Samstag, 12. April 2014

Die Elektrosau



In meinen Kindheitserinnerungen spielten Schlachtungen bei uns auf dem Hof eine große Rolle. Der Tod von Tieren, deren Heranwachsen meine Geschwister und ich erlebten, verursachte  eine Mischung aus Schauer und Faszination. Bis heute begleiten mich Bilder von Hühnern, die mit einem kurzen Beilhieb auf dem Hauklotz ihren Kopf verloren. Die Hand unserer Mutter oder Haushaltshilfe öffnet sich um die Hühnerbeine und das enthauptete Huhn begann seinen kopflosen Tanz über den Hofplatz bis die ungesteuerten Nerven ihren Dienst gänzlich einstellten und das Tier kein Lebenszeichen mehr von sich gab.
Einige Jahre später lernte ich an meiner Hamburger Grundschule die Sage vom Seeräuber Klaus Störtebeker kennen, der sich vor seiner Hinrichtung auf dem Grasbrook ausbedungen hatte, dass alle seine Gefährten, an denen er kopflos vorübergehen konnte, die Freiheit erhalten sollten. Im Gegensatz zu meinen städtischen Schulkameraden überraschte es mich nicht, dass der gefährliche Seeräuber noch etliche seiner Spießgesellen vor dem sicheren Tod bewahrt hatte. Sie hatten eben noch nie ihrer Mutter beim Schlachten eines Huhnes zugesehen.
Von Enten und Gänsen entsinne ich keine Schlachtszenen. Ich habe nur Bilder vom Rupfen und Abflämmen der Federkiele über einer brennenden Spirituspfütze auf dem Kehrblech in Erinnerung. Die Köpfe hatten sie, anders als die Hühner und Klaus Störtebeker, noch dran. Anscheinend hat man die Tötung dieser Tiere ohne Anwesenheit von Kindern durchgeführt.
Eines der größten Ereignisse auf dem Hof war die Schlachtung eines Schweines. Tagelang liefen die Vorbereitungen. Ein Termin mit dem Schlachter musste vereinbart, Helferinnen und Helfer mussten organisiert werden, um das zerlegte Tier bis zum letzten verwertbaren Teil zu verarbeiten. Ich entsinne Frauenarme, blutrot bis fast zu den Ellenbogen vom steten umrühren des Blutes in einer großen Schüssel. Wurst wurde bereitet, in Dosen gefüllt die dann mit dem Bollerwagen zum Dorfschmied gebracht wurden. Der hatte eine Maschine, die, für mich damals unerklärlich, Deckel auf die Dosen „zaubern“ konnte. Schinken, Speckseiten und Mettwürste wurden in die Räucherkate gebracht und mit Namensschildern versehen in den Rauch gehängt. Die alte Frau Hamann, die in der Räucherkate lebte und das Buchenspanfeuer immer am Brennen hielt, hatte eine Gesichtshaut runzelig, wie die Mettwürste, die sie mit einer langen Hakenstange nach wochenlangem Räucherprozess aus dem Rauch nahm. Außer der runzeligen Haut hatte sie auch das Aroma der ihr anvertrauten Würste.
Bevor es aber so weit kam, musste das Schwein erst noch sein Leben lassen. Ein Schlachter aus dem Nachbarort reiste mit einem Satz sehr scharfer Messer an. Ich meine zu erinnern, dass das Tier, das seinen Tod ahnend ein Mordsgeschrei verursachte, mit einem Bolzenschussgerät getötete wurde. Mein Schulfreund Ulli Radke, den ich kürzlich nach über 50 Jahren wiedertraf, besteht darauf, dass der Schlachter eine Axt benutzte, um das Tier zu töten. War es einmal tot, kam das scharfe Messer zum Einsatz. Ein Schnitt durch die Kehle und ein Blutschwall ergoss sich in die bereitgehaltenen Gefäße. Ein wichtiger Rohstoff nicht nur für die beliebte Blutwurst.
Alles mordsmäßig interessant gesehen mit Kinderaugen und - völlig normal.
Das ausgeblutete Schwein nahm nun sein wohl einziges und letztes Bad in einem hölzernen Trog. Es wurde mit heißem Wasser abgebrüht und der Schlachter begann mit einem glockenförmigen, scharfen Schaber die Borsten von der Haut der Sau zu entfernen. Hat er seine Arbeit schlecht gemacht, fischte man noch Wochen und Monate später Schweineborsten aus Presskopf, Leber- oder Blutwurst. Im nächsten Schritt wurde das Schwein kopfüber an eine Leiter gehängt, die mit den oberen Holmen gegen die Hauswand lehnte. Wieder kam das scharfe Messer zum Einsatz und trennte das Schwein der Länge nach auf. Die Eingeweide fielen heraus und wurden in Wannen aufgefangen. Fast alles einschließlich der Därme fand später noch Verwendung. 

