Montag, 25. August 2014

Eigentlich sind wir ja nicht neugierig



Wir haben diese Ferienwohnung über der Garage mit Boddenblick in dem wunderschönen Garten unserer Vermieter gelegen schon einige Jahre. Man kennt sich, man grüßt sich, man erkennt sich beim morgendlichen Bad im Bodden. So schwamm die blonde Rostockerin in diskretem Abstand an uns vorüber. Wir sehen in ihren Garten von unserem kleinen Balkon aus.
Wohnt sie jetzt eigentlich auf Dauer hier oder nur an den Sonnentagen?
Wir kennen ihren Namen nicht, wissen aber über unsere Vermieter, dass sie und ihr Mann beide Ruheständler sind und viel Zeit in dem von der Mutter geerbten Haus verbringen. Ja, die Rostockerin, so heißt sie nun einmal bei uns, zieht mit kräftigen Zügen durch den Bodden. Als sich ihr Blick mit dem von Ulla kreuzt, wird eine freundliche Begrüßung fällig. Und nicht nur das. Sie sucht die Bestätigung, dass sie in ihrer Vermutung, dass wir ihre Nachbarn (auf Zeit) sind, richtig liegt.
„Sie sind die Gäste von Harders, ich erkenne Sie an der Frisur.“
Ulla bestätigt ihre Vermutung. Der Rostocker trocknet sich schon im beißenden Westwind auf der Badebrücke ab.
„Ja, ich sehe Sie immer, wenn Sie auf dem Balkon sitzen.“
„Wir sehen Sie auch immer im Garten.“
„Ja denn, einen schönen Tag noch, ich muss raus.“
Natürlich wissen wir alles von den Rostockern, was man mit bloßem Auge erfassen kann. Fragte Ulla mich doch gleich bei der Ankunft:
„Hast du schon gesehen, die Rostocker haben dieses Kraut (frz. Pfeifenkraut) an ihrem Kompost weggenommen. Das sieht da jetzt ganz kahl aus.“
Ich hatte es nicht gesehen und es sieht wirklich kahl aus. Dafür habe ich am ersten Morgen einen hellblauen und einen roten Bademantel durch die Wiesen gehen sehen.
„Sieh mal, Ulla“, sagte ich zu ihr, „die Rostocker gehen vor uns baden.“

