Werner, Sascha, Willi
- Nichtsesshafte, Berber,
Monarchen, Tippelbrüder; aber bitte nicht Penner oder Landstreicher!
von links: Werner, Sascha, Willi
Der Tipp kam
von irgendwo. Jemand hat die Gruppe der drei Tippelbrüder mit ihren zwei Hunden
im Vorbeifahren im kleinen Schutzhäuschen an der Elbfähre gesehen und gemeint,
dass das doch vielleicht etwas für den Zeitungsschreiber sei. Es passte alles
und ich machte mich mit Kamera und Notizblock auf den Weg. Noch im Auto
überlegte ich, wie ich die drei ansprechen sollte. „Duze“ ich sie? Drücke ich
statt eine emotionalen Verbundenheit zu signalisieren vielleicht eine nicht
beabsichtigte Geringschätzung aus? Werde ich Offenheit oder Ablehnung bis hin
zu Aggressivität erfahren?
Die Antwort
auf diese Fragen bekommt man dann bei der Begegnung in Sekundenschnelle. Ich
traf auf drei Männer unterschiedlichen Alters, die sich offensichtlich wegen
des unangenehmen Herbstwetters schon mit einigen Dosen Bier getröstet hatten.
Die Frage des „Duzens“ klärte sich ganz schnell, weil ich gleich nach einem
knappen „Moin“ meinerseits per „Du“ angeredet wurde. Als zufällig
Schutzsuchender getarnt betrachtete ich die Gruppe und interessierte mich für
die Hunde. Das war ein sehr guter Türöffner, um ins Gespräch zu kommen.
Irgendwann fragte ich dann, ob sie mir nicht etwas aus ihrem Leben erzählen
wollten. Ich würde es dann aufschreiben und vielleicht in die Zeitung bringen.
„Das kostet
aber ´ne Kleinigkeit“, sagte Werner (li im Foto), der das Sprachrohr der Gruppe
zu sein schien. Wir einigten uns auf 20 DM. Das war ganz schön viel, ungefähr
die Hälfte des Honorars, das ich für meinen Beitrag erwartete. Dass das Honorar
nachher bedeutend höher ausfiel, hing mit der Länge meiner Geschichte und den
insgesamt fünf veröffentlichten Fotos zusammen.
Mein Artikel
im Stader Tageblatt vom 22.10. 1991
Und manchmal träumen sie ihren Traum
von einer Bauernkate im Grünen…
Gespräche
mit drei Tippelbrüdern, deren Wege sich an der Wischhafener Fähre kreuzten
Werner F., 43, Diplom-Betriebswirt und
jahrelang Offizier des Passagierschiffes „Norway“ verantwortlich für „Food and
Beverage“ sitzt in der Schutzhütte am Wischhafener Fähranleger neben seinem
Freund, dem 43jährigen Stahlbauschlosser Sascha K. und dessen Sohn Willi K.,
25, Baumschularbeiter.
Der erste Herbststurm peitscht Regenböen um
die Hütte, andere Fährbenutzer stehen notdürftigen geschützt vor dem Häuschen –
die freien Plätze neben den drei Männern bleiben frei. Die Plätze bleiben frei,
weil Werner, Sascha und Willi deutlich erkennbar zu einer Randgruppe unserer
Gesellschaft zählen, zu der bestenfalls Beamte von Sozialämtern oder Pastoren
ein ungezwungenes Verhältnis haben, während der Rest der Gesellschaft
wegschaut, Angst oder Unbehagen empfindet: Sie sind „Berber“
Die äußerlichen Merkmale sind untrüglich:
Leicht ungepflegte Erscheinung, Ruck- und Seesäcke, Zigaretten in der einen
Hand und in der anderen Hand - wie eine Erkennungsmarke - eine Dose Bier. Unter den Bänken sind zwei
Hunde angeleint, die besten Freunde der drei Tippelbrüder, wie sie mehrfach
betonen. Nicht ohne Stolz beschreiben sie ihr freies Leben, und, wenn nicht
dieses fürchterliche Wetter wäre, könnte der Zuhörer in die Versuchung geraten,
dieses Leben auch einmal ausprobieren zu wollen.
