Sonntag, 10. Januar 2016

Man muss nicht alles verstehen



2015, 23. Dezember. Ich sitze allein im Weihnachtszimmer. Der Tannenbaum ist geschmückt und ich bin gerade fertig mit dem  Verteilen der Kerzenhalter. Vom Sofa aus betrachte ich den Baum. Schön, dass wir in diesem Jahr wieder einen Tannenbaum haben.
Man muss wohl erst  Weihnachten ohne Tannenbaum erlebt haben, um wieder richtig Freude am traditionellen Weihnachtsfest haben zu können.
Meine Gedanken gehen zurück an die aufregenden Weihnachtsabende meiner Kindheit. Irgendwann war Schluss mit Aufregung. Vielleicht, als es keine Spielsachen mehr gab oder eine Freundin ins Spiel kam?
Ja, wie war es denn damals, als wir uns kennenlernten? Heiligabend verbrachten wir bei unseren Familien, Ulla in Friesoythe und ich in Hamburg. Spätestens am 2. Weihnachtstag wechselte ich zu ihren Eltern und nach ein paar Tagen ging es dann wieder zurück nach Göttingen. Silvesterparty und dann begann der Unibetrieb ja auch schon wieder.
1975 haben wir geheiratet. Fortan verbrachten wir den Heiligabend abwechselnd mal bei ihren, mal bei meinen Eltern.  Noch während der Feiertage gab es einen Ortswechsel.
Einen Tannenbaum brauchten wir nicht. Auch noch nicht, als Anne 1979 auf die Welt kam.
Am Silvestermorgen 1981 war unsere kleine Familie komplett. Lena hatte das Licht der Welt erblickt. Weihnachten 1982 hatten wir unsere erste eigene Familienweihnachtsfeier mit einer schönen Fichte als Weihnachtsbaum, die, wie ich es mein ganzes Leben kannte, vom Fußboden bis zur Decke reichte.
36 Jahre ist das nun her. Fichtenduft breitet sich in der Wärme des Wohnzimmers aus. 36 Jahre und vor mir steht unser 35. Weihnachtsbaum.
Hätte ich den Baum im letzten Jahr nicht 3 Tage vor Weihnachten verschenkt, wäre es der 36. Baum.  Das ist aber eine andere Geschichte.
Ich denke an die schönen Weihnachtsabende, die wir über die Jahre hatten. Es ist dieser merkwürdige Moment, wenn die Augen nicht mehr offen bleiben mögen und andererseits der Antrieb fehlt, sich zu erheben um ins Bett zu gehen.

