Montag, 28. April 2014

Die Alternative: Hähnchen von Lisbeth Lehmann




Das Maß ist voll, jetzt reicht es! Kein Fleisch mehr aus nicht artgerechter Haltung, kein Fleisch aus Schlachthöfen mit kriminellen Strukturen und ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen, kein Fleisch mehr, von Tieren, die prophylaktisch mit Antibiotika vollgespritzt wurden! Putenfleisch isst mein Freund ja schon lange nicht mehr. Aber nun, nachdem er einen Kriminalroman über die miesen Machenschaften der Fleischproduzenten und Schlachthöfe gelesen hat, ist ihm der Appetit auch noch an Hähnchen, Schwein und Rind gründlich vergangen.

„Wie nun, bist du nun Vegetarier?“
„Nein, nicht so richtig.“
„Und, was heißt das?“
„Ich esse Fleisch, wenn ich die Garantie habe, dass die Tiere artgerecht gehalten wurden. Bio Fleisch oder das Geflügel von Lisbeth Lehmann an der Moorstrecke nach Stade. Da weiß ich, dass die Hühner noch draußen frei herumlaufen und nicht einem ungesunden Mast Plan mit wahllosem Medikamenteneinsatz unterworfen waren.“
„Du meinst die Lisbeth Lehmann hinter dem Milchviehbetrieb Grodtmann, ihr Mann heißt Gerd?“
„Ja, die meine ich. Da ist die Welt noch in Ordnung. Bei der kaufen sogar zwei Sterneköche aus Hamburg. Der eine hat sie sogar in seinem Kochbuch empfohlen. Da schmeckt das Huhn auch noch nach Huhn und nicht nur Gewürz, wie am Hähnchenwagen vor dem EDEKA Markt in Freiburg.“

Dieser plötzliche Sinneswandel machte mich schon stutzig. In Eckards Familie wurde immer viel und gerne Fleisch gegessen. Ich begann über unseren Fleischkonsum nachzudenken.
Wie hieß doch noch mal das Buch, von dem Eckard erzählt hatte? Vielleicht gibt es das ja in der Gemeindebücherei oder ich hole es mir von Eckard.

Wenige Tage nach meinem Gespräch mit Eckard musste ich auf den Hof von Hartwig von Allwörden. In einem seiner beiden Hähnchenställe sprang ständig der Schutzschalter heraus und ich war nun bestellt, den Fehler zu finden. Es passte gerade gut in den Betriebsablauf. In der Nacht zuvor war der 30 Tage dauernde Mastprozess gerade beendet. Ein abenteuerlicher Trupp von „Hühnergreifern“ hat die ganze Nacht gebraucht, um die schlachtreifen Hähnchen einzufangen und in Transportbehältnissen zu verstauen. Heute noch sollte mit der Stallreinigung und der anschließenden Desinfektion begonnen werden. In nur wenigen Tagen wiederholt sich das 30tägige Gastspiel, die Mast vom Küken zum schlachtreifen Hähnchen. Schon vor dem Stall blieb mein Blick an einem Gitter Container mit toten Hühnern haften. Hartwig bemerkte meinen Blick und meinte mich beruhigen zu müssen.
„Das ist ganz normal. Bei so vielen Tieren schaffen es eben nicht alle lebendig bis zum Schlachthof. Einige sind krank oder der Stress beim Greifen haut sie um.“
Wir kamen in den leeren Stall. Es roch muffig warm und stark nach Hähnchenmist. Auch hier einige tote Tiere.
Bewegte sich da nicht etwas?
Ich blieb stehen und sehe, wie ein erstauntes Huhn den Kopf gerade unter dem Körper eines verendeten Tieres hervorarbeitet.
„Da lebt ja noch ein Hähnchen“, stellte ich überrascht fest.
„Auch ganz normal“, meinte Hartwich, der, als er bemerkte, dass ich ihm nicht mehr folgte, wenige Schritte vor mir stehen blieb.
„Einige ertragen den Stress nicht und krepieren, andere werden ohnmächtig und wenn der ganze Zirkus hier vorbei ist, melden sie sich plötzlich wieder zurück auf den Globus. Scheintot sozusagen.“
„Und was passiert mit denen?“
„Die holt sich immer Lisbeth Lehmann, weißt doch, dahinten hinter Meinhard Grodtmann auf der linken Seite.“
„Ach so.“
Mehr fiel mir im Moment nicht ein.
Auf der Rückfahrt und noch den ganzen Abend beschäftigte mich die Frage, ob ich Eckard beim nächsten Kegeln erzählen sollte, dass er und die Sterneköche aus Hamburg bei Lisbeth Lehmann Hähnchen kauften, die das Überleben des Massenexodus in der Hähnchenschlachterei nur einer vorübergehenden Schwäche zu verdanken hatten. Bei Lisbeth durften sie sich noch  einige Tage im Auslauf  der Illusion hingeben,  dem frühen Hähnchentod für alle Zeiten entkommen zu sein.

