Sonntag, 30. Dezember 2018

Eine schöne Geschichte



Henning sieht mir über die Schulter, um zu erkennen, womit ich mich beschäftige.

 
                                               




„Ist ja cool. Hast du das Bild gemacht?“
„Ja.“
„Wie geht das denn? Ist der Baum da durchgewachsen? Gibt es ´ne Geschichte zu dem Bild?“
„Ja. Natürlich gibt es eine Geschichte dazu und ich versuche sie gerade aufzuschreiben. Fällt mir nicht so leicht. War ja 2006 als ich das Foto machte. Ich beschäftige mich gerade mit meinem Reisetagebuch und den Fotos von damals.“
„Ja, und der Stuhl? Wie geht denn so´was?“
„Hast du ein paar Minuten? Ich müsste schon ein wenig ausholen, damit ich dir die Geschichte im Groben skizzieren kann.“

Henning liebt Geschichten, auch meine.
Meistens jedenfalls.
Manchmal hasst er sie auch, immer dann nämlich, wenn ihm Zweifel am Wahrheitsgehalt kommen. Das wiederum reizt mich, gerade ihm Geschichten zu erzählen, die von Ereignissen handeln, die so oder so ähnlich geschehen sind, jedoch so phantastisch klingen, dass sie ebenso in das Reich der Märchen passen würden.

„Du lässt mich aber bitte erzählen, auch wenn es dir schwerfällt? Nicht unterbrechen, bitte, ich muss mich nämlich ganz schön konzentrieren. Ist ja schon einige Zeit her.“
„Ja klar, kennst mich doch!“
„Ja, ja, deshalb ja meine Bitte. Also 2006 waren wir mit dem Fahrrad für einige Tage im Lahema Nationalpark ca. 80 km nordöstlich von Tallin. Wir hatte Quartier im Parkhotel auf dem wunderschön restaurierten Gutshof Palmse mitten im Nationalpark. Bis das Gut mit der Unabhängigkeit Estlands 1918 enteignet wurde, gehörte es der baltischen Adelsfamilie von der Pahlen. Glaube ich jedenfalls. Auf unserem ersten Rundgang durch die gepflegte Hofanlage mit Herrenhaus, landwirtschaftlichen Wirtschaftsgebäuden, Orangerie und Park begegneten wir einem netten Herrn. Kann sein, dass er 75 war oder auch schon 10 Jahre älter. Wir kamen ins Gespräch, auf Deutsch. Herman Kaljurand, vielleicht auch Kaljuwand, so stellte er sich uns vor. Sein Deutsch erinnerte mich an Elisabeth Lissautzky, einer Baltendeutschen, die in den 60er Jahren eine Zeit in meinem Elternhaus zur Miete wohnte.
Auf die Frage, woher er so gut Deutsch könne, gab er zur Antwort, dass er zu einem Viertel oder vielleicht auch zur Hälfte deutscher Abstammung sei. Mutter und Großmutter hätten viel auf Deutsch mit ihm gesprochen. Nach 1944 dann nur noch, wenn sie alleine - unter sich sozusagen – waren. Und dann wurden sie Sowjetbürger mit estnischer Nationalität. Deutsch habe er erst wieder in der Öffentlichkeit angefangen zu sprechen, als Estland 1991 zum zweiten Mal unabhängig wurde und die ersten deutschen Touristen sich nach Palmse verirrten.
Heute würde er sich gerne ein bisschen zur bescheidenen Rente hinzuverdienen als Fremdenführer in Palmse.  Es gäbe ja schließlich niemanden sonst noch, der hier geboren wurde und so gut über das Gut und seine Geschichte Bescheid wisse.
Herman Kaljurand machte einen so netten Eindruck und wir taten, was er sich von der ersten Minute unserer Begegnung erhofft hatte: Wir engagierten ihn!  Und bereuten die 10 Euro, die ich ihm zu geben beschlossen hatte, nicht einen Moment. Selten habe ich eine derart unterhaltsame und informative Führung erlebt.“
„Und der Stuhl? Was…“
„Du wolltest mich doch nicht unterbrechen. Zum Stuhl kommen wir noch.
Ja eigentlich kann ich gleich vom Stuhl erzählen.
Am Ende der Führung durch den Gutskomplex schaute Herman, so sollten wir ihn inzwischen nennen, auf die Uhr und meinte, dass noch Zeit für einen kleinen Abendspaziergang durch den Park sei. Das kam uns gelegen, und während Herman noch von der Fischwirtschaft früherer Jahrhunderte in den zahlreichen Teichen rund ums Herrenhaus sprach, entdeckte ich diesen Stuhl etwas abseits des Weges. Während ich noch dachte, dass ein Stuhl hier im Park vom Gebüsch leicht verdeckt etwas ungewöhnlich sei, erfasste ich, dass dort, wo einst einmal eine Sitzfläche eingezogen war, ein Baum gewachsen war. Herman bemerkte, dass ich abgelenkt war, sah den Stuhl und führte uns dorthin. Tatsächlich war ein Baum mit beträchtlichem Umfang durch den Stuhl hindurchgewachsen. Während ich noch grübelte, was hier geschehen sein könnte, begann Herman Kaljuward die Geschichte von dem Stuhl zu erzählen. Ich versuche sie wiederzugeben.“