Das Telefon lässt mich hochschrecken aus meinen Gedanken. Wer mag das sein? Uns ruft eigentlich niemand mehr zu so später Stunde an.  
Peter Wolff  ist dran, ich kenne ihn noch aus der Schulzeit. In den letzten Jahren, seit Hanna und er die kleine Kate in Stellenfleeth am Elbdeich  haben, sehen wir uns häufiger.
„Und alles klar für Weihnachten?“
„Ach ja, bis auf die letzten Vorbereitungen.“
„Weshalb ich anrufe. Hanna und ich fahren morgen nach Dänemark. Neujahr kommen wir nach Krummendeich. Können wir uns dann treffen?“
„Na klar! Ihr könnt gerne vorbeikommen. Wir sind nicht verreist aber, es wäre vielleicht doch ganz gut vorher noch einmal durchzurufen.“
„Störe ich gerade?“
„Nein, überhaupt nicht, ich war nur so in Gedanken versunken, als das Telefon klingelte. Ich musste daran denken, wie es bei uns so anfing mit Weihnachten in Freiburg.“
„Was war denn da so Besonderes?“
Peter  und Hanna haben keine Kinder und Weihnachten war schon allein aus diesem Grunde für sie immer ganz anders als für uns.
Mein Blick fällt auf den kleinen Karton, in dem wir seit 1982 unsere Strohsterne aufbewahren, wenn sie nicht gerade als Weihnachtsschmuck zum Einsatz kommen.
Im Bruchteil einer Sekunde war er da, der Plan.
Es gab noch eine offene Rechnung aus dem Sommer, als Peter mich in einer Runde am Hafen so richtig veräppelt hatte.
Mich verladen?!
 Das geht überhaupt nicht, ich bin doch eigentlich immer der, der seine Späße mit anderen treibt.
„Na ja, die ganze Situation war eben sehr besonders. Du musst verstehen, es war unser erstes Weihnachtsfest in Freiburg mit den Kindern in unserer Familie. Ohne unsere Eltern, eben unser Fest.“
„Komisch, und das hat dich so beeindruckt? Versteh ich eigentlich nicht.“
„Doch, viele Ereignisse aus den Tagen habe ich noch vor Augen, als wären sie gerade geschehen.  Zum Beispiel, dass Hans Oellerich damals am Neujahrstag gestorben ist, oder dass im EXTRA Markt in Harsefeld der 5 Kilo Beutel mit Deutschen Zwiebeln, ich meine sogar Handelsklasse II, für nur 1,97 DM zu kriegen war.“
„Wie, was? Wer Ist Hans Oellerich?“
„Ein Gastwirt hier aus Freiburg.“
„Und das weißt du noch? Und den Preis der Zwiebeln hast du auch noch im Kopf? In der Schule warst du nicht gerade der mit dem besten Gedächtnis.“
„Verstehe ich ja auch nicht. Muss sein, weil.. weil  es eben ein ganz besonderes Ereignis war. Ich habe ja noch ganz andere Dinge aus der Zeit abgespeichert. Träume manchmal sogar davon. Zum Beispiel, dass der Stadtjugendring  Buxtehude angekündigt hatte, im Sommer eine Studienreise nach Danzig anzubieten. Dabei wollte ich gar nicht mitreisen und war auch nicht mit.“
„Hast du das mal irgendwann einem Arzt oder jemandem von der Uni erzählt?
Ach, was red´ ich da. Aber sehr merkwürdig. Zwiebeln für wieviel war das noch?“
„1,97 DM! Und das ist ja lange nicht alles. VfL Stade schlug CSV mit 5:2. Buchholz schoss zwei Tore und  Starke musste verletzt ausscheiden.“
„Ist ja irre, das muss man untersuchen lassen! Haste noch mehr im Kopp?“
„Jede Menge. Was willst du hören? Armin Kogler gewann das Neujahrsspringen von Garmisch. Ich weiß sogar noch, dass er die Startnummer 46 trug. Der Unternehmer Gerd Heinssen aus Horneburg ist am Silvestertag 1982 verstorben. Er hatte sich statt Kranzspenden Geldspenden für die Glocke der Friedhofskapelle gewünscht. Ich glaube, dass die Kontonummer bei der Kreissparkasse 912022 oder 23 am Ende lautete.“
„Nee, gibt´s  doch nicht!  Müsste man mal rauskriegen, ob das wirklich die Kontonummer war. Und hast du von anderen wichtigen Ereignissen auch ähnliche Daten im Kopf?“
„Nein, das wundert mich ja auch. Außer mit Ulla und jetzt mit dir habe ich auch nie darüber gesprochen. Kannst dir ja denken, was die Leute reden, wenn ich ihnen so beiläufig erzähle, dass am Montag, 3. Januar 1983 um 20.15 Uhr im ZDF die Sendung „Einsamkeit bringt mich um“ lief. Oder die Geschichte mit der Rückrufaktion von AEG-, BBC- und Zanker-Abluft-Wäschetrocknern.  Halte mich nicht für verrückt; aber ich weiß noch, dass es sich um die Typen AEG-Lavatherm 450, 450E, 450R, BBC-Rondodry AZ8, AE9 und Zanker Thermat 455, 460 und 460 E handelte.“
„Halt mal an! Wenn ich das in meinem  Kegelverein erzähle, das glaubt  mir kein Schwein!“
„Ich glaube es ja selbst kaum. Vor zwei Jahren hatte ich von dieser Rückrufaktion geträumt. Morgens standen mir die Maschinentypennummern vor Augen, als würde ich sie irgendwo ablesen. Weil ich es selbst nicht glauben wollte, habe ich damals einen Brief an AEG geschrieben. Sie haben mir bestätigt, dass alle von mir genannten Typen auf einem Grundmodul von AEG basierten und unter bestimmten Bedingungen ein Schwelbrand hätte entstehen können.“
„Wahnsinn!“
„Ich könnte dir noch ganz andere Dinger nennen. Es muss damit zusammenhängen, dass unser erstes Familienweihnachten eben eine ganz besondere Bedeutung für mich gehabt hat.“
„Ich muss das alles Hanna erzählen. Sie hat ja Psychologie studiert, vielleicht sind ihr ähnliche  Phänomene bekannt. Ich melde mich, wenn ich etwas herausbekomme.  Wir sehen uns spätestens in den ersten Tagen des neuen Jahres. Ich wünsche euch ein frohes Fest und einen guten Rutsch ins neue Jahr. Grüß Ulla von mir.“
„Danke! Euch auch alles Gute  und grüße du auch bitte.“