Ja, so ist das mit den Illusionen. Nun sind es nur noch drei Tage bis zum nächsten Kegelabend, und ich weiß immer noch nicht, ob ich Eckard die  Illusion von den glücklichen Hähnchen aus Lisbeths Hühnerhof nehmen soll oder nicht.
Es sind ja noch drei Tage.

Sonntag, 27. April 2014

Die Ostfriesen Amerikas



The Polish people
oder
Die Ostfriesen der USA

Indian Summer, stundenlang geht es durch die gold-gelb-roten Wälder Neuenglands und Vermonts. Diese Natur macht benommen, berauscht. Die Autofahrt endet an einem kleinen See. So klein, dass man ihn bequem in 15 Minuten umrunden kann. Fünf oder sechs Häuser liegen am Seeufer, keines so nah an dem anderen, dass man sich gestört fühlen könnte. Eines dieser Häuser gehört der Familie unserer Amerikanischen Verwandtschaft. Hier, fern jeder Großstadthektik mitten im goldenen Herbstwald waren wir zu einer Familienfeier eingeladen. Am Vorabend des Festes saßen alle bereits angereisten Gäste im großen Wohnzimmer beisammen, als das Telefon klingelte.
„Es waren die Sondergelds, unsere Nachbarn“, sagte unser Gastgeber, nachdem er den Hörer aufgelegt hatte. „Als sie hörten, dass die Deutschen hier sind, fragten sie, ob sie dazu kommen könnten. Sie werden gleich hier sein.“
Mr. Sondergeld zählt zu der inzwischen fast ausgestorbenen Gruppe von Immigranten, die es irgendwie noch geschafft haben, dem menschenverachtenden Nazideutschland  den Rücken zu kehren, bevor es nicht mehr möglich war -  die Wege nicht mehr ins Exil, sondern nur noch in den Tod führten. Er hat Deutschland noch als Kind, vielleicht als Jugendlicher in Erinnerung behalten. Dieser Mann hat die Angst vor Verfolgung, Demütigungen, Verlust der Heimat, schwierigen Neuanfang im Exil und ganz besonders den unbegreiflichen Holocaust erleben und verarbeiten müssen. Freunde und Verwandte, denen sich kein Schlupfloch aus der Hölle bot, sind irgendwo in den Vernichtungslagern ihrer arischen Landsleute hingemordet worden.
Jeder versteht, dass das Erlebte tiefe Traumata hinterlassen hat, dass Traurigkeit, Verbitterung, Misstrauen,  Zorn bis hin zum tiefen Hass das Verhältnis zu Deutschland und den Deutschen bestimmt.

