Donnerstag, 24. April 2014

Das Familiengeheimnis



Opa war aus Hamburg Berne raus aufs Dorf gekommen, die Familie seines Sohnes zu besuchen. Vielleicht auch nur, um einmal wieder richtig satt zu werden. Auf dem elterlichen Hof gab es dafür eigentlich auch kaum genug, obwohl die ganz schlechte Zeit nun nach der Währungsreform gerade vorbei schien. Nicht so für Opa Henry. Genau genommen sollten sich die Zeiten für Opa noch einmal vorübergehend dramatisch verschlechtern.
Aus welchem Anlass unser Opa zu Inge Hildebrandt ins Wirtshaus ging, ist mir nicht überliefert. Sicher ist nur, dass er dort war, recht lange. Sicher ist auch, dass er nicht wusste, wie er zurückgekommen war und ganz sicher waren sich er und alle anderen aus der Familie, dass er mit seinen Zähnen aufgebrochen war und nun definitiv ohne Zähne aus seinem Rausch aufgewacht war.
Ohne Zähne zu sein ist an sich schon sehr unangenehm, sieht nicht gut aus, kannst nicht anständig sprechen und vom Essen zu reden  brauchen wir gar nicht erst anzufangen. Nun magst du vielleicht denken: „Ist doch nicht so schlimm! Wenn es ohnehin nicht so viel zu beißen gibt. Spart doch wieder Essen!“
Das kann man so auch wieder nicht sagen. Wenn du nämlich wenig zu beißen hast, kannst du ohne Zähne gar nichts beißen und das ist, versteht sich von selbst, überhaupt nicht mehr lustig.
Opa Henry war noch aus einem anderen Grund totunglücklich. Damals konnte man nicht mal eben zum Zahnarzt und drei Tage später gibt es die neuen Zähne.  Kriegsbedingt  gab es noch wenige Zahnärzte und Dentallabors. Außerdem war man froh, wenn man sein weniges Geld nicht für die Zähne anlegen musste sondern in Essen investieren konnte.
Es folgten ein zwei Tage schlechter Stimmung und Ernährung - nur mit den unterschiedlichsten Breisorten, Milch und Säften.

Und dann, noch vor Opas Abreise nach Hamburg, die große Entspannung. Mit einem Lächeln im Gesicht, das zwei strahlendweiße Zahnreihen sichtbar machte, trat der Opa in die Stube. Überglücklich berichtete er davon, wie er seine Zähne auf dem Weg zum Plumpsklo  im dunklen Keller auf dem Absatz eines Kellerfensters wiedergefunden hatte. Dabei hätte er schwören können, dass er dort schon einmal nach seinen Zähnen gesucht hatte.
Was soll´s! Hauptsache die Zähne waren wieder da.

Was Opa Henry nicht wusste: Jeden Freitag wurde der Klo Eimer auf dem Gartenland geleert. An dem Freitag, der dem Opa die Wiedervereinigung mit seinen Zähnen bescherte, tauchte das Gebiss zwischen den Rhabarber Stauden auf. Dobbertin, der die undankbare Aufgabe hatte, den „Goldeimer“ zu leeren, wusste natürlich wie alle Menschen der Hofgemeinschaft, was dem Besucher aus Hamburg widerfahren war. Für Opa Henry unsichtbar gelangten die Zähne ins Haus. Nachdem sie geschrubbt und abgekocht waren, musste nur noch ein Platz gefunden werden, an dem der zahnlose Opa ganz „zufällig“ sein Gebiss wiederfinden konnte.

Opa Henry freute sich über seine wiederhergestellte Kaufähigkeit und reiste überglücklich heim zur Oma. Zurück blieb das Familiengeheimnis. Ein Geheimnis, das mir erst viele Jahre nach dem Tod von Opa Henry und Oma Gretel durch meine  Mutter anvertraut wurde.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen