Mittwoch, 27. Januar 2016

Begegnungen 7 * Werner, Sascha und Willi - Nichtsesshafte Berber, Monarchen, Tippelbrüder ...




Werner, Sascha, Willi  -  Nichtsesshafte, Berber, Monarchen, Tippelbrüder; aber bitte nicht Penner oder Landstreicher!






 von links: Werner, Sascha, Willi

Der Tipp kam von irgendwo. Jemand hat die Gruppe der drei Tippelbrüder mit ihren zwei Hunden im Vorbeifahren im kleinen Schutzhäuschen an der Elbfähre gesehen und gemeint, dass das doch vielleicht etwas für den Zeitungsschreiber sei. Es passte alles und ich machte mich mit Kamera und Notizblock auf den Weg. Noch im Auto überlegte ich, wie ich die drei ansprechen sollte. „Duze“ ich sie? Drücke ich statt eine emotionalen Verbundenheit zu signalisieren vielleicht eine nicht beabsichtigte Geringschätzung aus? Werde ich Offenheit oder Ablehnung bis hin zu Aggressivität erfahren?
Die Antwort auf diese Fragen bekommt man dann bei der Begegnung in Sekundenschnelle. Ich traf auf drei Männer unterschiedlichen Alters, die sich offensichtlich wegen des unangenehmen Herbstwetters schon mit einigen Dosen Bier getröstet hatten. Die Frage des „Duzens“ klärte sich ganz schnell, weil ich gleich nach einem knappen „Moin“ meinerseits per „Du“ angeredet wurde. Als zufällig Schutzsuchender getarnt betrachtete ich die Gruppe und interessierte mich für die Hunde. Das war ein sehr guter Türöffner, um ins Gespräch zu kommen. Irgendwann fragte ich dann, ob sie mir nicht etwas aus ihrem Leben erzählen wollten. Ich würde es dann aufschreiben und vielleicht in die Zeitung bringen.
„Das kostet aber ´ne Kleinigkeit“, sagte Werner (li im Foto), der das Sprachrohr der Gruppe zu sein schien. Wir einigten uns auf 20 DM. Das war ganz schön viel, ungefähr die Hälfte des Honorars, das ich für meinen Beitrag erwartete. Dass das Honorar nachher bedeutend höher ausfiel, hing mit der Länge meiner Geschichte und den insgesamt fünf veröffentlichten Fotos zusammen.

Mein Artikel im Stader Tageblatt vom 22.10. 1991

Und manchmal träumen sie ihren Traum von einer Bauernkate im Grünen…
Gespräche mit drei Tippelbrüdern, deren Wege sich an der Wischhafener Fähre kreuzten