Hausschlachtung anno 1979
Hausschlachtung anno 1979
    Leben_hausschlachtung

Bis das Schwein nun weiter verarbeitet werden konnte, musste es abhängen und den Besuch des Fleischbeschauers abwarten. Der Fleischbeschauer Wille war eine „Amtsperson“ und staatlich bestellt, damit kein mit Trichinen verseuchtes Fleisch zu Lebensmitteln verarbeitet wird. Mächtig beeindruckend, wenn er von seinem Fahrrad stieg, seine Brille aufsetzte und aus seiner Holzkiste ein Mikroskop nahm und es auf einem Tisch abstellte. Mehrere kleine Fleischschippselchen wurden aufmerksam unter dem Mikroskop betrachtet. Griff Wille dann zu seinem Stempelkasten, konnten die Eltern aufatmen. Die Trichinenfreiheit wurde mit einem blauen Stempel auf der Schweinehaut bestätigt. Spuren des Stempelabdrucks tauchten manchmal Wochen später auf einem Stück Schwarte wieder im Essen auf.

Hier nun der Anlass aus dem Jahre 1956, der meiner Geschichte ihren Namen gab.
Unser Vater hatte sich schweren Herzens von seiner Vorkriegsbriefmarkensammlung getrennt, weil er dringend Geld für Investitionen in den Betrieb benötigte. Der Erlös war nicht sonderlich üppig, reichte jedoch für die Anschaffung des ersten Elektrozaunes nicht nur des Hermannhofes sondern des ganzen Dorfes. Es war wieder einmal Schlachtzeit, die Sau hing ausgenommen und glattrasiert an der Leiter und wartete auf „Doktor“ Wille, der mit Sicherheit kein Doktor war. Kaum, dass die Menschen auf dem Hof anderen Beschäftigungen nachgingen, erregte das aufgehängte Schwein das Interesse der freilaufenden Hühner. Mein Vater war es leid, die Hühner ständig vom Schwein zu verscheuchen. Er hatte ja schließlich auch noch andere Dinge zu tun. Hier kam nun der neue Elektrozaun zum Einsatz. Über alle vier Holme der Leiter stülpte unser Vater Gummistiefel zum Isolieren. Dann verband er die Sau mit der Batterie des Zaunes und beobachtete mit sichtlicher Befriedigung, wie die Hühner mit großem Gezeter und Geflatter  auf die Stromstöße reagierten, wenn sie am Schwein pickten. Die Hühner sind nicht so blöd, wie oftmals angenommen. Sie haben schnell gelernt und sich lieber wieder der Suche nach Regenwürmern zugewandt. Auch der zufriedene Bauer konnte sich neuen Beschäftigungen zuwenden.
Am späten Nachmittag kam Dr. Wille mit seinem Fahrrad und Mikroskop über das holperige Pflaster der Lindenallee auf den Hof geradelt. Zielstrebig lenkte er sein Rad um das Wohnhaus. Über die Jahre hat das Schwein immer neben dem Eingang zur Küche gehangen und so war es auch dieses Mal. Er lehnte sein Rad an die Hauswand, nahm seinen Kasten mit Mikroskop, Messer, Notizbuch und Stempel vom Gepäckträger und begann unter großer Anteilnahme einiger Kinder, die auf dem Hof spielten, mit seiner Amtshandlung. Mit elektrisierten Schweinen völlig unvertraut, machte Wille drei Anläufe, sich eine Probe aus dem Schwein zu schneiden. Zu unserer Freude zuckte er jedes Mal mit einem kleinen Aufschrei zurück. Dann verstaute er seine Utensilien wieder auf dem Fahrrad. An mich gewandt sagte er beim Aufsteigen: „Vertell dien Vadder, dat Swien foot ick nich noch mool an!“
Nur kurze Zeit später erschien mein Vater wieder und fragte, ob Dr. Wille noch nicht da gewesen sei.
„Doch“, sagte ich, „aber er hat immer „einen gewischt“ bekommen und ich soll dir sagen, dass er das Schwein nicht mehr anfasst.“
Ja, so ist das manchmal mit genialen Erfindungen. Der Strom aus dem neuen Weidezaun hat nicht nur die Hühner verjagt sondern den Fleischbeschauer gleich mit.

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