Montag, 28. April 2014

Die Alternative: Hähnchen von Lisbeth Lehmann




Das Maß ist voll, jetzt reicht es! Kein Fleisch mehr aus nicht artgerechter Haltung, kein Fleisch aus Schlachthöfen mit kriminellen Strukturen und ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen, kein Fleisch mehr, von Tieren, die prophylaktisch mit Antibiotika vollgespritzt wurden! Putenfleisch isst mein Freund ja schon lange nicht mehr. Aber nun, nachdem er einen Kriminalroman über die miesen Machenschaften der Fleischproduzenten und Schlachthöfe gelesen hat, ist ihm der Appetit auch noch an Hähnchen, Schwein und Rind gründlich vergangen.

„Wie nun, bist du nun Vegetarier?“
„Nein, nicht so richtig.“
„Und, was heißt das?“
„Ich esse Fleisch, wenn ich die Garantie habe, dass die Tiere artgerecht gehalten wurden. Bio Fleisch oder das Geflügel von Lisbeth Lehmann an der Moorstrecke nach Stade. Da weiß ich, dass die Hühner noch draußen frei herumlaufen und nicht einem ungesunden Mast Plan mit wahllosem Medikamenteneinsatz unterworfen waren.“
„Du meinst die Lisbeth Lehmann hinter dem Milchviehbetrieb Grodtmann, ihr Mann heißt Gerd?“
„Ja, die meine ich. Da ist die Welt noch in Ordnung. Bei der kaufen sogar zwei Sterneköche aus Hamburg. Der eine hat sie sogar in seinem Kochbuch empfohlen. Da schmeckt das Huhn auch noch nach Huhn und nicht nur Gewürz, wie am Hähnchenwagen vor dem EDEKA Markt in Freiburg.“

Dieser plötzliche Sinneswandel machte mich schon stutzig. In Eckards Familie wurde immer viel und gerne Fleisch gegessen. Ich begann über unseren Fleischkonsum nachzudenken.
Wie hieß doch noch mal das Buch, von dem Eckard erzählt hatte? Vielleicht gibt es das ja in der Gemeindebücherei oder ich hole es mir von Eckard.

Wenige Tage nach meinem Gespräch mit Eckard musste ich auf den Hof von Hartwig von Allwörden. In einem seiner beiden Hähnchenställe sprang ständig der Schutzschalter heraus und ich war nun bestellt, den Fehler zu finden. Es passte gerade gut in den Betriebsablauf. In der Nacht zuvor war der 30 Tage dauernde Mastprozess gerade beendet. Ein abenteuerlicher Trupp von „Hühnergreifern“ hat die ganze Nacht gebraucht, um die schlachtreifen Hähnchen einzufangen und in Transportbehältnissen zu verstauen. Heute noch sollte mit der Stallreinigung und der anschließenden Desinfektion begonnen werden. In nur wenigen Tagen wiederholt sich das 30tägige Gastspiel, die Mast vom Küken zum schlachtreifen Hähnchen. Schon vor dem Stall blieb mein Blick an einem Gitter Container mit toten Hühnern haften. Hartwig bemerkte meinen Blick und meinte mich beruhigen zu müssen.
„Das ist ganz normal. Bei so vielen Tieren schaffen es eben nicht alle lebendig bis zum Schlachthof. Einige sind krank oder der Stress beim Greifen haut sie um.“
Wir kamen in den leeren Stall. Es roch muffig warm und stark nach Hähnchenmist. Auch hier einige tote Tiere.
Bewegte sich da nicht etwas?
Ich blieb stehen und sehe, wie ein erstauntes Huhn den Kopf gerade unter dem Körper eines verendeten Tieres hervorarbeitet.
„Da lebt ja noch ein Hähnchen“, stellte ich überrascht fest.
„Auch ganz normal“, meinte Hartwich, der, als er bemerkte, dass ich ihm nicht mehr folgte, wenige Schritte vor mir stehen blieb.
„Einige ertragen den Stress nicht und krepieren, andere werden ohnmächtig und wenn der ganze Zirkus hier vorbei ist, melden sie sich plötzlich wieder zurück auf den Globus. Scheintot sozusagen.“
„Und was passiert mit denen?“
„Die holt sich immer Lisbeth Lehmann, weißt doch, dahinten hinter Meinhard Grodtmann auf der linken Seite.“
„Ach so.“
Mehr fiel mir im Moment nicht ein.
Auf der Rückfahrt und noch den ganzen Abend beschäftigte mich die Frage, ob ich Eckard beim nächsten Kegeln erzählen sollte, dass er und die Sterneköche aus Hamburg bei Lisbeth Lehmann Hähnchen kauften, die das Überleben des Massenexodus in der Hähnchenschlachterei nur einer vorübergehenden Schwäche zu verdanken hatten. Bei Lisbeth durften sie sich noch  einige Tage im Auslauf  der Illusion hingeben,  dem frühen Hähnchentod für alle Zeiten entkommen zu sein.

Ja, so ist das mit den Illusionen. Nun sind es nur noch drei Tage bis zum nächsten Kegelabend, und ich weiß immer noch nicht, ob ich Eckard die  Illusion von den glücklichen Hähnchen aus Lisbeths Hühnerhof nehmen soll oder nicht.
Es sind ja noch drei Tage.

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