„Ich, ich ganz persönlich habe diesen Stuhl im Sommer 1944 hier abgestellt. Die Rote Armee hat Palmse kampflos besetzt, nachdem die Deutschen sich fluchtartig in Richtung Reval oder Tallin  zurückgezogen hatten. Bevor es zu sinnloser Zerstörung und Plünderung durch die Rotarmisten kommen konnte machte Oberst Jewgenni Kimowitsch Gasparow das Herrenhaus zu seinem vorübergehenden Hauptquartier. Was für ein Segen für mich und die Menschen, die hier lebten. Dieser Oberst war ein guter Mann. Er ließ den Leuten das wenige Vieh, das sie besaßen und sorgte dafür, dass die Kinder nicht hungern mussten. Der Krieg schien ihn und seine Einheit hier in Mitten des Waldes vergessen zu haben. Ich war 13 Jahre und freute mich, dass ich keine Schule hatte und der Oberst mich zu seinem persönlichen Adjutanten erklärte. Er sprach Deutsch und las oft in den Büchern, die die deutschen Offiziere bei ihrem plötzlichen Rückzug hinterlassen hatten. An einem schönen Spätsommertag bat er mich, einen der schweren Eichenstühle mit der geflochtenen Sitzfläche in den Park zu schaffen. Dort hat er dann sehr oft gesessen, gelesen, geraucht oder einfach nur in die Gegend geschaut.
Irgendwann hat man sich dann wohl in der Armeeführung daran erinnert, dass da irgendwo im Lahema noch der Oberst mit seiner Einheit liege. Die Spitze der Roten Armee stand an der Deutschen Reichsgrenze und Deutschland sollte nicht ohne den bewährten Jewgenni Kimowitsch Gasparow bezwungen werden.
Es war ein traurig herzlicher Abschied. Alle hier hatte den Oberst ins Herz geschlossen. Als er sah, dass mir die Tränen übers Gesicht liefen, meinte er, ich solle auf alles gut aufpassen. Der Stuhl könne im Park stehenbleiben und wenn Berlin gefallen sei, würde er zurückkommen und weiterlesen.

Ich habe aufgepasst.
Auch auf den Stuhl. Monat für Monat.
Berlin fiel und ich erwartete im Sommer 1945 täglich die Ankunft des Obersten.
Er kam nicht.
Das Sitzgeflecht rottete durch und fiel auf den Waldboden. Niemand interessierte sich für den Stuhl. Der Park verwilderte mehr und mehr. Irgendwann bemerkte ich den jungen Kiefertrieb, dessen Spitze schon über die Rückenlehne ragte. Die Kiefer wuchs durch den Sitzrahmen des Stuhles.
An die Rückkehr des Obersten glaubte selbst ich dann irgendwann nicht mehr.
Er ist wohl tatsächlich nie wieder hier gewesen.
2002 beaufsichtigte ich die Arbeiter, die den Auftrag hatten, die überwucherten Wege im Park freizumachen. Als einer der Arbeiter den Stuhl entdeckte, kamen wir alle hier zusammen. Als Raivo  sich anschickte den Stuhl kaputt zu treten, hielt ich ihn zurück und erzählte, dass das der Stuhl des `guten Obersten von Palmse´ sei. Von dem Obersten, dem ich im Herbst 44 versprochen hatte, auf alles acht zu geben, bis er wieder zurück sei. Niemand traute sich nach meinen Worten dieses zarte Stuhlgerippe zu zerstören. Irgendwie genießt der Stuhl hier Denkmalstatus. Und ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, ihn immer schön freizuschneiden und, wenn es gewünscht wird,
von ihm zu erzählen. Die Geschichte, wie der Baum in den Stuhl oder der Stuhl um den Baum gekommen ist.
Wie jetzt eben.
Wenn euch die Geschichte gefallen hat, erzählt sie gerne weiter.
Es gibt ja nicht viele gute Geschichten vom Krieg.“