Werner F., 43, Diplom-Betriebswirt und jahrelang Offizier des Passagierschiffes „Norway“ verantwortlich für „Food and Beverage“ sitzt in der Schutzhütte am Wischhafener Fähranleger neben seinem Freund, dem 43jährigen Stahlbauschlosser Sascha K. und dessen Sohn Willi K., 25, Baumschularbeiter.
Der erste Herbststurm peitscht Regenböen um die Hütte, andere Fährbenutzer stehen notdürftigen geschützt vor dem Häuschen – die freien Plätze neben den drei Männern bleiben frei. Die Plätze bleiben frei, weil Werner, Sascha und Willi deutlich erkennbar zu einer Randgruppe unserer Gesellschaft zählen, zu der bestenfalls Beamte von Sozialämtern oder Pastoren ein ungezwungenes Verhältnis haben, während der Rest der Gesellschaft wegschaut, Angst oder Unbehagen empfindet: Sie sind „Berber“
Die äußerlichen Merkmale sind untrüglich: Leicht ungepflegte Erscheinung, Ruck- und Seesäcke, Zigaretten in der einen Hand und in der anderen Hand - wie eine Erkennungsmarke -  eine Dose Bier. Unter den Bänken sind zwei Hunde angeleint, die besten Freunde der drei Tippelbrüder, wie sie mehrfach betonen. Nicht ohne Stolz beschreiben sie ihr freies Leben, und, wenn nicht dieses fürchterliche Wetter wäre, könnte der Zuhörer in die Versuchung geraten, dieses Leben auch einmal ausprobieren zu wollen.
„Wir schlafen meistens auf der „Platte“ (unter freiem Himmel) im Sommer wie im Winter“, schwärmt Willi. Von Reisen nach Finnland erzählen die drei und von Reisen, die sie noch vor sich haben. Je länger wir sitzen und erzählen und je mehr Dosen mit ihrem unverkennbaren Zischen ihrer Leerung entgegengehen, desto mehr bröckelt das Bild von der Pfadfinderromantik, das die drei Männer anfangs darzustellen versuchten.
Schicksalsschläge haben sie aus dem bürgerlichen Leben geworfen. Werner verlor erst seinen zweijährigen Sohn durch ein Herzleiden. Dann starb seine Frau an Leukämie. Aufwendige, selbst zu zahlende  Heilversuche brachten ihn derart in Schulden, dass sein Haus zwangsversteigert wurde. Er wollte nicht mehr leben – zumindest nicht mehr unter den Umständen, die sich ihm damals boten – und begann vor nunmehr drei Jahren das Leben auf der Straße. „Davidoff habe ich geraucht und ein Pferd gehabt und nun …?“
Sascha hat die Woche auf Montage gearbeitet und musste bei einer vorzeitigen Heimkehr feststellen, dass seine Frau sich in seiner Abwesenheit mit anderen Männern tröstete. 18 Jahre ist er schon auf der Straße auf der Flucht vor seinen Erinnerungen. Seit einem Jahr hat Sohn Willi seine Arbeit in einer Baumschule aufgegeben und teilt seitdem das Leben als Tippelbruder mit seinem Vater.
Hatten sich die drei anfangs noch betont von einem bürgerlichen Leben distanziert, wird im weiteren Verlauf des Gespräches immer deutlicher, dass sie sich eigentlich nichts sehnsüchtiger wünschen, als einen Wiedereinstieg in gerade die bürgerliche Gesellschaft, der sie aus den verschiedensten Gründen einst Lebewohl gesagt hatten. „Wir würden ja gerne wieder arbeiten“, sagt Werner, „aber ohne Wohnung kriegen wir keine Arbeit und ohne Arbeit gibt es keine Wohnung.“
„Das schönste wäre jetzt eine alte Kate“, träumt Sascha laut. „Die ausbauen wie eine kleine Puppenstube, zwei von uns gehen arbeiten und einer bleibt zu Hause und kümmert sich um die Hunde und das Essen.“ Willi rundet das Bild von der „glücklichen Familie“ ab, indem er sich noch eine Frau hinzuträumt, die vielleicht auch gerade die Nase von der Straße voll hat.
