Montag, 25. Januar 2016

Wer zuletzt lacht, Frau von Borstel, …



Vincent Paul von Borstel gehörte zu den ganz, ganz schlauen Kindern. Wahrscheinlich eines der 80% hochbegabten Kinder, die unter ihrer nie erkannten Hochbegabung leiden.
Was genau ihn so schlau gemacht hat, ist nie so wirklich untersucht worden. Vielleicht kommt es von den Eltern. Aber, wenn auch die schon hochbegabt waren, ist es auch bei denen nie erkannt worden.
Fakt ist, dass Vincent Paul Einzelkind ist und ihm von klein auf die gesamte Aufmerksamkeit seiner Eltern galt. Fest steht auch, dass so lange Vincent Paul nicht ins Bett musste, er die Hoheit über den Familienfernseher besaß. Erstaunlich war, dass ihn nie die Sendungen interessierten, die Eltern liebend gerne ihren Kindern vorenthalten und dadurch das Verlangen nach dem Verbotenen noch einmal unverhältnismäßig steigern. Der kleine Vincent Paul liebte die Sesamstraße, die Sendung mit der Maus und später ließ er keine Sendung über Tiere, Pflanzen, Naturphänomene  und ferne Kontinente aus.
Das Wissen, das er sich auf diese Weise aneignete, machte seinen Altersgefährten im Kindergarten und später in der Schule Angst. Im Gegenzug konnte Vincent Paul den alterstypischen Beschäftigungen der anderen Kinder in den meisten Fällen nichts abgewinnen. So suchte sich der Junge von klein auf seine Sozialkontakte im Kreise der Erwachsenen. Im Kindergarten unterhielt er sich, wenn freies Spiel angesagt war, lieber mit einer Betreuerin über sein jüngst erworbenes Wissen über Vulkane oder Dinosaurier. 

Ich begegnete Vincent Paul von Borstel erstmals als dieser aus der Grundschule in die 5. Klasse kam.
Im Übergangsbogen las ich: „Vincent Paul ist sehr an sachkundlichen Themen interessiert.“
Anfangs machte er mich neugierig, wenn er nach jeder Unterrichtsstunde vorne am Pult erschien, um Zusatzwissen loszuwerden, Unterrichtsinhalte zu diskutieren oder mich auf gravierende Fehler in meinem Unterricht hinzuweisen.
Erstaunen und anfängliche Neugierde wichen in den Folgemonaten und Folgejahren und wandelten sich häufig in Genervtheit.  Zunehmend sicherte ich mich bei der Unterrichtsvorbereitung bezüglich der Sachinhalte mehrfach ab. Neben dem Unterrichtsbuch samt Lehrerbegleitmaterial zog ich vermehrt das Internet zu Rate. Diese Taktik bescherte mir neben der regelmäßigen Kritik dann auch schon mal ein anerkennendes Lob.
Ich fing an, dieses Lob zu genießen und plante es bei der Unterrichtsvorbereitung förmlich schon ein. Wenn es dann nicht kam, musste ich Vincent Paul nach Unterrichtsschluss vorsichtig im Gespräch so führen, dass ich auch bekam, was ich für meinen Einsatz erwartete.
Vincent Paul war ein besonderes Kind. Trotz der Hartnäckigkeit, mit der er regelmäßig meine Pausen verkürzte, schloss ich ihn in mein Herz. Ich genoss seine verschrobenen Theorien, die er aus seinen  beachtlichen Fachkenntnissen entwickelte. Besonderes Vergnügen bereitete es mir, in sein fassungsloses Gesicht zu blicken, wenn ich sein Wissen toppen konnte.
Schön  war auch immer, wenn ich ihm etwas erzählte und ihn im Anschluss bewerten ließ, ob meine Geschichte wahr oder falsch sei.  Oft lag er in seiner Einschätzung richtig daneben. Vielleicht, weil ihm aufgrund seines Fachwissens eine gewisse Unbefangenheit fehlte, auch unkonventionelle Lösungen in Betracht zu ziehen.
Auf einem Elternsprechtag erschien Frau von Borstel gemeinsam mit Vincent Paul bei mir.
„Eigentlich brauchen wir ja gar nicht zu Ihnen“, waren ihre Worte beim Eintreten. Damit hatte sie schon ausgesprochen, was auch ich bei ihrem Anblick hätte sagen wollen. Noch nicht ganz zuende gesprochen und schon saßen Mutter von Borstel und mein „Schlaumeier“ Vincent Paul auf den ihnen zugedachten Stühlen.
„Was ich noch mal sagen  wollte, Vincent Paul erzählt ja immer alles zu Hause. Ganz schön witzig, was er da so manchmal mitbringt. Mich könnten Sie jedenfalls nicht so veräppeln. Habe ich Vincent Paul auch schon erzählt. Die Kuh mit den zwei Köpfen oder die Geschichte von der Dohle in Berlin, die immer dem Rentner mit dem Schnabel auf den Schuh klopfte, wenn sie etwas von ihm zu fressen haben wollte.
Gibt es noch irgendetwas zu Vincent zu sagen?“
Es gäbe noch so viel zu erzählen, aber vor der Tür sitzen auch noch Eltern, die echte Probleme mit ihren Kindern haben.
„Nein“, sage ich zu Frau von Borstel und signalisiere mit dem Erheben vom Stuhl, dass ich die Sprechzeit für beendet halte.
Mutter und Sohn verlassen den Raum.