„Ja, schön, dass wir mit Herman zusammengetroffen sind. Wobei es wohl nicht so ganz zufällig war. Herman war nicht unerfahren. Er konnte erkennen, wer aus Deutschland kommt und hatte wohl auch schnell gelernt, was wir Deutschen gerne hören.“
Henning sieht mich nachdenklich an.
„Hm, die Geschichte hättet ihr sonst nie erfahren.“
„Stimmt. Und du dann auch nicht.“
„Hast recht. Eine schöne Geschichte. Wenn du sie mir erzählt hättest und nicht Hermann,  ..“
„Was dann?“
„Ich hätte sie vielleicht nicht geglaubt.“
„Kannst mal sehen.
Henning…?“
„Ja.“
 „Seit wann gibt es wohl IKEA in Estland?“
„Weiß nicht. Wieso?“
„Siehst du die Schraube da oben an der Rückenlehne des Stuhles?“

Montag, 19. November 2018

Für Herbert und Herwart


Ich kenne den Trompeter nun schon einige Jahre. Also, so richtig gut kenne ich ihn eigentlich auch nicht. Auf jeden Fall kenne ich ihn besser als er mich.
Oder vielleicht doch nicht?
 Er, der große Meister aus Dresden, besitzt das Reetdach Haus neben der Ferienwohnung, die wir uns alljährlich im Sommer mieten. Die Wohnung liegt im ersten Stock und, ob wir wollen oder nicht, wir blicken schon beim Frühstück auf sein Grundstück und auf ihn, den großen Freund der Freikörperkultur.
Anfangs glaubte ich ja noch, dass er nicht merken würde, dass wir ihn sehen können. Über die Jahre, wir waren schon „die Stader“ für ihn und begrüßten uns zu Urlaubsbeginn wie uralte Bekannte, versuchte er nicht mehr über schwer einsichtige Pfade durch seinen Garten zu pirschen. Völlig entblößt mit schon leicht exhibitionistischer Tendenz, suchte er förmlich den Kontakt, einen kurzen Wortwechsel mit uns, den Feriengästen von nebenan.
Vorletzten Sommer war er auch wieder zeitgleich mit uns in seinem Ferienhaus nur schien er der Freikörperkultur abgeschworen zu haben. Erst später und endgültig in diesem Supersommer wurde deutlich, dass er seinem Körper nur eine kleine Pause gegönnt hatte: Es war im vorigen Sommer wohl einfach zu kalt, regnerisch und stürmisch.
Ja, dann aber in diesem Sommer war er wieder ganz der Alte. Nur wenn er zum Einkaufen oder zu einem seiner Konzerte aufbrach und an dem Tag, als wir ihn so richtig kennenlernten, fast schon Freunde wurden, war er bekleidet. Wir saßen im Garten bei unseren Vermietern als der große Meister an der Trompete zum Nachbarschaftsbesuch kam und sich zu uns an den Tisch setzte. Für einen Bruchteil einer Sekunde schloss ich die Augen und sah den großen Star mir gegenüber mit gekreuzten Beinen und splitterfasernackt. Es wollte sich gerade ein Grinsen über mein Gesicht ausbreiten als mich die Stimme des Weltmusikers wieder in die Wirklichkeit zurückholte.
„Wir haben uns doch dieses Jahr schon irgendwo an der Elbe gesehen. Wo war dat denn noch? Otterndorf?“
„Ja, das war in Otterndorf. Ich war mit einem befreundeten Ehepaar in ihrem Konzert.“
„Hat´s denn wenigsten gefallen?“
„Auf jeden Fall, es war ein schönes Erlebnis und besonders mein Freund Herbert, der einige Platten von ihnen besitzt und auch schon mehrere ihrer Konzerte miterlebt hat, schwärmte von dem Konzert in der Otterndorfer Kirche.“
„Wenn se wollen, können se nächste Woche in die Schifferkirche von Wustrow kommen. Ich gebe da ein Benefizkonzert zum Erhalt der Kirche. Ich gebe ihnen zwei Karten. Hab´immer ein Kontingent frei. Dann kriegen sie auch reservierte Plätze mit Blick zur Orgel.“
Wir nahmen das Angebot dankend an und warteten am kommenden Dienstag in der vollbesetzten Kirche gespannt auf den Konzertbeginn. Plötzlich ging ein Raunen durch die Reihen. Der große Meister mit dem schlechtsitzenden schwarzen Anzug und dickknotiger dunkler Krawatte schlurfte mehr als er ging mit seiner Trompete unterm Arm quer durch die Kirche hin zur Treppe, über die man zur Empore vor der Orgel gelangt. Seine Frisur erinnerte ein wenig an den alternden Einstein: grau, lang, wild.
Das Konzert war grandios gut. Zwei Trompeten und eine Orgel, die schon durch frühere Benefizkonzerte wieder zu schönem, vollem Klang gefunden hatte. Der große Ludwig aus Dresden machte seine Späße von der Empore und stöhnte wegen der unerträglichen Hitze selbst hier in der Kirche. Seit Wochen schon überschritt das Thermometer fast täglich die 30° Marke.
Güttler, ja, der große Güttler aus Dresden, der sich so unermüdlich und erfolgreich für den Wiederaufbau der Frauenkirche eingesetzt hatte, bat nach seinem ersten Trompetensolo sein Publikum um Nachsicht und zog sich die Krawatte über den Kopf, wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn und öffnete den Kragenknopf.
Es folgte ein Stück für Trompete und Orgel. Die Hitze setzte dem Meister bös zu. Er zog sich die Anzugjacke aus.
„Er wird doch nicht“, dachte ich, schloss die Augen und sah vor mir auf der Empore …
Ja, was sah ich denn wohl?

