2015, 23.
Dezember. Ich sitze allein im Weihnachtszimmer. Der Tannenbaum ist geschmückt
und ich bin gerade fertig mit dem
Verteilen der Kerzenhalter. Vom Sofa aus betrachte ich den Baum. Schön,
dass wir in diesem Jahr wieder einen Tannenbaum haben.
Man muss
wohl erst Weihnachten ohne Tannenbaum
erlebt haben, um wieder richtig Freude am traditionellen Weihnachtsfest haben
zu können.
Meine
Gedanken gehen zurück an die aufregenden Weihnachtsabende meiner Kindheit.
Irgendwann war Schluss mit Aufregung. Vielleicht, als es keine Spielsachen mehr
gab oder eine Freundin ins Spiel kam?
Ja, wie war
es denn damals, als wir uns kennenlernten? Heiligabend verbrachten wir bei
unseren Familien, Ulla in Friesoythe und ich in Hamburg. Spätestens am 2.
Weihnachtstag wechselte ich zu ihren Eltern und nach ein paar Tagen ging es
dann wieder zurück nach Göttingen. Silvesterparty und dann begann der
Unibetrieb ja auch schon wieder.
1975 haben
wir geheiratet. Fortan verbrachten wir den Heiligabend abwechselnd mal bei
ihren, mal bei meinen Eltern. Noch
während der Feiertage gab es einen Ortswechsel.
Einen
Tannenbaum brauchten wir nicht. Auch noch nicht, als Anne 1979 auf die Welt
kam.
Am
Silvestermorgen 1981 war unsere kleine Familie komplett. Lena hatte das Licht
der Welt erblickt. Weihnachten 1982 hatten wir unsere erste eigene
Familienweihnachtsfeier mit einer schönen Fichte als Weihnachtsbaum, die, wie
ich es mein ganzes Leben kannte, vom Fußboden bis zur Decke reichte.
36 Jahre ist
das nun her. Fichtenduft breitet sich in der Wärme des Wohnzimmers aus. 36
Jahre und vor mir steht unser 35. Weihnachtsbaum.
Hätte ich
den Baum im letzten Jahr nicht 3 Tage vor Weihnachten verschenkt, wäre es der
36. Baum. Das ist aber eine andere
Geschichte.
Ich denke an
die schönen Weihnachtsabende, die wir über die Jahre hatten. Es ist dieser
merkwürdige Moment, wenn die Augen nicht mehr offen bleiben mögen und
andererseits der Antrieb fehlt, sich zu erheben um ins Bett zu gehen.
Das Telefon
lässt mich hochschrecken aus meinen Gedanken. Wer mag das sein? Uns ruft
eigentlich niemand mehr zu so später Stunde an.
Peter Wolff ist dran, ich kenne ihn noch aus der
Schulzeit. In den letzten Jahren, seit Hanna und er die kleine Kate in
Stellenfleeth am Elbdeich haben, sehen
wir uns häufiger.
„Und alles klar
für Weihnachten?“
„Ach ja, bis
auf die letzten Vorbereitungen.“
„Weshalb ich
anrufe. Hanna und ich fahren morgen nach Dänemark. Neujahr kommen wir nach
Krummendeich. Können wir uns dann treffen?“
„Na klar!
Ihr könnt gerne vorbeikommen. Wir sind nicht verreist aber, es wäre vielleicht
doch ganz gut vorher noch einmal durchzurufen.“
„Störe ich
gerade?“
„Nein,
überhaupt nicht, ich war nur so in Gedanken versunken, als das Telefon
klingelte. Ich musste daran denken, wie es bei uns so anfing mit Weihnachten in
Freiburg.“
„Was war
denn da so Besonderes?“
Peter und Hanna haben keine Kinder und Weihnachten
war schon allein aus diesem Grunde für sie immer ganz anders als für uns.
Mein Blick
fällt auf den kleinen Karton, in dem wir seit 1982 unsere Strohsterne aufbewahren,
wenn sie nicht gerade als Weihnachtsschmuck zum Einsatz kommen.
Im Bruchteil
einer Sekunde war er da, der Plan.
Es gab noch
eine offene Rechnung aus dem Sommer, als Peter mich in einer Runde am Hafen so
richtig veräppelt hatte.
Mich
verladen?!
Das geht überhaupt nicht, ich bin doch
eigentlich immer der, der seine Späße mit anderen treibt.
