Wir haben
diese Ferienwohnung über der Garage mit Boddenblick in dem wunderschönen Garten
unserer Vermieter gelegen schon einige Jahre. Man kennt sich, man grüßt sich,
man erkennt sich beim morgendlichen Bad im Bodden. So schwamm die blonde
Rostockerin in diskretem Abstand an uns vorüber. Wir sehen in ihren Garten von
unserem kleinen Balkon aus.
Wohnt sie
jetzt eigentlich auf Dauer hier oder nur an den Sonnentagen?
Wir kennen
ihren Namen nicht, wissen aber über unsere Vermieter, dass sie und ihr Mann
beide Ruheständler sind und viel Zeit in dem von der Mutter geerbten Haus
verbringen. Ja, die Rostockerin, so heißt sie nun einmal bei uns, zieht mit
kräftigen Zügen durch den Bodden. Als sich ihr Blick mit dem von Ulla kreuzt,
wird eine freundliche Begrüßung fällig. Und nicht nur das. Sie sucht die
Bestätigung, dass sie in ihrer Vermutung, dass wir ihre Nachbarn (auf Zeit)
sind, richtig liegt.
„Sie sind
die Gäste von Harders, ich erkenne Sie an der Frisur.“
Ulla
bestätigt ihre Vermutung. Der Rostocker trocknet sich schon im beißenden
Westwind auf der Badebrücke ab.
„Ja, ich
sehe Sie immer, wenn Sie auf dem Balkon sitzen.“
„Wir sehen
Sie auch immer im Garten.“
„Ja denn,
einen schönen Tag noch, ich muss raus.“
Natürlich
wissen wir alles von den Rostockern, was man mit bloßem Auge erfassen kann.
Fragte Ulla mich doch gleich bei der Ankunft:
„Hast du
schon gesehen, die Rostocker haben dieses Kraut (frz. Pfeifenkraut) an ihrem
Kompost weggenommen. Das sieht da jetzt ganz kahl aus.“
Ich hatte es
nicht gesehen und es sieht wirklich kahl aus. Dafür habe ich am ersten Morgen
einen hellblauen und einen roten Bademantel durch die Wiesen gehen sehen.
„Sieh mal,
Ulla“, sagte ich zu ihr, „die Rostocker gehen vor uns baden.“
Natürlich
wissen wir auch über unseren Nachbarn nach Süden Bescheid. Schon beim Einräumen
unserer Ferienwohnung fiel uns auf, das der üppige Grenzbewuchs stark
ausgelichtet war. Obwohl wir seinen Namen inzwischen ganz gut kennen, bleibt er
für uns „Der Trompeter“. Er ist Weltklassetrompeter und hat einen Forschungsauftrag
an der Uni Dresden. Wenn er nicht auf Konzertreise ist, erholt er sich in
seinem Sommerhaus, direkt unter unserem Balkon.
Wir sind ja
nicht neugierig, aber, was sollst du machen, wenn sich das Leben des Trompeters
und seiner Gäste zum Teil genau unter unserem Balkon abspielt?
Die junge
Frau ist nicht mehr die, die wir in den Vorjahren kennengelernt haben. Und die
neue Frau, die da bei ihm im Haus ist? Seine neue Freundin? Nur eine Freundin
oder ein Feriengast? Offene Fragen! Nun, wo sie abgereist ist, werden wir sie
nicht mehr fragen können.
Hätten wir
ohnehin nicht getan, sind ja nicht neugierig.
Ich denke
ohnehin, dass sie nur gute Bekannte waren, sonst hätten sie sich schon ´mal
beim gemeinsamen Blumenpflanzen in den Arm genommen. Haben sie nicht, oder ich
habe es gerade nicht gesehen.
Ist ja auch
egal, wen interessiert´s schon?
Jetzt sind
da neue Leute eingezogen, kommen aus Leipzig. Eine junge Frau und noch jemand.
