Das Maß ist voll, jetzt reicht es! Kein Fleisch mehr aus nicht
artgerechter Haltung, kein Fleisch aus Schlachthöfen mit kriminellen Strukturen
und ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen, kein Fleisch mehr, von Tieren, die
prophylaktisch mit Antibiotika vollgespritzt wurden! Putenfleisch isst mein
Freund ja schon lange nicht mehr. Aber nun, nachdem er einen Kriminalroman über
die miesen Machenschaften der Fleischproduzenten und Schlachthöfe gelesen hat,
ist ihm der Appetit auch noch an Hähnchen, Schwein und Rind gründlich
vergangen.
„Wie nun, bist du nun Vegetarier?“
„Nein, nicht so richtig.“
„Und, was heißt das?“
„Ich esse Fleisch, wenn ich die Garantie habe, dass die Tiere
artgerecht gehalten wurden. Bio Fleisch oder das Geflügel von Lisbeth Lehmann
an der Moorstrecke nach Stade. Da weiß ich, dass die Hühner noch draußen frei
herumlaufen und nicht einem ungesunden Mast Plan mit wahllosem Medikamenteneinsatz
unterworfen waren.“
„Du meinst die Lisbeth Lehmann hinter dem Milchviehbetrieb Grodtmann,
ihr Mann heißt Gerd?“
„Ja, die meine ich. Da ist die Welt noch in Ordnung. Bei der kaufen
sogar zwei Sterneköche aus Hamburg. Der eine hat sie sogar in seinem Kochbuch
empfohlen. Da schmeckt das Huhn auch noch nach Huhn und nicht nur Gewürz, wie
am Hähnchenwagen vor dem EDEKA Markt in Freiburg.“
Dieser plötzliche Sinneswandel machte mich schon stutzig. In Eckards
Familie wurde immer viel und gerne Fleisch gegessen. Ich begann über unseren
Fleischkonsum nachzudenken.
Wie hieß doch noch mal das Buch, von dem Eckard erzählt hatte?
Vielleicht gibt es das ja in der Gemeindebücherei oder ich hole es mir von
Eckard.
Wenige Tage nach meinem Gespräch mit Eckard musste ich auf den Hof von
Hartwig von Allwörden. In einem seiner beiden Hähnchenställe sprang ständig der
Schutzschalter heraus und ich war nun bestellt, den Fehler zu finden. Es passte
gerade gut in den Betriebsablauf. In der Nacht zuvor war der 30 Tage dauernde
Mastprozess gerade beendet. Ein abenteuerlicher Trupp von „Hühnergreifern“ hat
die ganze Nacht gebraucht, um die schlachtreifen Hähnchen einzufangen und in
Transportbehältnissen zu verstauen. Heute noch sollte mit der Stallreinigung
und der anschließenden Desinfektion begonnen werden. In nur wenigen Tagen
wiederholt sich das 30tägige Gastspiel, die Mast vom Küken zum schlachtreifen
Hähnchen. Schon vor dem Stall blieb mein Blick an einem Gitter Container mit
toten Hühnern haften. Hartwig bemerkte meinen Blick und meinte mich beruhigen
zu müssen.
„Das ist ganz normal. Bei so vielen Tieren schaffen es eben nicht alle
lebendig bis zum Schlachthof. Einige sind krank oder der Stress beim Greifen
haut sie um.“
Wir kamen in den leeren Stall. Es roch muffig warm und stark nach
Hähnchenmist. Auch hier einige tote Tiere.
Bewegte sich da nicht etwas?
Ich blieb stehen und sehe, wie ein erstauntes Huhn den Kopf gerade
unter dem Körper eines verendeten Tieres hervorarbeitet.
„Da lebt ja noch ein Hähnchen“, stellte ich überrascht fest.
„Auch ganz normal“, meinte Hartwich, der, als er bemerkte, dass ich ihm nicht mehr folgte, wenige Schritte vor mir stehen
blieb.
„Einige ertragen den Stress nicht und krepieren, andere werden
ohnmächtig und wenn der ganze Zirkus hier vorbei ist, melden sie sich plötzlich
wieder zurück auf den Globus. Scheintot sozusagen.“
„Und was passiert mit denen?“
„Die holt sich immer Lisbeth Lehmann, weißt doch, dahinten hinter
Meinhard Grodtmann auf der linken Seite.“
„Ach so.“
Mehr fiel mir im Moment nicht ein.
Auf der Rückfahrt und noch den ganzen Abend beschäftigte mich die
Frage, ob ich Eckard beim nächsten Kegeln erzählen sollte, dass er und die
Sterneköche aus Hamburg bei Lisbeth Lehmann Hähnchen kauften, die das Überleben
des Massenexodus in der Hähnchenschlachterei nur einer vorübergehenden Schwäche
zu verdanken hatten. Bei Lisbeth durften sie sich noch einige Tage im Auslauf der Illusion hingeben, dem frühen Hähnchentod für alle Zeiten
entkommen zu sein.
Ja, so ist das mit den Illusionen. Nun sind es nur noch drei Tage bis
zum nächsten Kegelabend, und ich weiß immer noch nicht, ob ich Eckard die Illusion von den glücklichen Hähnchen aus
Lisbeths Hühnerhof nehmen soll oder nicht.
Es sind ja noch drei Tage.
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