Die Realität sieht anders aus. Keine Nacht, in der man richtig schlafen kann. Angst vor Übergriffen von Skins oder Neonazis machen manche Nächte zum Horrortrip. Gerade haben 15 Skins in der Kleinstadt Beverstedt den vierten ihrer Gruppe derart zugerichtet, „dass er keine Witze mehr erzählt.“ Die Zähne fehlen ihm und er liegt mit einem Schädelbruch im Krankenhaus. Die Unterkünfte der Kommunen für „Nichtsesshafte“ sind oftmals in einem derart erbärmlichen Zustand, dass an Körperpflege kaum zu denken ist. „Wir würden gerne mal duschen oder schön warm baden, aber guck´ dir die Löcher mal an, in die sie uns stecken“, ereifert sich Werner und räumt im nächsten Satz mit dem Vorurteil auf, dass Berber, wie sie es sind, keinen Wert auf Körperhygiene legen.
„14,78 Mark stünden ihnen nach dem Sozialhilfegesetz als Nichtsesshafte am Tag zu. Einige Ämter zahlen nur 5 Mark aus und die Stadt Elmshorn gibt gar nichts. Schreib´ bloß nichts Schlechtes über Freiburg, also diese Frau auf dem Amt ist echt in Ordnung“, meint Willi und erntet prompt Anspielungen seiner Kameraden auf seine Lobreden über die Sachbearbeiterin der Nordkehdinger Verwaltung. Knapp über 40 Mark für drei Männer und zwei Hunde am Tag ist nicht zu viel. „Wenn wir nicht den vollen Satz kriegen, machen zwei von uns „Sitzung“ (sie betteln) und der Dritte schaut sich nach einem einigermaßen sicheren Schlafplatz um“, erläutert Werner die Beschaffungsstrategie.
Gotteshäuser sind oft die letzte Rettung, aber die Pastoren geben nicht alle gleich. Nicht alle Hirten kümmern sich so barmherzig gerade um die heimatlosen Schafe ihrer Herde, wie eine Pastorin in Elmshorn, die nicht nur Verpflegung und Bargeld herausrückt, sondern auch noch ein annehmbares Nachtquartier zur Verfügung stellt. Andernorts gibt es ein Stück Brot oder nur den Hinweis, wo die zuständigen Amtsstuben der politischen Gemeinde zu finden sind. „Die Härte“, meint Werner, „sind die Kolonien von caritativen Verbänden oder der Kirche. Da geben sie dir ein Bett und Essen und du musst für 145 Mark im Monat plus 1 Mark pro Arbeitstag arbeiten. Die reinste Ausbeutung ist das, da gehen wir nicht rein. 200-400 Männer sind dort untergebracht und beim geringsten Regelverstoß setzen sie einen vor die Tür.“
„Nur die „Winterratten“ gehen dahin“, setzt Willi noch drauf. „Winterratten nennen wir die, die uns im Sommer den Ruf versauen und sich im Winter in diese Kolonien wie die Ratten in ihre Löcher verkriechen.“
Über eine Stunde haben wir uns in der bescheidenen Gemütlichkeit des Wetterunterstandes am Wischhafener Fähranleger unterhalten. Das Leben dieser Menschen wird bestimmt durch das Wetter, den Kampf um das täglich notwendige Geld, die Suche nach einem Schlafplatz und durch die Ablehnung durch die Gesellschaft, deren Normen sie nicht erfüllen. Es wird bestimmt durch Angst vor den Menschen unserer Gesellschaft, die sich heimatlose Berber wie Werner, Sascha und Willi als Opfer ihrer Aggressionen suchen. Beinahe hätten sie es geschafft, die nette Oma gestern. Sie wollte ihnen schon das kleine Häuschen geben, aber, wegen der Hunde hat es nicht geklappt. Beinahe wäre er wahr geworden – der Traum vom kleinen Häuschen, das sie sich zu gerne zum Puppenstübchen ausgebaut hätten.
P.S.: In Nordkehdingen schneiden sich zwei Hauptrouten der Nichtsesshaften: 1. Hamburg – Cuxhaven, 2. Dänemark – Süd- bzw. Westdeutschland. Berber, Monarchen, Tippelbrüder (nur bitte nicht Penner!) sind entlang dieser Strecken ein vertrautes Bild. Das heißt aber noch lange nicht, dass sie hier als gleichwertige Mitglieder unserer Gesellschaft betrachtet werden.