Natürlich wissen wir auch über unseren Nachbarn nach Süden Bescheid. Schon beim Einräumen unserer Ferienwohnung fiel uns auf, das der üppige Grenzbewuchs stark ausgelichtet war. Obwohl wir seinen Namen inzwischen ganz gut kennen, bleibt er für uns „Der Trompeter“. Er ist Weltklassetrompeter und hat einen Forschungsauftrag an der Uni Dresden. Wenn er nicht auf Konzertreise ist, erholt er sich in seinem Sommerhaus, direkt unter unserem Balkon.
Wir sind ja nicht neugierig, aber, was sollst du machen, wenn sich das Leben des Trompeters und seiner Gäste zum Teil genau unter unserem Balkon abspielt?
Die junge Frau ist nicht mehr die, die wir in den Vorjahren kennengelernt haben. Und die neue Frau, die da bei ihm im Haus ist? Seine neue Freundin? Nur eine Freundin oder ein Feriengast? Offene Fragen! Nun, wo sie abgereist ist, werden wir sie nicht mehr fragen können.
Hätten wir ohnehin nicht getan, sind ja nicht neugierig.
Ich denke ohnehin, dass sie nur gute Bekannte waren, sonst hätten sie sich schon ´mal beim gemeinsamen Blumenpflanzen in den Arm genommen. Haben sie nicht, oder ich habe es gerade nicht gesehen.
Ist ja auch egal, wen interessiert´s schon?
Jetzt sind da neue Leute eingezogen, kommen aus Leipzig. Eine junge Frau und noch jemand. Habe die andere Person noch nicht gesehen. Die junge Frau aber, benutzt alle Türen ins Haus und heute hat sie mehrfach allem Anschein nach nach ihrem Papa gerufen. Wer ist der Papa? Der Trompeter oder die unbekannte Person? Er soll ja einige Kinder haben, der Trompeter aus Dresden.
Nun, wo das ganze Grenzkraut gekappt ist, kreuzen sich schon mal unsere Blicke, wenn unser Nachbar das Haus durch die Haupteingangstür verlässt. Er ist ein freundlicher Kerl, grüßt zu uns hoch und ist immer gut für einen kleinen Small Talk. Als wir noch vor dem Frühstück Baden fuhren, haben wir ihn mal dort getroffen. Er hatte nichts an, wie all die anderen Frühschwimmer auch. Weltklassetrompeter hin oder her, ohne Klamotten sieht er auch nicht anders aus, als alle anderen Männer, die nicht Trompete spielen.
Hab´ ihn übrigens gleich erkannt. Auch an seiner Frisur, wie die Rostockerin Ulla erkannt hat. Ich hab´s ihm aber nicht gesagt, nur so für mich gedacht.
Erstaunlich, dieser Mann schleift seine Balkone, streicht sie und schneidet selbst die große Buchenhecke, die sein Grundstück umgibt. Das hätte er doch eigentlich nicht nötig, bei seinem Einkommen, oder?
Übrigens, er beobachtet uns auch, dachte schon wir wären am Wochenende abgereist. Angetäuscht! Wir waren nur am Samstag mit dem Auto unterwegs. Das mit der Abreise hat er mir erzählt, während ich die Fahrräder auf den Träger gepackt habe, weil wir weiter weg eine Radtour unternehmen wollten. Nun weiß er, dass wir diese Woche noch hier sind. Ein bisschen sollte man schon voneinander wissen, wenn man so dicht aufeinander wohnt.

„Unverhofft trifft sich oft!“ war seine Begrüßung, als ich ihn heute Morgen beim Brötchenholen vor dem EDEKA Markt traf. Ja, man kennt sich inzwischen. Herbert hat eine Schallplatte vom Trompeter und hat ihn auch schon im Konzert gehört. Herbert ist ein Fan von ihm und hätte sich an meiner Stelle mit großer Wahrscheinlichkeit ein Autogramm auf die Brötchentüte geben lassen.
Das habe ich nicht, obwohl, je länger ich darüber nachdenke, es wäre ein schönes Geburtstagsgeschenk für Herbert.  Auf der EDEKA Tüte: „Zum Geburtstag alles Gute, Ihr Trompeter aus Dresden!“
Das hätte schon etwas.
Für mich nicht, wie schon gesagt, mir genügt es, dass wir uns so gut kennen, der Trompeter und ich.

Heute Nachmittag hat Ulla den Trompeter in der Bioschlachterei auf dem Gutshof getroffen. Die beiden verstehen sich inzwischen schon richtig gut Er erzählt ihr, welches Fleisch er immer mit nach Dresden nimmt und einfriert. Alles! Außer Wildschwein, das kommt ihm nicht ins Haus. Warum nicht, hat Ulla vergessen zu fragen. Na ja, nächstes Jahr treffen wir ihn ja wieder. Die Bedienung ist sehr beflissen und berät ihren Kunden mit ehrfurchtsvoller Stimme. So verhalten sich Untergebene.
Der Trompeter zahlt und geht in das nebenliegende Restaurant, weil er, wie er Ulla mitteilte, noch etwas essen wolle. Kaum, dass er durch die Tür verschwunden ist, raunt die Verkäuferin Ulla über das Biofleisch hinweg zu: 
„Wissen Sie, wer das war?“
„Ja“, meinte Ulla, „der Trompeter aus Dresden.“
Das hatte doch etwas von Spielverderberei, oder?