Habe die andere Person noch nicht gesehen. Die junge Frau aber, benutzt alle
Türen ins Haus und heute hat sie mehrfach allem Anschein nach nach ihrem Papa
gerufen. Wer ist der Papa? Der Trompeter oder die unbekannte Person? Er soll ja
einige Kinder haben, der Trompeter aus Dresden.
Nun, wo das
ganze Grenzkraut gekappt ist, kreuzen sich schon mal unsere Blicke, wenn unser
Nachbar das Haus durch die Haupteingangstür verlässt. Er ist ein freundlicher
Kerl, grüßt zu uns hoch und ist immer gut für einen kleinen Small Talk. Als wir
noch vor dem Frühstück Baden fuhren, haben wir ihn mal dort getroffen. Er hatte
nichts an, wie all die anderen Frühschwimmer auch. Weltklassetrompeter hin oder
her, ohne Klamotten sieht er auch nicht anders aus, als alle anderen Männer,
die nicht Trompete spielen.
Hab´ ihn
übrigens gleich erkannt. Auch an seiner Frisur, wie die Rostockerin Ulla
erkannt hat. Ich hab´s ihm aber nicht gesagt, nur so für mich gedacht.
Erstaunlich,
dieser Mann schleift seine Balkone, streicht sie und schneidet selbst die große
Buchenhecke, die sein Grundstück umgibt. Das hätte er doch eigentlich nicht
nötig, bei seinem Einkommen, oder?
Übrigens, er
beobachtet uns auch, dachte schon wir wären am Wochenende abgereist. Angetäuscht!
Wir waren nur am Samstag mit dem Auto unterwegs. Das mit der Abreise hat er mir
erzählt, während ich die Fahrräder auf den Träger gepackt habe, weil wir weiter
weg eine Radtour unternehmen wollten. Nun weiß er, dass wir diese Woche noch
hier sind. Ein bisschen sollte man schon voneinander wissen, wenn man so dicht
aufeinander wohnt.
„Unverhofft
trifft sich oft!“ war seine Begrüßung, als ich ihn heute Morgen beim
Brötchenholen vor dem EDEKA Markt traf. Ja, man kennt sich inzwischen. Herbert
hat eine Schallplatte vom Trompeter und hat ihn auch schon im Konzert gehört.
Herbert ist ein Fan von ihm und hätte sich an meiner Stelle mit großer
Wahrscheinlichkeit ein Autogramm auf die Brötchentüte geben lassen.
Das habe ich
nicht, obwohl, je länger ich darüber nachdenke, es wäre ein schönes
Geburtstagsgeschenk für Herbert. Auf der
EDEKA Tüte: „Zum Geburtstag alles Gute, Ihr Trompeter aus Dresden!“
Das hätte
schon etwas.
Für mich
nicht, wie schon gesagt, mir genügt es, dass wir uns so gut kennen, der
Trompeter und ich.
Heute
Nachmittag hat Ulla den Trompeter in der Bioschlachterei auf dem Gutshof
getroffen. Die beiden verstehen sich inzwischen schon richtig gut Er erzählt
ihr, welches Fleisch er immer mit nach Dresden nimmt und einfriert. Alles!
Außer Wildschwein, das kommt ihm nicht ins Haus. Warum nicht, hat Ulla
vergessen zu fragen. Na ja, nächstes Jahr treffen wir ihn ja wieder. Die
Bedienung ist sehr beflissen und berät ihren Kunden mit ehrfurchtsvoller Stimme.
So verhalten sich Untergebene.
Der
Trompeter zahlt und geht in das nebenliegende Restaurant, weil er, wie er Ulla
mitteilte, noch etwas essen wolle. Kaum, dass er durch die Tür verschwunden
ist, raunt die Verkäuferin Ulla über das Biofleisch hinweg zu:
„Wissen Sie, wer
das war?“
„Ja“, meinte
Ulla, „der Trompeter aus Dresden.“
Das hatte
doch etwas von Spielverderberei, oder?