Sowohl aus der Literatur als auch aus realen Begegnungen sind mir auch ganz andere Erfahrungen präsent. Ich weiß nichts über das persönliche Familienschicksal von Mr. Sondergeld. Tatsache ist nur, dass ihn ein Gemisch aus Neugier und Kindheitserinnerungen bewegt hat, sich noch am späteren Abend auf den Weg zu machen, um den Deutschen Besuch seiner Nachbarn und Freunde kennenzulernen. Sofort füllte er den Raum aus mit seiner lauten Herz- und Fröhlichkeit. Es dauerte nicht lange und Mr. Sondergeld fand wieder in die Sprache seiner Kindheit zurück. Durchmischt mit vielen Worten auf Englisch ergab sich schnell eine lebhafte Unterhaltung, die ihren Reiz auch durch den liebenswerten Sprachenmix erlangte.
Nach einigen Getränken fragte Mr. Sondergeld mich, ob es in Deutschland noch „die Jokes von die dumme Menschen aus Friiislend gäbe“.
„Oh, Sie meinen die Ostfriesenwitze?“
„Yes, diese Ostfriese. We have Ostfrieses too. Sie heißen in America Polish People.“
„Aha.“
„Ich erzähl dir eine Joke von eine polish scientist, wie sagen du auf deutsch?“
„Wissenschaftler.“
„Danke. Eine polish Wissensch, also eine scientist bekommt die Job, ihm soll find out how far jump eine Frog, was sagen du zu frog?“
„Frosch.“
„Soll find out, how far jump die Frosch mit vier legs, äh Bein. Die scientist nimmt die Frosch and says zu Frosch mit vier Bein „Frosch jump!“ Die Frosch jump 80 cm. Die scientist nimmt ein paper and writes: „Frosch mit 4 Bein jumps 80 cm.“
Dann soll die Scientist find out, how far jump die Frosch mit drei Bein. Er nimmt ein knife, ein Messer, and cut off one leg. Zu die frog mit drei Bein sagt ihm again: „Frog jump!“ Die Frosch jump 70 cm. Die polish man schreibt auf sein paper.
Dann soll die Scientist find out, how far jump die frog mit two legs. Die frog jump 68 cm. Nächstes task, wie far jump die frog mit one leg. Er sagt zu die frog: „Frog jump!“ Die frog jump 15 cm, nix sehr straight. Nächstes task was, how far spring die frog ohne legs. Die scientist cut off die letzte Bein und sagt zu die frog ohne legs: „Frog jump!“ Die frog springt nicht. Ihm sagt noch einmal „Frog jump!“ aber die frog jump nicht. Da bekommt die Scientist sehr böse und sagt noch einmal:  „Frog jump!“ Die frog jump nicht.
Da schreibt diese polish scientist in sein paper: „Frog without Bein can not hören!“
Mr. Sondergeld belohnt sich für diese gelungene Pointe mit lautem Lachen, in das die Runde einfällt.