Die Musik setzte wieder ein und riss mich aus meinem Tagtraum. Noch darüber schmunzelnd, dass mein Urlaubsnachbar, der Güttler Ludwig, dem ich diese Karten zu verdanken hatte, nackt in der Wustrower Kirche ein Benefizkonzert gibt, sah ich, dass er nicht (oder nicht mehr) nackt war.

Das Konzert ging unspektakulär zuende. Ludwig Güttler lud zur Programmstunde.
 Ich mache mir eigentlich nichts aus Autogrammen.
Ich habe schon den Papst, Rudi Dutschke, den russischen Botschafter und Frau Blaschke, die aus dem Schmidt´s Theater auf der Reeperbahn, getroffen und von allen holte ich mir kein Autogramm. Mit Ludwig Güttler aus dem Elbvenedig Dresden sollte diese lange und glückliche Zeit ohne Autogrammabhängigkeit ein Ende finden.
Ich reihte mich also in die Schlange der Autogrammjäger ein, suchte mir zwei CD´s aus dem Köfferchen und hielt sie dem Meister zum Unterschreiben hin. Trotz der kaum erträglichen Hitze war sein Körper noch komplett bedeckt. Lediglich zwei weitere Hemdenknöpfe waren geöffnet und ließen den Blick auf die gebräunte Brust des Freikörperfreundes frei. Er blickte zu mir auf als die Reihe an mir war und sofort ging ein Erkennen über sein Gesicht.
„Ah, der Nachbar aus Stade. Gut, dass se Musik gekauft haben, gut für mich.“
Während er noch über seinen eigenen Witz lachte, fragte er mich, was er denn auf die CD´s schreiben solle.
„Auf die eine nur Ludwig Güttler, Wustrow und Datum.“
„Fertig! Und was kommt auf die andere?“
„Für meinen Freund Herbert.“
„So wie man´t spricht?“
„Ja, genau so.“
„Also schreib ich das jetzt so, in Ordnung?“
„Ja, ist schon gut.“
Ich sah ohne Brille etwas unscharf, wie er sich auf meiner CD „für Herbert“ verewigte.
Zufrieden verließ ich die Schifferkirche zu Wustrow. In der Tasche hatte ich mein erstes Autogramm. Ein Autogramm von einem leicht exhibitionistischen Trompeter der Spitzenklasse. „Für Herbert“ stand über Ludwig Güttlers Namenszug. Ich gehörte jetzt zu den Autogrammjägern. Das erste hatte ich jedenfalls.
Zumindest bis zu Herberts Geburtstag, dann nämlich sollte er die CD bekommen, mein Freund Herbert, mit dem Schriftzug „Für meinen Freund Herbert“.
„Das hat aber ganz schön gedauert.“
„Ja, aber dafür habe ich nun eine CD für Herbert mit einem Autogramm von Güttler höchstpersönlich.“
„Zeig mal her.“
Ich reiche Ulla die CD. Sie guckt ein wenig zu lang auf das Autogramm.
„Und warum steht da `Für meinen Freund Herwart´?“

Ja, so ergeht es einem eben, wenn zwei Menschen mit alten Ohren und alten Augen miteinander kommunizieren. Was soll`s, mein Freund Herbert wird sich trotzdem über die Musik freuen. Und, so ganz jung ist er ja auch nicht mehr.  Vielleicht sieht er´s nicht und wenn doch, hat er immer ein passendes Geschenk für unseren gemeinsamen Bekannten Herwart.

Schlüsselerlebnisse


Der Metronom auf dem Weg vom Hauptbahnhof nach Cuxhaven steht schon mehr als 10 Minuten auf Gleis 6 im Bahnhof Harburg. Ich sitze an einem Vierertisch, neben mir steht meine Tasche und schräg gegenüber am Fenster schläft ein junger Mann mit tief ins Gesicht gezogener Kapuze. Ein Pfiff kündigt die Weiterfahrt an. Ein Mann im besten Alter schafft es gerade noch in den Wagen. Noch ganz außer Atem lässt er sich auf den freien Platz mir gegenüber fallen. Ich lese in meinem Taschenbuch und merke erst beim zweiten Versuch meines Gegenübers, dass er mit mir spricht.
„Ist das Ihr Schlüssel? Vergessen Sie ihn nicht, wenn Sie aussteigen.“
Ich bin zwar gemeint habe jedoch nicht die geringste Ahnung, was er mit der Frage meint.
„Da, der Schlüssel da vor Ihnen, wohl ein Fahrradschlüssel.“



Und dann entdecke ich ihn auch. Er liegt ganz unscheinbar in der kleinen Mulde, die einen Getränkebehälter am Rutschen hindern soll.
„Nein, mein Schlüssel ist das nicht.“
Ich wende mich wieder meinem Buch zu und der inzwischen zur Ruhe gekommene Mann mir gegenüber verfällt in den typischen Pendlerschlaf. Erstaunlich, dass Berufspendler immer kurz vor ihrem Ausstiegsbahnhof aufwachen. In Buxtehude ist die gemeinsame Fahrt für ihn zuende. Mit einem knappen „Tschüß!“ endet unsere kurze Bekanntschaft, wir werden uns wohl nie wiedersehen.
Der junge Mann am Fenster schiebt kurz seine Kapuze zurück und schließt dann wieder seine Augen. Das war nicht sein Bahnhof.
Ab Buxtehude sitzt mir eine Frau gegenüber, vielleicht eine Verkäuferin. Sie mustert aufmerksam ihre Umgebung. Einmal begegnen sich unsere Blicke.
„Das Buch, das Sie da gerade lesen, gefällt es Ihnen?“
Ich bin etwas überrascht.
„Na, das Buch von dem Evers. Ist doch Klasse?!“
„Ja, es liest sich sehr schön.“
„Vergessen Sie nicht Ihren Schlüssel, wenn Sie aussteigen“, meint sie mit einem leichten Kopfnicken zum Schlüssel, der unter dem Buch sichtbar wurde.
„Dann stehen Sie an Ihrem Fahrrad, suchen noch den Schlüssel, dabei fährt der längst weiter nach Cuxhaven.“
Durchsage: „Nächster Halt Horneburg.“
Der Kapuzenmann quält sich an den Knien der Frau vorbei.
„Ist das Ihr Schlüssel?“ frage ich den Schlüssel in seine Richtung haltend.
Er guckt durch mich hindurch und wendet sich wortlos in Richtung Ausgang.
„Hatte der was?“ fragt mich die Frau. „Der hat ja nuscht nicht gesagt. Ausländer vielleicht?“
Dann erzählt sie mir noch, wie sie einmal ihren Fahrradschlüssel an der Ostsee im Sand verloren hatte. Über 5 Kilometer musste sie laufen, um das passende Werkzeug zum Knacken des Schlosses zu holen. Sie beschreibt mir den Weg durch den Wald so genau, dass ich immer mehr das Gefühl bekomme, den Weg zu kennen. Bei Kilometer drei ihres Berichtes endet ihre Abenteuergeschichte abrupt.
„Stade? Oh, wir sind gleich in Stade. Hätte ich fast vergessen. Sie fahren noch weiter?“
„Ja, ich muss noch bis Hemmoor.“
„Ja dann, schönen Tag noch.“