Warum er
wohl auf gar keinen Fall Wildschwein wollte? Ich hätte ihn doch fragen sollen,
als er unter unserem Balkon damit begann, die Fleischpakete und ein paar andere
Dinge für die Rückreise in sein Auto zu packen. Neugierige, also richtig
neugierige Menschen, hätten wohl gefragt.
Aber muss
man denn immer alles von seinen Nachbarn wissen?
Obwohl, das
mit dem Wildschwein wäre schon ganz gut zu wissen. Da steckt doch mehr
dahinter, dazu gibt es doch eine Geschichte!?
Schon jetzt
beginne ich zu ahnen, dass ich die nächsten zehn Monate nicht zur Ruhe kommen
werde. Wenn ich ihn dann treffe im Juli nächsten Jahres, kommt er mir nicht wieder
so davon. Ich werde ihn gleich nach der Begrüßung fragen, warum er kein
Wildschwein isst und, im Gegenzug, könnte ich ihm verraten, warum ich keine
Hähnchen mehr von Lieschen Lehmann esse.
Das wird ihn
interessieren. Er ist nämlich nicht nur berühmt. Er ist auch ein wenig
neugierig.
Das ist
übrigens keine Selbstverständlichkeit zwischen Nachbarn – mit dem „gut“ kennen, es
muss nicht immer so sein, wie zwischen uns und dem Trompeter.
Nur wenige
Meter weiter von uns entfernt, direkt neben den Rostockern, die inzwischen
höchstwahrscheinlich längst schon für immer hier leben, urlaubt die
Nienburger „Schreifamilie“. Wir kennen sie schon seit einigen Jahren. Das Haus
muss ihnen gehören oder Verwandtschaft von ihnen. Das kleine Rohrdachhaus,
dachte ich anfangs, hat die Familie wohl finanziell überfordert. Es gab nämlich
keine Gardinen, dachte ich zumindest. Inzwischen weiß ich, dass es doch
Gardinen gibt, die aber fast nie zum Einsatz kommen. So haben wir zwangsläufigen
und ungewollten Einblick in deren Familienleben. Trotzdem wissen wir eigentlich
nichts von ihnen. Wir sind uns nicht einmal ganz sicher ob es zwei Kinder in
der Familie gibt, oder ob der zweite Blondschopf, den wir manchmal auf der
Fernsehcouch sehen, vielleicht doch der Kopf der Puppe des einzigen Kindes ist.
Ulla meinte, der Familie schon einmal auf dem Weg zum Bodden begegnet zu sein.
Da gab es zwei blonde Mädchen. Gesichert ist das alles allerdings keineswegs.
Niemand hat diese Familie in das Haus zurückkehren sehen.
Niemand von
uns!
Der Eingang
des Hauses kann nicht einmal von unserem Schlafzimmerfenster eingesehen werden.
Ich habe es ausprobiert, als das Auto einmal nicht vor dem Haus stand. Fenster auf und den Kopf so weit raus, wie es eben gerade ging.
Nur mal so.
Man sieht
übrigens auch vom Auto nur das Vorderteil, kann also nicht sehen, wer
einsteigt, wer drinnen sitzt. Unsere Vermieter sind uns auch keine große Hilfe,
wissen auch nichts von ihren Nachbarn. Nur, was wir auch schon wissen. Nämlich,
dass alle in der Familie sich anschreien. Das muss man nicht sehen, das hört
man selbst durch die meist geschlossenen Fenster. Der Vater kann das besonders
gut. Das Kind – und wenn es zwei Kinder sein sollten – die Kinder können es
auch schon sehr gut. Nur in einer anderen Tonlage. Die Mutter hört man nicht so
oft schreien. Vermutlich hat sie dafür keine Zeit, weil sie den Urlaub
überwiegend dafür nutzt, Wäsche zu waschen, die sie dann im Wohnzimmer auf
einen Wäscheständer hängt um sie dann für den nächsten Waschgang nach dem
Trocknen sorgfältig zusammenzufalten. Vielleicht muss sie sich im Urlaub auch
einfach ein wenig vom Schreien erholen, weil sie das ja zu Hause schon immer
tut, wenn sie mit den Kindern alleine ist.