„Na ja, die
ganze Situation war eben sehr besonders. Du musst verstehen, es war unser
erstes Weihnachtsfest in Freiburg mit den Kindern in unserer Familie. Ohne
unsere Eltern, eben unser Fest.“
„Komisch,
und das hat dich so beeindruckt? Versteh ich eigentlich nicht.“
„Doch, viele
Ereignisse aus den Tagen habe ich noch vor Augen, als wären sie gerade
geschehen. Zum Beispiel, dass Hans
Oellerich damals am Neujahrstag gestorben ist, oder dass im EXTRA Markt in
Harsefeld der 5 Kilo Beutel mit Deutschen Zwiebeln, ich meine sogar
Handelsklasse II, für nur 1,97 DM zu kriegen war.“
„Wie, was?
Wer Ist Hans Oellerich?“
„Ein
Gastwirt hier aus Freiburg.“
„Und das
weißt du noch? Und den Preis der Zwiebeln hast du auch noch im Kopf? In der
Schule warst du nicht gerade der mit dem besten Gedächtnis.“
„Verstehe
ich ja auch nicht. Muss sein, weil.. weil
es eben ein ganz besonderes Ereignis war. Ich habe ja noch ganz andere
Dinge aus der Zeit abgespeichert. Träume manchmal sogar davon. Zum Beispiel,
dass der Stadtjugendring Buxtehude angekündigt
hatte, im Sommer eine Studienreise nach Danzig anzubieten. Dabei wollte ich gar
nicht mitreisen und war auch nicht mit.“
„Hast du das
mal irgendwann einem Arzt oder jemandem von der Uni erzählt?
Ach, was
red´ ich da. Aber sehr merkwürdig. Zwiebeln für wieviel war das noch?“
„1,97 DM!
Und das ist ja lange nicht alles. VfL Stade schlug CSV mit 5:2. Buchholz schoss
zwei Tore und Starke musste verletzt
ausscheiden.“
„Ist ja
irre, das muss man untersuchen lassen! Haste noch mehr im Kopp?“
„Jede Menge.
Was willst du hören? Armin Kogler gewann das Neujahrsspringen von Garmisch. Ich
weiß sogar noch, dass er die Startnummer 46 trug. Der Unternehmer Gerd Heinssen
aus Horneburg ist am Silvestertag 1982 verstorben. Er hatte sich statt
Kranzspenden Geldspenden für die Glocke der Friedhofskapelle gewünscht. Ich
glaube, dass die Kontonummer bei der Kreissparkasse 912022 oder 23 am Ende
lautete.“
„Nee,
gibt´s doch nicht! Müsste man mal rauskriegen, ob das wirklich
die Kontonummer war. Und hast du von anderen wichtigen Ereignissen auch
ähnliche Daten im Kopf?“
„Nein, das
wundert mich ja auch. Außer mit Ulla und jetzt mit dir habe ich auch nie
darüber gesprochen. Kannst dir ja denken, was die Leute reden, wenn ich ihnen
so beiläufig erzähle, dass am Montag, 3. Januar 1983 um 20.15 Uhr im ZDF die Sendung
„Einsamkeit bringt mich um“ lief. Oder die Geschichte mit der Rückrufaktion von
AEG-, BBC- und Zanker-Abluft-Wäschetrocknern.
Halte mich nicht für verrückt; aber ich weiß noch, dass es sich um die
Typen AEG-Lavatherm 450, 450E, 450R, BBC-Rondodry AZ8, AE9 und Zanker Thermat
455, 460 und 460 E handelte.“
„Halt mal
an! Wenn ich das in meinem Kegelverein erzähle,
das glaubt mir kein Schwein!“
„Ich glaube
es ja selbst kaum. Vor zwei Jahren hatte ich von dieser Rückrufaktion geträumt.
Morgens standen mir die Maschinentypennummern vor Augen, als würde ich sie
irgendwo ablesen. Weil ich es selbst nicht glauben wollte, habe ich damals
einen Brief an AEG geschrieben. Sie haben mir bestätigt, dass alle von mir
genannten Typen auf einem Grundmodul von AEG basierten und unter bestimmten
Bedingungen ein Schwelbrand hätte entstehen können.“
„Wahnsinn!“
„Ich könnte
dir noch ganz andere Dinger nennen. Es muss damit zusammenhängen, dass unser
erstes Familienweihnachten eben eine ganz besondere Bedeutung für mich gehabt
hat.“
„Ich muss
das alles Hanna erzählen. Sie hat ja Psychologie studiert, vielleicht sind ihr
ähnliche Phänomene bekannt. Ich melde
mich, wenn ich etwas herausbekomme. Wir
sehen uns spätestens in den ersten Tagen des neuen Jahres. Ich wünsche euch ein
frohes Fest und einen guten Rutsch ins neue Jahr. Grüß Ulla von mir.“
„Danke! Euch
auch alles Gute und grüße du auch
bitte.“
Ulla schaut
durch den Türspalt zu mir in die Stube.