„Wir schlafen meistens auf der „Platte“
(unter freiem Himmel) im Sommer wie im Winter“, schwärmt Willi. Von Reisen nach
Finnland erzählen die drei und von Reisen, die sie noch vor sich haben. Je
länger wir sitzen und erzählen und je mehr Dosen mit ihrem unverkennbaren Zischen
ihrer Leerung entgegengehen, desto mehr bröckelt das Bild von der
Pfadfinderromantik, das die drei Männer anfangs darzustellen versuchten.
Schicksalsschläge haben sie aus dem
bürgerlichen Leben geworfen. Werner verlor erst seinen zweijährigen Sohn durch
ein Herzleiden. Dann starb seine Frau an Leukämie. Aufwendige, selbst zu zahlende
Heilversuche brachten ihn derart in Schulden,
dass sein Haus zwangsversteigert wurde. Er wollte nicht mehr leben – zumindest nicht
mehr unter den Umständen, die sich ihm damals boten – und begann vor nunmehr
drei Jahren das Leben auf der Straße. „Davidoff habe ich geraucht und ein Pferd
gehabt und nun …?“
Sascha hat die Woche auf Montage gearbeitet
und musste bei einer vorzeitigen Heimkehr feststellen, dass seine Frau sich in
seiner Abwesenheit mit anderen Männern tröstete. 18 Jahre ist er schon auf der
Straße auf der Flucht vor seinen Erinnerungen. Seit einem Jahr hat Sohn Willi
seine Arbeit in einer Baumschule aufgegeben und teilt seitdem das Leben als
Tippelbruder mit seinem Vater.
Hatten sich die drei anfangs noch betont von
einem bürgerlichen Leben distanziert, wird im weiteren Verlauf des Gespräches
immer deutlicher, dass sie sich eigentlich nichts sehnsüchtiger wünschen, als
einen Wiedereinstieg in gerade die bürgerliche Gesellschaft, der sie aus den
verschiedensten Gründen einst Lebewohl gesagt hatten. „Wir würden ja gerne
wieder arbeiten“, sagt Werner, „aber ohne Wohnung kriegen wir keine Arbeit und
ohne Arbeit gibt es keine Wohnung.“
„Das schönste wäre jetzt eine alte Kate“,
träumt Sascha laut. „Die ausbauen wie eine kleine Puppenstube, zwei von uns
gehen arbeiten und einer bleibt zu Hause und kümmert sich um die Hunde und das
Essen.“ Willi rundet das Bild von der „glücklichen Familie“ ab, indem er sich
noch eine Frau hinzuträumt, die vielleicht auch gerade die Nase von der Straße
voll hat.
Die Realität sieht anders aus. Keine Nacht,
in der man richtig schlafen kann. Angst vor Übergriffen von Skins oder Neonazis
machen manche Nächte zum Horrortrip. Gerade haben 15 Skins in der Kleinstadt
Beverstedt den vierten ihrer Gruppe derart zugerichtet, „dass er keine Witze
mehr erzählt.“ Die Zähne fehlen ihm und er liegt mit einem Schädelbruch im
Krankenhaus. Die Unterkünfte der Kommunen für „Nichtsesshafte“ sind oftmals in
einem derart erbärmlichen Zustand, dass an Körperpflege kaum zu denken ist. „Wir
würden gerne mal duschen oder schön warm baden, aber guck´ dir die Löcher mal
an, in die sie uns stecken“, ereifert sich Werner und räumt im nächsten Satz
mit dem Vorurteil auf, dass Berber, wie sie es sind, keinen Wert auf Körperhygiene
legen.
