
ich zu Frau von Borstel und signalisiere mit dem Erheben vom Stuhl, dass ich
die Sprechzeit für beendet halte.
Mutter und
Sohn verlassen den Raum.
Einige Jahre
später:
Vincent Paul
hatte die Schule inzwischen mit einem mittelmäßigen Abschluss verlassen. Die
Schule besteht leider nicht nur aus Vulkanen und Dinosauriern.
Dennoch hat er gerade seine Ausbildung abgeschlossen und arbeitet in
seinem Lehrberuf.
Das hat mir
seine Mutter erzählt - nachdem sie sich vom Schock erholt hatte.
Ich traf sie
kurz vor Weihnachten beim Tanken in Stade. Sie bediente die Kasse und es
dauerte den Bruchteil einer Sekunde, bis ich das Gesicht eingeordnet hatte.
„Frau von
Borstel, Sie hier?! Das ist ja eine Überraschung.“
„Herr
Petersen, man begegnet sich doch immer mehrmals im Leben.“
„Und“, stieg
ich sofort in einen Smalltalk ein, „wie lange sind Sie denn schon hier?“
„Das sind
jetzt schon bald zwei Jahre. Vierundfünfzig Euro und sechsundvierzig bekomme
ich von Ihnen.“
Kann ich mit
Karte bezahlen?“
„Kein
Problem“, sagte sie und drehte mir das Kartenlesegerät passend hin. „Sie
wissen, wie es geht? Karte rein, Geheimzahl und bestätigen.“
„Ja ist in
Ordnung.“
Während ich
darauf warte, dass ich meine Karte wieder entnehmen darf, fühle ich in meiner
Jackentasche eine andere Karte. Ich bin
heute noch erstaunt, was sich innerhalb von drei oder vier Sekunden in meinem
Kopf abspielte.
Bevor ich
das Haus verlassen hatte, fiel mein Blick auf eine abgelaufene EC Karte.
Vorschriftsmäßig hatte ich ein großes Dreieck herausgeschnitten, um auf gar
keinen Fall irgendwelchen Missbrauch zu ermöglichen. Die beiden Teile wollte
ich in den Papierkorb entsorgen. Im letzten Moment entschied ich mich dann aber
dagegen, beide Teile gemeinsam in den Papierkorb zu entsorgen. Ich steckte das
größere Teil in meine Jackentasche. Irgendwo unterwegs werde ich schon einen
Papierkorb finden, in den ich den zweiten Teil meiner ungültigen Karte
entsorgen könnte.
Nun fühlte
ich das Kartenfragment in meiner
Jackentasche und ein teuflischer Plan bestimmte mein Handeln.
Von wegen,
Frau von Borstel! Plötzlich sah ich sie wieder vor mir, wie sie vor Jahren mit
überlegenem Lächeln meinte: „Mich legen Sie aber nicht rein!“
Das wollen
wir doch ´mal sehen!
„Sie können
die Karte jetzt herausnehmen.“
Ich ziehe
die Karte aus dem Automaten. In der linken Hand habe ich die zerschnittene
Karte, die rechte Hand lässt die gute Karte in der Jackentasche verschwinden.
Erschreckt
blicke ich von der kaputten Karte zu Frau von Borstel.
„Was ist
denn hier passiert?“
„Wie? Was
ist passiert?“
Wortlos
reiche ich ihr die Karte.
„Hääh? Was
ist denn nun los? Das habe ich ja noch nie erlebt!“
Sie kommt
hinter ihrem Tresen hervor, dreht das Kartenlesegerät über Kopf und klopft es
mehrfach gegen ihren Handballen. Nichts passierte. Auch leichtes Klopfen auf
die Tischplatte brachte das fehlende Teil nicht zum Vorschein.
„Ach du
Scheiße! Oh, Entschuldigung. Und das Teil steckt da jetzt drin. Kann ja heute
keiner mehr mit Karte bezahlen. Ich muss den Chef anrufen!“
Sie geht um
den Tresen, um zu telefonieren und ich kümmre mich um das Lesegerät. Zweimal
klopfe ich auf die Tischkante.
„Alles klar.
Es ist draußen!“
Erleichterung
in Frau von Borstels Gesicht.
„Herr
Petersen, Gott sei Dank! Wie haben Sie das bloß gemacht? Das haben wir hier
noch nie gehabt.“
Sie nimmt
das Gerät in die Hand, kontrolliert noch einmal den Schlitz. Keine Spur eines
Fehlers war zu entdecken.
Inzwischen
habe ich die gute und die schlechte Karte hinter ihrem Rücken auf den Tisch
gelegt.
„Frau von
Borstel.“
„Ja.“
„Können Sie
sich noch daran erinnern, dass Sie mir einmal auf einem Sprechtag gesagt haben,
dass Sie sich von mir nicht hereinlegen ließen?“
„Ja.“
Etwas
irritiert schaut sie mich an.
„Sehen Sie
sich doch bitte mal diese beiden Karten an.“
„Ja und?“
„Mit der
heilen Karte habe ich soeben bezahlt. Die andere hatte ich zufällig in der
Jackentasche.“
Mit kleiner
Verzögerung verstand sie den Schwindel, und konnte nachträglich sogar über ihre
Reaktion lachen.
Bis der
nächste Kunde kam, erzählte sie mir von Vincent Paul. Im Herausgehen nahm ich
ihr das Versprechen ab, dass sie ihm unbedingt von unserem heutigen Treffen
erzählen sollte.
„Das mache
ich. Und, wenn wir uns das nächste Mal treffen, sind Sie dran!“
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