Wieder zurück in Deutschland hält dieser polnische Ostfriesenwitz, viele Male von mir weitererzählt, die Erinnerung an Mr. Sondergeld am kleinen See im fernen Vermont, wach. Vielleicht zehn Jahre später, es war das Jahr der Fußballweltmeisterschaft in Südkorea, kam ich noch einmal in das gastliche Haus an dem kleinen See. Wir saßen in der Runde und es wurde sich angeregt unterhalten, als mir Mr. Sondergeld einfiel.
„Sagt mal, gibt es eigentlich Familie Sondergeld noch? Es war so witzig mit ihm als wir das letzte Mal hier waren?“
Ja, es gab sie noch und sie bewohnten auch gerade wieder ihr Zweithaus am See. Trotz der späten Stunde rief unser Gastgeber bei den Sondergelds an, um ihnen vom deutschen Besuch zu berichten und fragte, ob sie nicht Lust hätten, zu kommen. Es vergingen nur wenige Minuten und Mrs. Und Mr. Sondergeld erschienen im Bademantel – sie hatten sich schon zur Ruhe begeben. Mr. Sondergeld war etwas älter geworden aber ich erkannte ihn sofort wieder. Nach kurzer Vorstellung wer wir waren und wann und wo es schon einmal eine Begegnung zwischen uns gab, befanden wir uns wieder in angeregter Unterhaltung. Es wurde getrunken und viel gelacht. Irgendwann erzählte ich, dass er mir all die Jahre gut in Erinnerung geblieben ist, weil ich seinen Witz mit „die polish scientist“ mit großem Erfolg mindestens 1000 Schulkindern  in Deutschland weiter erzählt hätte.
„Was für eine Witz war das?“
„Na, der Witz mit dem Frog und dem Wissenschaftler.“
„Kenn ich nicht, kannst du erzählen?“
Und ob ich konnte. Es gab keinen Witz in den vergangenen 10 Jahren, den ich häufiger erzählt hatte. Nur in dieser Variante hatte ich Mr. Sondergelds Rolle und den Sprachenmix weggelassen.
Kaum, dass die Pointe heraus war, brach Mr. Sondergeld in das für ihn typische schallende Gelächter aus.
„Diese Joke ist wonderful, ich werde mir merken diese Witz“, brachte er immer noch lachend heraus.
Bevor er sich verabschiedete, wandte Mr. Sondergeld sich mir noch einmal zu.
„Ich will dir geben noch eine Joke für deine Students in Deutschland. Wir haben hier Jokes von die fair-haired Frauen. Du weißt fair?“
Man half mir aus der Runde mit der passenden Vokabel: „blond“.
Also auch in Amerika kannte man die Witze über blonde Dummchen, vielleicht  sind sie auch von dort über den Atlantik geschwappt, wie so viele andere unnütze, blöde oder bisweilen auch sinnvolle und nützliche Dinge und Angewohnheiten.
„Also, ein fair Frau wollte fly from L.A. to Miami mit second class ticket. Die fair Frau mit second class setzt sich auf eine seat von first class. Sagt die Stewardess in first class zu die fair Frau: „Du kannst nicht sitzen auf first class mit second class ticket.“ Die fair Frau doesn´t move. Kommt ein andere Stewardess und sagt zu die fair Frau: „Du kannst nicht sitzen auf first class mit second class ticket.“ Die fair Frau doesn´t move. Dann gehen die Stewardessen to the captain und tell him, that the fair Frau mit second class setzt sich auf eine seat von first class und nicht wechseln will.
Sagt die Captain: „Let me do.“
Ihm geht nach die fair Frau, whispers in ihr Ohren. Die fair Frau mit second class ticket gets up und geht nach second class. Wenn die Stewardessen das gesehen, sie gehen to the Captain und ask him wie ihn das gemakt hat. Hat der Captain gesagt:
„Ich hab die fair Frau gesagt: First Class fliegt nicht nach Miami!“
Wie schon vor zehn Jahren war Mr. Sondergeld sehr erfolgreich mit seinem Witz, die Runde belohnte ihn mit ausgiebigem Gelächter.
„So, nun kannst du deine Students eine neue Joke von America erzählen und in 10 years du kommst nach Vermont und erzählst mir diese Joke, damit ich kann lachen!“
Für diesen Joke bedankte sich Mr. Sondergeld noch einmal bei sich selbst mit seinem fröhlichen Lachen und verabschiedete sich.
Das liegt nun schon 12 Jahre zurück. Der Joke mit der fair Frau hat nie die Erfolge feiern können, wie der Joke mit „die polish Scientist“. Trotzdem habe ich ihn gemocht,  besonders in Verbindung mit der Erinnerung an diesen fröhlichen, alten Mann in den Wäldern Vermonts, den wehmütige Kindheitserinnerungen dazu bewegt haben, nachts im Bademantel durch den Wald zu laufen, um mit den „Germans“ zu reden. Vielleicht wird mich das Schicksal noch einmal an den kleinen See in Vermont führen. Auf Mr. Sondergeld werde ich wohl vergebens warten. Seine Witze werden mir bestimmt wieder einfallen. Und, wenn ich sie erzählen werde, werde ich daran denken, dass es ja eigentlich Mr. Sondergeld war, der darum gebeten hatte, dass ich ihm seinen Witz von der „fair Frau“ erzähle.