„Wer war das
denn noch?“
„Peter.“
„Welcher
Peter?“
„Stellenfleeth!“
„Und, was
wollte er?“
„Uns alles
Gute wünschen. Die fahren morgen nach Dänemark und kommen dann im neuen Jahr
nach Krummendeich. Dann wollen sie vorbeikommen.“
„Hat er
schon gesagt, wann?“
„Nein.“
„Ich geh´
dann schon mal nach oben. Räumst du bitte den Tisch noch ab.“
„Ja, mache
ich. Gute Nacht.“
Am 2. Januar
waren sie dann schon bei uns, unsere Freunde aus Hamburg oder Stellenfleeth.
Hanna verschwand gleich in die Küche, wo Ulla einige Modezeitschriften
ausgebreitet hatte. Peter begleitete
mich ins Weihnachtszimmer.
„Und, was
machst du gerade?“
„Ich habe soeben
damit begonnen, den Tannenbaum abzuschmücken. Du kannst die Strohsterne, die
ich dir gebe, in den Pappkarton einsortieren. Sieh mal, du legst immer zwischen
zwei Lagen mit Sternen ein Blatt von diesem Zeitungspapier.“
„Wozu ist
das gut?“
„Damit die
Sterne sich nicht vertütern oder beim Herausnehmen im nächsten Jahr
zerbrechen.“
„Wenn du
meinst. Gib her. So und nun Zeitung drüber?“
„Ja“
„Habe noch
einmal über deine Gedächtnisleistung nachgedacht. Weißt du, die Geschichte mit
den Typennummern der Wäschetrockner…“
„Pass bitte
auf, nicht zu viele Sterne in eine Lage. Immer an die Lage Zeitung denken!“
„Ja, ist
schon gut. Hanna meint, dass du …“
„Hier, den
großen Stern bitte alleine legen und schön abdecken.“
„Also,
Hanna meint, dass du das doch noch mal
…“
„Ach Peter.
Ich will gar nicht mehr davon reden. Gefällt dir unser Baum?“
„Ja. Aber
eigentlich mache ich mir da nicht so viel draus.“
„Äh, hast du
die Zeitungspapiere alle richtig in den Karton gelegt?“
Peter schaut
mich verwirrt an.
„Wieso
richtig?“
„Na so, dass
man lesen kann, was da geschrieben steht. Sonst muss man vor dem Lesen doch
immer die Zeitung drehen. Kapiert?“
Nichts hat
er kapiert, schüttelt den Kopf. Sein Gesicht verrät eindeutig, was er von
dieser Aktion hält. Widerwillig sortiert er alle noch unbenutzten
Zeitungsabschnitte in die von mir geforderte Richtung.
„Musst du
doch auch sagen, liest sich doch so viel besser. Der da zum Beispiel, der ganz
oben liegt.“
Peter liest.
Es wird ganz still. Er hebt den Kopf, sein Blick verrät eine Mischung aus
Fassungslosigkeit, Zorn und einer gewissen Amüsiertheit.
„Du Arsch!
Soll ich dir einmal sagen wie teuer Iglo Schlemmerfilet am 3. Januar 1983 bei
mini MAL war?“
Im nächsten
Moment brachen wir beide in schallendes Gelächter aus. Hanna kam in die Stube.
„Was ist
hier los?“ fragte sie.
„Ich kann
das jetzt auch!“ antwortet Peter.
„Was kannst
du auch?“
„Ich kann
dir sagen, wie das Spiel zwischen VfL Stade und CSV 1983 ausgegangen ist und
warum Eckhard Starke vorzeitig vom Platz musste.“
Dann nahm
Peter einen anderen Abschnitt in die Hand.
„Oder soll
ich dir sagen, welche Wäschetrockner von
AEG, BBC und Zanker Anfang 1983 zurückgerufen wurden?“
„Ich muss
nicht alles verstehen“, murmelt sie kopfschüttelnd und geht wieder in die Küche.
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