Zwei Mädchen setzen sich auf die freien Plätze an meinem Tisch. Noch nicht ganz in Hammah und ich habe ein ungefähres Bild von Nadine, einer Klassenkameradin der beiden. Wenn nur die Hälfte stimmt von dem, was ich aufschnappe, dann klaut sie, belügt ihre Eltern, ist fast jedes Wochenende betrunken, fängt mit fast jedem Jungen der Schule etwas an und postet fiese Dinge auf Facebook, „die alte Schlampe“.

Zwischen Himmelpforten und Hechthausen lerne ich Nadine kennen. Die beiden mir gegenüber haben sie am Wagenende gesehen.
„Nadine, Nadine, hier sind wir. Kann sie da sitzen?“ Das Mädchen zeigt auf den Platz neben mir.
„Ja klar!“
Ich nehme meine Tasche und stelle sie in den Gang.
Nadine setzt sich neben mich auf den Fensterplatz und ist sofort mit den beiden im regen Austausch. Dieses nette Mädchen sollte doch gerade noch so „Megascheiße“ sein. Davon merke ich nichts.
„Nächster Halt  Hemm-moor!“
Ich verstaue mein Buch, greife meine Tasche und will gehen, da spüre ich, dass etwas an meiner Jacke zieht. Nadine! Was ist das denn nun?
„Sie haben Ihren Schlüssel vergessen.“
Was klingt sie nett und dieses natürliche Lächeln.
Ich mache eine halbe Drehung zum Tisch und stecke den Schlüssel in die Jackentasche.
„Danke! Das wäre beinahe schiefgegangen.“

Seitdem reist der Schlüssel mit mir wann immer ich allein nach Hamburg fahre. Im Metronom wähle ich stets einen Platz am Tisch. Den Schlüssel deponiere ich meist in der Bechermulde und warte geduldig darauf, von Mitreisenden angesprochen zu werden. Lesestoff nehme ich nur mit, um die Zeit bis zum ersten Gespräch zu überbrücken. Langeweile während der Bahnfahrt nach Hamburg gibt es nicht mehr. Manchmal helfe ich etwas nach, wenn meine Mitreisenden nicht von sich aus fragen, ob das mein Schlüssel sei. Dann nehme ich den Schlüssel scheinheilig in die Hand und Frage:
„Ist das vielleicht Ihr Schlüssel?“
Eines Tages, wenn ich genügend Begegnungen dank meines Schlüssels habe, werde ich vielleicht einmal eine Geschichte darüber schreiben.

Nachtrag 1:
Ich komme in die Küche und sehe auf dem Tisch meinen Schlüssel liegen.
„Ach so“, sagt meine Frau, „den habe ich in deiner Hosentasche gefunden. Ist das dein Schlüssel?“
„Ja.“
„Dann steck ihn bitte ein.“

Nachtrag 2:
Nur wenige Tage später verstaue ich die Fahrräder auf dem Autofahrradträger. Weil sie eine Nacht in Berlin auf dem Träger zubringen müssen, sichere ich sie mit zwei zusätzlichen einfachen Ringschlössern. Am ersten Schloss befindet sich ein Schlüssel. Nach dem Schlüssel für das zweite Schloss suche ich gewohnheitsgemäß in meiner Hosentasche. Ich finde ihn unter meinem Schlüsselbund und schließe unsere Fahrräder zusammen. Gerade will ich den Schlüssel ins Seitenfach der Fahrertür packen, da mache ich eine erstaunliche Entdeckung.
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