Donnerstag, 24. April 2014

Das Familiengeheimnis



Opa war aus Hamburg Berne raus aufs Dorf gekommen, die Familie seines Sohnes zu besuchen. Vielleicht auch nur, um einmal wieder richtig satt zu werden. Auf dem elterlichen Hof gab es dafür eigentlich auch kaum genug, obwohl die ganz schlechte Zeit nun nach der Währungsreform gerade vorbei schien. Nicht so für Opa Henry. Genau genommen sollten sich die Zeiten für Opa noch einmal vorübergehend dramatisch verschlechtern.
Aus welchem Anlass unser Opa zu Inge Hildebrandt ins Wirtshaus ging, ist mir nicht überliefert. Sicher ist nur, dass er dort war, recht lange. Sicher ist auch, dass er nicht wusste, wie er zurückgekommen war und ganz sicher waren sich er und alle anderen aus der Familie, dass er mit seinen Zähnen aufgebrochen war und nun definitiv ohne Zähne aus seinem Rausch aufgewacht war.
Ohne Zähne zu sein ist an sich schon sehr unangenehm, sieht nicht gut aus, kannst nicht anständig sprechen und vom Essen zu reden  brauchen wir gar nicht erst anzufangen. Nun magst du vielleicht denken: „Ist doch nicht so schlimm! Wenn es ohnehin nicht so viel zu beißen gibt. Spart doch wieder Essen!“
Das kann man so auch wieder nicht sagen. Wenn du nämlich wenig zu beißen hast, kannst du ohne Zähne gar nichts beißen und das ist, versteht sich von selbst, überhaupt nicht mehr lustig.
Opa Henry war noch aus einem anderen Grund totunglücklich. Damals konnte man nicht mal eben zum Zahnarzt und drei Tage später gibt es die neuen Zähne.  Kriegsbedingt  gab es noch wenige Zahnärzte und Dentallabors. Außerdem war man froh, wenn man sein weniges Geld nicht für die Zähne anlegen musste sondern in Essen investieren konnte.
Es folgten ein zwei Tage schlechter Stimmung und Ernährung - nur mit den unterschiedlichsten Breisorten, Milch und Säften.

Und dann, noch vor Opas Abreise nach Hamburg, die große Entspannung. Mit einem Lächeln im Gesicht, das zwei strahlendweiße Zahnreihen sichtbar machte, trat der Opa in die Stube. Überglücklich berichtete er davon, wie er seine Zähne auf dem Weg zum Plumpsklo  im dunklen Keller auf dem Absatz eines Kellerfensters wiedergefunden hatte. Dabei hätte er schwören können, dass er dort schon einmal nach seinen Zähnen gesucht hatte.
Was soll´s! Hauptsache die Zähne waren wieder da.

Was Opa Henry nicht wusste: Jeden Freitag wurde der Klo Eimer auf dem Gartenland geleert. An dem Freitag, der dem Opa die Wiedervereinigung mit seinen Zähnen bescherte, tauchte das Gebiss zwischen den Rhabarber Stauden auf. Dobbertin, der die undankbare Aufgabe hatte, den „Goldeimer“ zu leeren, wusste natürlich wie alle Menschen der Hofgemeinschaft, was dem Besucher aus Hamburg widerfahren war. Für Opa Henry unsichtbar gelangten die Zähne ins Haus. Nachdem sie geschrubbt und abgekocht waren, musste nur noch ein Platz gefunden werden, an dem der zahnlose Opa ganz „zufällig“ sein Gebiss wiederfinden konnte.

Opa Henry freute sich über seine wiederhergestellte Kaufähigkeit und reiste überglücklich heim zur Oma. Zurück blieb das Familiengeheimnis. Ein Geheimnis, das mir erst viele Jahre nach dem Tod von Opa Henry und Oma Gretel durch meine  Mutter anvertraut wurde.