Einmal wollte
ich sehen, wie sie aussieht, unsere Nachbarin. Als ahnte sie, dass ich rein
zufällig zu ihr rüber blickte, ließ sie nur die Ansicht ihres Rückens zu.
Gemerkt haben konnte sie wirklich nichts. Niemals würde ich so auffällig aus
dem Fenster schauen. Ist auch nicht nötig. Viel besser kann man in das
Wohnzimmer der Schreifamilie blicken, wenn man bei uns im Badezimmer in den
Spiegel sieht. Natürlich, wenn du direkt vor dem Spiegel stehst siehst du nur
dich selber. Musst schon ein bisschen schräg gucken und dann siehst du
glasklar, was sich da unten bei den Nienburgern abspielt. Allerdings nur
spiegelverkehrt, was wiederum nicht so viel ausmacht, weil die Nienburger doch
eigentlich eher uninteressant für uns sind. Für mich allemal!
„Ist dir
´mal aufgefallen, dass die Nienburger niemals draußen im Garten sind?“ fragte
Ulla einmal.
Ja, das ist
schon merkwürdig. Selbst bei schönstem Sommerwetter bleiben Türen und Fenster
geschlossen, nichts spielt sich im Garten ab. Vielleicht haben sie zu Hause
immer Garten, denke ich mir, und wollen nun im Urlaub einmal etwas richtig Anderes.
Ich habe aber auch schon gemutmaßt, dass die Familie einen Gendefekt aufweist und
unter einer Tageslichtunverträglichkeit leiden könnte. Das gibt es bestimmt.
Andere Menschen können keine Kuhmilch ab und bekommen Pickel, wenn sie nur über
ein Erdbeerbeet blicken.
Ich würde
sie ja gerne einmal fragen, aber wann und wo? Man sieht sie auch hier im Dorf
nicht geschweige denn am Strand. Irgendwann am späten Vormittag ist das Auto
verschwunden und erst zu Zeiten, wenn unsere Kinder schon längst im Bett
gelegen hätten, kommen sie wieder zurück.
Das ist doch
keine Neugierde, wenn Nachbarn sich so auffällig verhalten? Da will man schon
etwas mehr wissen.
Neulich
meinte Ulla, sie seien wohl abgereist. Meine erste Frage war, ob denn Wäsche
auf dem Ständer hängen würde.
„Eben
nicht“, meinte Ulla, „das ist es ja gerade, was mich stutzig macht. Das Auto
ist weg und das Wohnzimmer sieht noch unbewohnter aus, als es das ohnehin schon
tat.“
„Ja, dann
sind sie wohl weg.“
Warum die
wohl hierher fahren in ihrem Urlaub? Nach allem, was wir von ihnen mitbekommen,
müsste doch zu Hause alles viel leichter gehen. Vielleicht gibt es dort sogar
einen Wäschetrockner.
Ich will mir
darüber keine Gedanken mehr machen, hab´
doch schließlich Urlaub! Sollen sie doch machen, was sie wollen.
So leicht
ist das aber auch wieder nicht. Beim nächsten Klogang fällt ein Routineblick
auf den Spiegel. Das gibt es doch gar nicht, da hängt wieder Wäsche auf dem
Ständer, wenn auch seitenverkehrt!
So geht man
nicht mit Nachbarn um, nicht einmal mit Nachbarn, die man so wenig kennt, wie
uns. Die machen sich doch überhaupt keine Gedanken, wie uns das langsam an die
Nerven geht - und das im Urlaub. Also, mit Neugierde hat das nichts zu tun,
wenn man ein klein wenig mehr über seine Nachbarn wissen möchte. Es ist eben
einfach viel leichter sich zu erholen, wenn man weiß, mit wem es zu tun hat.
„Ulla, ist
eigentlich bei den Nienburgern schon Licht an?“
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