Ulla schaut durch den Türspalt zu mir in die Stube.
„Wer war das denn noch?“
„Peter.“
„Welcher Peter?“
„Stellenfleeth!“
„Und, was wollte er?“
„Uns alles Gute wünschen. Die fahren morgen nach Dänemark und kommen dann im neuen Jahr nach Krummendeich. Dann wollen sie vorbeikommen.“
„Hat er schon gesagt, wann?“
„Nein.“
„Ich geh´ dann schon mal nach oben. Räumst du bitte den Tisch noch ab.“
„Ja, mache ich. Gute Nacht.“

Am 2. Januar waren sie dann schon bei uns, unsere Freunde aus Hamburg oder Stellenfleeth. Hanna verschwand gleich in die Küche, wo Ulla einige Modezeitschriften ausgebreitet hatte. Peter  begleitete mich ins Weihnachtszimmer.
„Und, was machst du gerade?“
„Ich habe soeben damit begonnen, den Tannenbaum abzuschmücken. Du kannst die Strohsterne, die ich dir gebe, in den Pappkarton einsortieren. Sieh mal, du legst immer zwischen zwei Lagen mit Sternen ein Blatt von diesem Zeitungspapier.“
„Wozu ist das gut?“
„Damit die Sterne sich nicht vertütern oder beim Herausnehmen im nächsten Jahr zerbrechen.“
„Wenn du meinst. Gib her. So und nun Zeitung drüber?“
„Ja“
„Habe noch einmal über deine Gedächtnisleistung nachgedacht. Weißt du, die Geschichte mit den Typennummern der Wäschetrockner…“
„Pass bitte auf, nicht zu viele Sterne in eine Lage. Immer an die Lage Zeitung denken!“
„Ja, ist schon gut. Hanna meint, dass du …“
„Hier, den großen Stern bitte alleine legen und schön abdecken.“
„Also, Hanna  meint, dass du das doch noch mal …“
„Ach Peter. Ich will gar nicht mehr davon reden. Gefällt dir unser Baum?“
„Ja. Aber eigentlich mache ich mir da nicht so viel draus.“
„Äh, hast du die Zeitungspapiere alle richtig in den Karton gelegt?“
Peter schaut mich verwirrt an.
„Wieso richtig?“
„Na so, dass man lesen kann, was da geschrieben steht. Sonst muss man vor dem Lesen doch immer die Zeitung drehen.  Kapiert?“
Nichts hat er kapiert, schüttelt den Kopf. Sein Gesicht verrät eindeutig, was er von dieser Aktion hält. Widerwillig sortiert er alle noch unbenutzten Zeitungsabschnitte in die von mir geforderte Richtung.
„Musst du doch auch sagen, liest sich doch so viel besser. Der da zum Beispiel, der ganz oben liegt.“
Peter liest. Es wird ganz still. Er hebt den Kopf, sein Blick verrät eine Mischung aus Fassungslosigkeit, Zorn und einer gewissen Amüsiertheit.
„Du Arsch! Soll ich dir einmal sagen wie teuer Iglo Schlemmerfilet am 3. Januar 1983 bei mini MAL war?“
Im nächsten Moment brachen wir beide in schallendes Gelächter aus. Hanna kam in die Stube.
„Was ist hier los?“ fragte sie.
„Ich kann das jetzt auch!“ antwortet Peter.
„Was kannst du auch?“
„Ich kann dir sagen, wie das Spiel zwischen VfL Stade und CSV 1983 ausgegangen ist und warum Eckhard Starke vorzeitig vom Platz musste.“
Dann nahm Peter einen anderen Abschnitt in die Hand.
„Oder soll ich dir sagen, welche Wäschetrockner  von AEG, BBC und Zanker Anfang 1983 zurückgerufen wurden?“
„Ich muss nicht alles verstehen“, murmelt sie kopfschüttelnd und geht wieder in die Küche.

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