Freitag, 18. April 2014

Wäscheleine statt Weihnachtsbaum



Eine Weihnachtsgeschichte
Es muss in der Mitte der 50er Jahre gewesen sein, als sich diese Geschichte ereignete. Wir waren vier Kinder in der Familie und meine Eltern bewirtschafteten einen kleinen Bauernhof auf der Holsteinischen Geest bei Neumünster.
Das Familieneinkommen war nicht sonderlich hoch. Das spürten wir Kinder immer dann, wenn unsere Eltern am Tisch darüber beratschlagten, wie sie die Winterkleidung, Stromgeld oder eine notwendige Maschinenreparatur bezahlen sollten. Weil meine drei Schwestern und ich sehr wohl merkten, wie knapp das Geld bei den Eltern war, fielen wir alljährlich auf das vorweihnachtliche Theater unseres Vaters herein. Als wäre es heute noch so erinnere ich mich daran, wie er in der Adventszeit anfing, uns auf die schwierige finanzielle Lage hinzuweisen, in der sich die Eltern gerade zum Weihnachtsfest befanden.
Es hatte seit einigen Tagen gefroren und wir Kinder wurden bei Anbruch der Dunkelheit zum Adventskaffee hereingerufen. Feinbrot mit Butter und braunen Keksen! Kaum in der warmen Stube, gab es erst einmal eine Predigt! Der Geruch, den wir verbreiteten, machte jegliches Leugnen zwecklos. Wir hatten uns auf der zugefrorenen Jauchegrube eine Glitschbahn gebaut. Nun, in der warmen Stube, begann die gefrorene Jauche, die an unseren Hosen haftete, zu schmelzen. Gleich im Anschluss an das Rutschverbot auf der Jauchegrube für alle Zeiten setzte unser Vater sein bekannt sorgenvolles Gesicht auf und sagte mehr zur Mutter gewandt:
„Einen Tannenbaum gibt es dieses Jahr nicht. Paßvogel will schon wieder eine Mark mehr für den Baum und ich soll erst die Rechnung für die zwei Futtertröge bezahlen bevor ich Geld für einen Tannenbaum ausgebe.“
Paßvogel, unser Stellmacher, besaß ein kleines Fichtenwäldchen, in dem schon die Tannenbäume meiner Großmutter geschlagen wurden. Es ging also wieder los, ein untrügliches Zeichen, dass Weihnachten nahte, wenn unser Vater uns schonend  darauf vorbereitete, dass wir das Weihnachtsfest in diesem Jahr wohl wirklich ohne Tannenbaum feiern müssten.
„Für ein paar Tannenzweige wird es schon reichen“, meinte er nach kurzer Pause. Auch das kannten wir schon. Ute, meine etwas vorlaute Schwester, sprach aus, was der Vater als nächstes gesagt hätte.
„Ja, ja, Papa, wir wissen´s. Dann müssen wir eben wieder eine Wäscheleine durch das Weihnachtszimmer spannen, ein paar Tannenzweige, Kringel und Kerzen und Heiligabend kommen wir dann in das Weihnachtszimmer und wieder steht ein Tannenbaum da!“
Kaum war die Fröhlichkeit nach dieser Einlage verklungen, als der Vater wieder ansetzte:
„In diesem Jahr ist es anders; aber so schlecht wird es mit der geschmückten Wäscheleine auch nicht aussehen. Vielleicht klappt es ja im nächsten Jahr wieder mit einem Weihnachtsbaum.“