Einige Jahre später:
Vincent Paul hatte die Schule inzwischen mit einem mittelmäßigen Abschluss verlassen. Die Schule besteht leider nicht nur aus Vulkanen und  Dinosauriern.  Dennoch hat er gerade seine Ausbildung abgeschlossen und arbeitet in seinem Lehrberuf.
Das hat mir seine Mutter erzählt - nachdem sie sich vom Schock erholt hatte.

Ich traf sie kurz vor Weihnachten beim Tanken in Stade. Sie bediente die Kasse und es dauerte den Bruchteil einer Sekunde, bis ich das Gesicht eingeordnet hatte.
„Frau von Borstel, Sie hier?! Das ist ja eine Überraschung.“
„Herr Petersen, man begegnet sich doch immer mehrmals im Leben.“
„Und“, stieg ich sofort in einen Smalltalk ein, „wie lange sind Sie denn schon hier?“
„Das sind jetzt schon bald zwei Jahre. Vierundfünfzig Euro und sechsundvierzig bekomme ich von Ihnen.“
Kann ich mit Karte bezahlen?“
„Kein Problem“, sagte sie und drehte mir das Kartenlesegerät passend hin. „Sie wissen, wie es geht? Karte rein, Geheimzahl und bestätigen.“
„Ja ist in Ordnung.“
Während ich darauf warte, dass ich meine Karte wieder entnehmen darf, fühle ich in meiner Jackentasche eine andere Karte.  Ich bin heute noch erstaunt, was sich innerhalb von drei oder vier Sekunden in meinem Kopf abspielte.
Bevor ich das Haus verlassen hatte, fiel mein Blick auf eine abgelaufene EC Karte. Vorschriftsmäßig hatte ich ein großes Dreieck herausgeschnitten, um auf gar keinen Fall irgendwelchen Missbrauch zu ermöglichen. Die beiden Teile wollte ich in den Papierkorb entsorgen. Im letzten Moment entschied ich mich dann aber dagegen, beide Teile gemeinsam in den Papierkorb zu entsorgen. Ich steckte das größere Teil in meine Jackentasche. Irgendwo unterwegs werde ich schon einen Papierkorb finden, in den ich den zweiten Teil meiner ungültigen Karte entsorgen könnte.
Nun fühlte ich das  Kartenfragment in meiner Jackentasche und ein teuflischer Plan bestimmte mein Handeln.
Von wegen, Frau von Borstel! Plötzlich sah ich sie wieder vor mir, wie sie vor Jahren mit überlegenem Lächeln meinte: „Mich legen Sie aber nicht rein!“
Das wollen wir doch ´mal sehen!
„Sie können die Karte jetzt herausnehmen.“
Ich ziehe die Karte aus dem Automaten. In der linken Hand habe ich die zerschnittene Karte, die rechte Hand lässt die gute Karte in der Jackentasche verschwinden.
Erschreckt blicke ich von der kaputten Karte zu Frau von Borstel.
„Was ist denn hier passiert?“
„Wie? Was ist passiert?“
Wortlos reiche ich ihr die Karte.
„Hääh? Was ist denn nun los? Das habe ich ja noch nie erlebt!“
Sie kommt hinter ihrem Tresen hervor, dreht das Kartenlesegerät über Kopf und klopft es mehrfach gegen ihren Handballen. Nichts passierte. Auch leichtes Klopfen auf die Tischplatte brachte das fehlende Teil nicht zum Vorschein.
„Ach du Scheiße! Oh, Entschuldigung. Und das Teil steckt da jetzt drin. Kann ja heute keiner mehr mit Karte bezahlen. Ich muss den Chef anrufen!“
Sie geht um den Tresen, um zu telefonieren und ich kümmre mich um das Lesegerät. Zweimal klopfe ich auf die Tischkante.
„Alles klar. Es ist draußen!“
Erleichterung in Frau von Borstels Gesicht.
„Herr Petersen, Gott sei Dank! Wie haben Sie das bloß gemacht? Das haben wir hier noch nie gehabt.“
Sie nimmt das Gerät in die Hand, kontrolliert noch einmal den Schlitz. Keine Spur eines Fehlers war zu entdecken.
Inzwischen habe ich die gute und die schlechte Karte hinter ihrem Rücken auf den Tisch gelegt.
„Frau von Borstel.“
„Ja.“
„Können Sie sich noch daran erinnern, dass Sie mir einmal auf einem Sprechtag gesagt haben, dass Sie sich von mir nicht hereinlegen ließen?“
„Ja.“
Etwas irritiert schaut sie mich an.
„Sehen Sie sich doch bitte mal diese beiden Karten an.“
„Ja und?“
„Mit der heilen Karte habe ich soeben bezahlt. Die andere hatte ich zufällig in der Jackentasche.“
Mit kleiner Verzögerung verstand sie den Schwindel, und konnte nachträglich sogar über ihre Reaktion lachen.
Bis der nächste Kunde kam, erzählte sie mir von Vincent Paul. Im Herausgehen nahm ich ihr das Versprechen ab, dass sie ihm unbedingt von unserem heutigen Treffen erzählen sollte.
„Das mache ich. Und, wenn wir uns das nächste Mal treffen, sind Sie dran!“


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