Warum er wohl auf gar keinen Fall Wildschwein wollte? Ich hätte ihn doch fragen sollen, als er unter unserem Balkon damit begann, die Fleischpakete und ein paar andere Dinge für die Rückreise in sein Auto zu packen. Neugierige, also richtig neugierige Menschen, hätten wohl gefragt.
Aber muss man denn immer alles von seinen Nachbarn wissen?
Obwohl, das mit dem Wildschwein wäre schon ganz gut zu wissen. Da steckt doch mehr dahinter, dazu gibt es doch eine Geschichte!?
Schon jetzt beginne ich zu ahnen, dass ich die nächsten zehn Monate nicht zur Ruhe kommen werde. Wenn ich ihn dann treffe im Juli nächsten Jahres, kommt er mir nicht wieder so davon. Ich werde ihn gleich nach der Begrüßung fragen, warum er kein Wildschwein isst und, im Gegenzug, könnte ich ihm verraten, warum ich keine Hähnchen mehr von Lieschen Lehmann esse.
Das wird ihn interessieren. Er ist nämlich nicht nur berühmt. Er ist auch ein wenig neugierig.

Das ist übrigens keine Selbstverständlichkeit  zwischen Nachbarn – mit dem „gut“ kennen, es muss nicht immer so sein, wie zwischen uns und dem Trompeter.
Nur wenige Meter weiter von uns entfernt, direkt neben den Rostockern, die inzwischen höchstwahrscheinlich  längst schon für immer hier leben, urlaubt die Nienburger „Schreifamilie“. Wir kennen sie schon seit einigen Jahren. Das Haus muss ihnen gehören oder Verwandtschaft von ihnen. Das kleine Rohrdachhaus, dachte ich anfangs, hat die Familie wohl finanziell überfordert. Es gab nämlich keine Gardinen, dachte ich zumindest. Inzwischen weiß ich, dass es doch Gardinen gibt, die aber fast nie zum Einsatz kommen. So haben wir zwangsläufigen und ungewollten Einblick in deren Familienleben. Trotzdem wissen wir eigentlich nichts von ihnen. Wir sind uns nicht einmal ganz sicher ob es zwei Kinder in der Familie gibt, oder ob der zweite Blondschopf, den wir manchmal auf der Fernsehcouch sehen, vielleicht doch der Kopf der Puppe des einzigen Kindes ist. Ulla meinte, der Familie schon einmal auf dem Weg zum Bodden begegnet zu sein. Da gab es zwei blonde Mädchen. Gesichert ist das alles allerdings keineswegs. Niemand hat diese Familie in das Haus zurückkehren sehen.
Niemand von uns!
Der Eingang des Hauses kann nicht einmal von unserem Schlafzimmerfenster eingesehen werden. Ich habe es ausprobiert, als das Auto einmal nicht vor dem Haus stand. Fenster auf und den Kopf so weit raus, wie es eben gerade ging.
Nur mal so.
Man sieht übrigens auch vom Auto nur das Vorderteil, kann also nicht sehen, wer einsteigt, wer drinnen sitzt. Unsere Vermieter sind uns auch keine große Hilfe, wissen auch nichts von ihren Nachbarn. Nur, was wir auch schon wissen. Nämlich, dass alle in der Familie sich anschreien. Das muss man nicht sehen, das hört man selbst durch die meist geschlossenen Fenster. Der Vater kann das besonders gut. Das Kind – und wenn es zwei Kinder sein sollten – die Kinder können es auch schon sehr gut. Nur in einer anderen Tonlage. Die Mutter hört man nicht so oft schreien. Vermutlich hat sie dafür keine Zeit, weil sie den Urlaub überwiegend dafür nutzt, Wäsche zu waschen, die sie dann im Wohnzimmer auf einen Wäscheständer hängt um sie dann für den nächsten Waschgang nach dem Trocknen sorgfältig zusammenzufalten. Vielleicht muss sie sich im Urlaub auch einfach ein wenig vom Schreien erholen, weil sie das ja zu Hause schon immer tut, wenn sie mit den Kindern alleine ist.