Am 14. November, gut drei  Wochen nach Erscheinen des Artikels im Stader Tageblatt, machten die drei Berber mit ihren Hunden Station in Freiburg. Dort hatte man die Männergruppe noch gut in Erinnerung. Der Zeitungsbericht hatte Emotionen für die Nichtsesshaften geweckt. Ganz unerwartet  schlug ihnen im Dorf eine Welle der Hilfsbereitschaft und Zuneigung entgegen. Überwältigt von dem, was mein Artikel bei meinen Mitbürgerinnen und Mitbürgern ausgelöst hat, verfasste ich einen weiteren Artikel für das Tageblatt, der dann am 16. November erschien.




Ja, es ist schon ein schönes Gefühl, wenn man plötzlich feststellt, dass man mit geringem Aufwand unerwartet  zum Guten in Lebensschicksale eingreift. Die Freundlichkeit des Dorfes bewog Werner, wieder sesshaft zu werden. Er bekam ein Zimmer und, was viel wichtiger war, auch eine Arbeit. Der Wirt des Kehdinger Hofes war auf der Suche nach einem Koch. Werner war auch gelernter Koch. Innerhalb kürzester Zeit verwandelte sich nicht nur die Speisekarte  des Kehdinger Hofes. Auch Werner war nach nur kurzer Zeit nicht mehr wiederzuerkennen. Bald schon galt bei den Freiburgern der Besuch des Kehdinger Hofes als Geheimtipp. Derart schmackhafte Gerichte wie dort, gab es in der gesamten Umgebung nicht. Zubereitet von einem freundlichen Koch, der sich gerne auch mal den Gästen außerhalb der Küche zeigte. Das Solarium des Hauses, das er kostenlos nutzen durfte, hat ihm schnell zu einer sommerlichen Bräune verholfen, die noch kräftiger zur Geltung kam, wenn Werner seine weiße Kochkluft trug. Werner hatte sich innerhalb weniger Wochen vom ungepflegten Tippelbruder zu einem glücklichen Arbeitnehmer verwandelt, der von allen Menschen gemocht wurde. Keine Spur verriet in seinem Gesicht, dass er Zeiten übermäßigen Alkoholgenusses hinter sich hatte. Der Kehdinger Hof warb mit einem Weihnachtsbuffet, von dem die Gäste noch Tage später schwärmten, und auch das traditionelle Grünkohlessen für 130 Segler bewältigte Werner mit Bravour und Anerkennung von den kritischen Kohlessern.
Und, fehlt da nicht noch etwas?
Ja, eine Frau hat er auch noch gefunden. Eine nette Geschäftsfrau aus Stade hatte sich in ihn verliebt und ihm ein neues Zuhause angeboten. Es ist beinahe wie im Märchen gelaufen. Während die Märchen für die Hauptpersonen immer glücklich enden, endete das Märchen vom Tippelbruder Werner da, wo es vor einigen Monaten begonnen hatte: Auf der Straße.
Werner, der nach seinem Neustart keinen Alkohol mehr angerührt hatte, war rückfällig geworden. Versuche, ihn wieder auf die richtige Spur zu bekommen, misslangen. So plötzlich, wie Werner in Freiburg aufgetaucht war, war er wieder verschwunden. Ein verzweifelter Anruf seiner Freundin bei mir verriet, dass er selbst die Person, der er am meisten verbunden war, in Ahnungslosigkeit und Ratlosigkeit zurückgelassen hatte. Trotz des guten Ansatzes, ist es Werner leider nicht gelungen, auftauchenden Problemen anders als durch Flucht zu begegnen.
Wochen später erreichte uns eine Postkarte aus Westerland auf Sylt. „Herzliche Grüße von Sylt. Arbeite hier als Saisonkoch. Gruß, Werner“, stand auf der Karte geschrieben.
„Vielleicht hat er sich ja berappelt“, war meine Hoffnung. Im Winter kam eine weitere Karte aus dem Raum Würzburg, auf der er uns mitteilte, dass er dort Arbeit hätte.
Werner, ich wünsche dir, dass du es geschafft hast, dein Leben in den Griff zu bekommen.
Seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört.
Ist es ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? Wenn er wieder auf die Straße zurückgekehrt wäre und er wäre auf der Nord-Südroute getippelt, er hätte bei uns vorbeigeschaut.
Hat er nicht.
Ist er von der Straße losgekommen? Warum hat er sich dann nicht mal gemeldet, um sich in seinem neuen Leben vorzustellen?
Ach Werner, Offizier der „Norway“, Tippelbruder und Koch im Kehdinger Hof, vielleicht meldest du dich ja doch noch einmal.


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