Es war wirklich anders in diesem Jahr – die Kinder waren für dieses Spielchen zu alt geworden. Angesteckt von der Sicherheit der Großen verloren auch wir Kleinen den Respekt vor des Vaters Neuauflage vom Fest ohne Tannenbaum. Allgemeine Heiterkeit erstickte jegliche Versuche, uns das Wäscheleinenmärchen noch einmal aufzutischen.
Es muss die Woche vor Weihnachten gewesen sein, als dann plötzlich das Weihnachtszimmer verschlossen war. Selbst das Schlüsselloch konnte nicht weiterhelfen: Es war mit einer Stanniolkugel verstopft und zusätzlich von innen verhängt.
Wäscheleine oder Tannenbaum?
Diese Frage wurde immer wieder von uns Kindern mit viel Heiterkeit erörtert. Nein, diesmal sind wir ihm nicht auf den Leim gegangen und er hat es bemerkt. Vom Vater kam seit jenem Adventsnachmittag kein Wort mehr zu dem Thema. Er hatte eben begriffen, dass wir uns nicht mehr so leicht von ihm verschaukeln ließen.
Trotz Stanniol war die Versuchung zu groß, das Schlüsselloch regelmäßig zu kontrollieren. Vielleicht ist ja doch etwas zu sehen. Am Sonntagmorgen vor dem Fest war es dann soweit: Statt Stanniol leuchtete Licht durch das Schlüsselloch! Allein nicht mutig genug, musste ich erst meine kleine Schwester Franziska holen, um mit ihr gemeinsam das Geheimnis hinter der verschlossenen Tür zu lüften. Was wir dann sahen, wirkte wie ein Schlag und trieb uns die Tränen in die Augen. Quer durch den Sichtbereich des Schlüsselloches spannte sich eine Wäscheleine mit einigen kümmerlichen Fichtenzweigen behängt und zwei oder drei Kerzen, die dem Gesetz der Schwerkraft folgend mit dem Docht zur Erde hingen.
Zur Mittagszeit fand uns die Mutter auf den Betten sitzend mit verheulten Gesichtern. Auch die großen Mädchen hatten ihren Übermut verloren. Nun war nicht nur offensichtlich, wie arm wir wirklich waren. Wir mussten uns zusätzlich mit der abscheulichen  Vorstellung abfinden, diese Weihnachten unter einer Wäscheleine feiern zu müssen. Da halfen auch die tröstenden Worte der Mutter nichts, die immer wieder beteuerte, dass wir alles versuchen würden, das Beste aus dieser Situation zu machen. Wir beruhigten uns; aber die Vorweihnachtsstimmung der anderen Jahre wollte einfach nicht aufkommen.

Dann war es endlich soweit. Nach einem bescheidenen Mittagsmahl am Weihnachtstag – am Abend sollte es ja noch das Festessen geben – mussten wir vier Kinder der Reihe nach durch die graue Zinkwanne. Eingewickelt in Decken ging es aus der warmen Waschküche über kalte Kellergänge und Treppen in unser Zimmer. Unter dem Gebläse des umgedrehten Koboldt Bohnerbesens trockneten die Haare. Ein Föhn für die Haare gab es in unserem Haushalt nicht.

Mutter trug das schwarze Kleid mit Goldfäden, das ich nur immer Weihnachten an ihr gesehen hatte. Auch wir Kinder waren mit unseren besten Kleidungsstücken herausgeputzt. So standen wir in dem dunklen Flur vor dem Weihnachtszimmer und warteten auf das Glöckchen des Christkindes, das noch gemeinsam mit unserem Vater letzte Vorbereitungen im Weihnachtszimmer traf.

„Jetzt zündet er die Kerzen an“, sagte meine Schwester Regine in der Pause zwischen zwei Weihnachtsliedern.
„Nee“, meinte die kleine Zissi, „die können doch gar nicht brennen – über Kopp!“
„Oh du fröhliche“ musste Mutter dann alleine singen, weil unsere Gedanken bei der Wäscheleine waren.

Vater und Christkind hatten ein Erbarmen mit uns, das Glöckchen klingelte. Die Doppeltür öffnete sich und vor unseren Augen strahlte ein Tannenbaum vom Fußboden bis zur Decke buntgeschmückt im Lichterglanz.
„Oh Tannenbaum“ haben wir dann alle aus vollem Herzen gesungen und manch eine Freudenträne mag den Blick auf die Geschenke unter dem Baum getrübt haben. So schön, wie in jenem Jahr, habe ich nie wieder einen Tannenbaum erlebt.

Es war das letzte Weihnachtsfest, vor dem Vater versuchte, uns mit der Wäscheleinengeschichte auf die Folter zu spannen. Bis heute vergeht jedoch kein Weihnachtsfest, ohne dass ich an die Wäscheleine im Weihnachtszimmer denken muss.