Einmal wollte ich sehen, wie sie aussieht, unsere Nachbarin. Als ahnte sie, dass ich rein zufällig zu ihr rüber blickte, ließ sie nur die Ansicht ihres Rückens zu. Gemerkt haben konnte sie wirklich nichts. Niemals würde ich so auffällig aus dem Fenster schauen. Ist auch nicht nötig. Viel besser kann man in das Wohnzimmer der Schreifamilie blicken, wenn man bei uns im Badezimmer in den Spiegel sieht. Natürlich, wenn du direkt vor dem Spiegel stehst siehst du nur dich selber. Musst schon ein bisschen schräg gucken und dann siehst du glasklar, was sich da unten bei den Nienburgern abspielt. Allerdings nur spiegelverkehrt, was wiederum nicht so viel ausmacht, weil die Nienburger doch eigentlich eher uninteressant für uns sind. Für mich allemal!
„Ist dir ´mal aufgefallen, dass die Nienburger niemals draußen im Garten sind?“ fragte Ulla einmal.
Ja, das ist schon merkwürdig. Selbst bei schönstem Sommerwetter bleiben Türen und Fenster geschlossen, nichts spielt sich im Garten ab. Vielleicht haben sie zu Hause immer Garten, denke ich mir, und wollen nun im Urlaub einmal etwas richtig Anderes. Ich habe aber auch schon gemutmaßt, dass die Familie einen Gendefekt aufweist und unter einer Tageslichtunverträglichkeit leiden könnte. Das gibt es bestimmt. Andere Menschen können keine Kuhmilch ab und bekommen Pickel, wenn sie nur über ein Erdbeerbeet blicken.
Ich würde sie ja gerne einmal fragen, aber wann und wo? Man sieht sie auch hier im Dorf nicht geschweige denn am Strand. Irgendwann am späten Vormittag ist das Auto verschwunden und erst zu Zeiten, wenn unsere Kinder schon längst im Bett gelegen hätten, kommen sie wieder zurück.
Das ist doch keine Neugierde, wenn Nachbarn sich so auffällig verhalten? Da will man schon etwas mehr wissen.
Neulich meinte Ulla, sie seien wohl abgereist. Meine erste Frage war, ob denn Wäsche auf dem Ständer hängen würde.
„Eben nicht“, meinte Ulla, „das ist es ja gerade, was mich stutzig macht. Das Auto ist weg und das Wohnzimmer sieht noch unbewohnter aus, als es das ohnehin schon tat.“
„Ja, dann sind sie wohl weg.“
Warum die wohl hierher fahren in ihrem Urlaub? Nach allem, was wir von ihnen mitbekommen, müsste doch zu Hause alles viel leichter gehen. Vielleicht gibt es dort sogar einen Wäschetrockner.
Ich will mir darüber  keine Gedanken mehr machen, hab´ doch schließlich Urlaub! Sollen sie doch machen, was sie wollen.
So leicht ist das aber auch wieder nicht. Beim nächsten Klogang fällt ein Routineblick auf den Spiegel. Das gibt es doch gar nicht, da hängt wieder Wäsche auf dem Ständer, wenn auch seitenverkehrt!  

So geht man nicht mit Nachbarn um, nicht einmal mit Nachbarn, die man so wenig kennt, wie uns. Die machen sich doch überhaupt keine Gedanken, wie uns das langsam an die Nerven geht - und das im Urlaub. Also, mit Neugierde hat das nichts zu tun, wenn man ein klein wenig mehr über seine Nachbarn wissen möchte. Es ist eben einfach viel leichter sich zu erholen, wenn man weiß, mit wem es zu tun hat.

„Ulla, ist eigentlich bei den Nienburgern schon Licht an?“

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