„14,78 Mark stünden ihnen nach dem
Sozialhilfegesetz als Nichtsesshafte am Tag zu. Einige Ämter zahlen nur 5 Mark
aus und die Stadt Elmshorn gibt gar nichts. Schreib´ bloß nichts Schlechtes
über Freiburg, also diese Frau auf dem Amt ist echt in Ordnung“, meint Willi
und erntet prompt Anspielungen seiner Kameraden auf seine Lobreden über die
Sachbearbeiterin der Nordkehdinger Verwaltung. Knapp über 40 Mark für drei
Männer und zwei Hunde am Tag ist nicht zu viel. „Wenn wir nicht den vollen Satz
kriegen, machen zwei von uns „Sitzung“ (sie betteln) und der Dritte schaut sich
nach einem einigermaßen sicheren Schlafplatz um“, erläutert Werner die
Beschaffungsstrategie.
Gotteshäuser sind oft die letzte Rettung,
aber die Pastoren geben nicht alle gleich. Nicht alle Hirten kümmern sich so
barmherzig gerade um die heimatlosen Schafe ihrer Herde, wie eine Pastorin in
Elmshorn, die nicht nur Verpflegung und Bargeld herausrückt, sondern auch noch
ein annehmbares Nachtquartier zur Verfügung stellt. Andernorts gibt es ein
Stück Brot oder nur den Hinweis, wo die zuständigen Amtsstuben der politischen
Gemeinde zu finden sind. „Die Härte“, meint Werner, „sind die Kolonien von
caritativen Verbänden oder der Kirche. Da geben sie dir ein Bett und Essen und
du musst für 145 Mark im Monat plus 1 Mark pro Arbeitstag arbeiten. Die reinste
Ausbeutung ist das, da gehen wir nicht rein. 200-400 Männer sind dort
untergebracht und beim geringsten Regelverstoß setzen sie einen vor die Tür.“
„Nur die „Winterratten“ gehen dahin“, setzt
Willi noch drauf. „Winterratten nennen wir die, die uns im Sommer den Ruf
versauen und sich im Winter in diese Kolonien wie die Ratten in ihre Löcher
verkriechen.“
Über eine Stunde haben wir uns in der
bescheidenen Gemütlichkeit des Wetterunterstandes am Wischhafener Fähranleger
unterhalten. Das Leben dieser Menschen wird bestimmt durch das Wetter, den
Kampf um das täglich notwendige Geld, die Suche nach einem Schlafplatz und
durch die Ablehnung durch die Gesellschaft, deren Normen sie nicht erfüllen. Es
wird bestimmt durch Angst vor den Menschen unserer Gesellschaft, die sich
heimatlose Berber wie Werner, Sascha und Willi als Opfer ihrer Aggressionen suchen.
Beinahe hätten sie es geschafft, die nette Oma gestern. Sie wollte ihnen schon
das kleine Häuschen geben, aber, wegen der Hunde hat es nicht geklappt. Beinahe
wäre er wahr geworden – der Traum vom kleinen Häuschen, das sie sich zu gerne
zum Puppenstübchen ausgebaut hätten.
P.S.: In Nordkehdingen schneiden sich zwei
Hauptrouten der Nichtsesshaften: 1. Hamburg – Cuxhaven, 2. Dänemark – Süd- bzw.
Westdeutschland. Berber, Monarchen, Tippelbrüder (nur bitte nicht Penner!) sind
entlang dieser Strecken ein vertrautes Bild. Das heißt aber noch lange nicht,
dass sie hier als gleichwertige Mitglieder unserer Gesellschaft betrachtet
werden.
Am 14.
November, gut drei Wochen nach
Erscheinen des Artikels im Stader Tageblatt, machten die drei Berber mit ihren
Hunden Station in Freiburg. Dort hatte man die Männergruppe noch gut in
Erinnerung. Der Zeitungsbericht hatte Emotionen für die Nichtsesshaften
geweckt. Ganz unerwartet schlug ihnen im
Dorf eine Welle der Hilfsbereitschaft und Zuneigung entgegen. Überwältigt von
dem, was mein Artikel bei meinen Mitbürgerinnen und Mitbürgern ausgelöst hat,
verfasste ich einen weiteren Artikel für das Tageblatt, der dann am 16.
November erschien.
Ja, es ist
schon ein schönes Gefühl, wenn man plötzlich feststellt, dass man mit geringem
Aufwand unerwartet zum Guten in Lebensschicksale
eingreift. Die Freundlichkeit des Dorfes bewog Werner, wieder sesshaft zu
werden. Er bekam ein Zimmer und, was viel wichtiger war, auch eine Arbeit. Der
Wirt des Kehdinger Hofes war auf der Suche nach einem Koch. Werner war auch
gelernter Koch. Innerhalb kürzester Zeit verwandelte sich nicht nur die
Speisekarte des Kehdinger Hofes. Auch
Werner war nach nur kurzer Zeit nicht mehr wiederzuerkennen. Bald schon galt
bei den Freiburgern der Besuch des Kehdinger Hofes als Geheimtipp. Derart
schmackhafte Gerichte wie dort, gab es in der gesamten Umgebung nicht.
Zubereitet von einem freundlichen Koch, der sich gerne auch mal den Gästen
außerhalb der Küche zeigte. Das Solarium des Hauses, das er kostenlos nutzen
durfte, hat ihm schnell zu einer sommerlichen Bräune verholfen, die noch
kräftiger zur Geltung kam, wenn Werner seine weiße Kochkluft trug. Werner hatte
sich innerhalb weniger Wochen vom ungepflegten Tippelbruder zu einem
glücklichen Arbeitnehmer verwandelt, der von allen Menschen gemocht wurde.
Keine Spur verriet in seinem Gesicht, dass er Zeiten übermäßigen
Alkoholgenusses hinter sich hatte. Der Kehdinger Hof warb mit einem
Weihnachtsbuffet, von dem die Gäste noch Tage später schwärmten, und auch das
traditionelle Grünkohlessen für 130 Segler bewältigte Werner mit Bravour und
Anerkennung von den kritischen Kohlessern.
Und, fehlt
da nicht noch etwas?
Ja, eine
Frau hat er auch noch gefunden. Eine nette Geschäftsfrau aus Stade hatte sich
in ihn verliebt und ihm ein neues Zuhause angeboten. Es ist beinahe wie im
Märchen gelaufen. Während die Märchen für die Hauptpersonen immer glücklich
enden, endete das Märchen vom Tippelbruder Werner da, wo es vor einigen Monaten
begonnen hatte: Auf der Straße.
Werner, der
nach seinem Neustart keinen Alkohol mehr angerührt hatte, war rückfällig
geworden. Versuche, ihn wieder auf die richtige Spur zu bekommen, misslangen.
So plötzlich, wie Werner in Freiburg aufgetaucht war, war er wieder
verschwunden. Ein verzweifelter Anruf seiner Freundin bei mir verriet, dass er
selbst die Person, der er am meisten verbunden war, in Ahnungslosigkeit und
Ratlosigkeit zurückgelassen hatte. Trotz des guten Ansatzes, ist es Werner
leider nicht gelungen, auftauchenden Problemen anders als durch Flucht zu
begegnen.
Wochen
später erreichte uns eine Postkarte aus Westerland auf Sylt. „Herzliche Grüße
von Sylt. Arbeite hier als Saisonkoch. Gruß, Werner“, stand auf der Karte
geschrieben.
„Vielleicht
hat er sich ja berappelt“, war meine Hoffnung. Im Winter kam eine weitere Karte
aus dem Raum Würzburg, auf der er uns mitteilte, dass er dort Arbeit hätte.
Werner, ich
wünsche dir, dass du es geschafft hast, dein Leben in den Griff zu bekommen.
Seitdem habe
ich nichts mehr von ihm gehört.
Ist es ein
gutes oder ein schlechtes Zeichen? Wenn er wieder auf die Straße zurückgekehrt
wäre und er wäre auf der Nord-Südroute getippelt, er hätte bei uns
vorbeigeschaut.
Hat er
nicht.
Ist er von
der Straße losgekommen? Warum hat er sich dann nicht mal gemeldet, um sich in
seinem neuen Leben vorzustellen?
Ach Werner,
Offizier der „Norway“, Tippelbruder und Koch im Kehdinger Hof, vielleicht
meldest du dich ja doch noch einmal.
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