Freitag, 18. April 2014

Wäscheleine statt Weihnachtsbaum



Eine Weihnachtsgeschichte
Es muss in der Mitte der 50er Jahre gewesen sein, als sich diese Geschichte ereignete. Wir waren vier Kinder in der Familie und meine Eltern bewirtschafteten einen kleinen Bauernhof auf der Holsteinischen Geest bei Neumünster.
Das Familieneinkommen war nicht sonderlich hoch. Das spürten wir Kinder immer dann, wenn unsere Eltern am Tisch darüber beratschlagten, wie sie die Winterkleidung, Stromgeld oder eine notwendige Maschinenreparatur bezahlen sollten. Weil meine drei Schwestern und ich sehr wohl merkten, wie knapp das Geld bei den Eltern war, fielen wir alljährlich auf das vorweihnachtliche Theater unseres Vaters herein. Als wäre es heute noch so erinnere ich mich daran, wie er in der Adventszeit anfing, uns auf die schwierige finanzielle Lage hinzuweisen, in der sich die Eltern gerade zum Weihnachtsfest befanden.
Es hatte seit einigen Tagen gefroren und wir Kinder wurden bei Anbruch der Dunkelheit zum Adventskaffee hereingerufen. Feinbrot mit Butter und braunen Keksen! Kaum in der warmen Stube, gab es erst einmal eine Predigt! Der Geruch, den wir verbreiteten, machte jegliches Leugnen zwecklos. Wir hatten uns auf der zugefrorenen Jauchegrube eine Glitschbahn gebaut. Nun, in der warmen Stube, begann die gefrorene Jauche, die an unseren Hosen haftete, zu schmelzen. Gleich im Anschluss an das Rutschverbot auf der Jauchegrube für alle Zeiten setzte unser Vater sein bekannt sorgenvolles Gesicht auf und sagte mehr zur Mutter gewandt:
„Einen Tannenbaum gibt es dieses Jahr nicht. Paßvogel will schon wieder eine Mark mehr für den Baum und ich soll erst die Rechnung für die zwei Futtertröge bezahlen bevor ich Geld für einen Tannenbaum ausgebe.“
Paßvogel, unser Stellmacher, besaß ein kleines Fichtenwäldchen, in dem schon die Tannenbäume meiner Großmutter geschlagen wurden. Es ging also wieder los, ein untrügliches Zeichen, dass Weihnachten nahte, wenn unser Vater uns schonend  darauf vorbereitete, dass wir das Weihnachtsfest in diesem Jahr wohl wirklich ohne Tannenbaum feiern müssten.
„Für ein paar Tannenzweige wird es schon reichen“, meinte er nach kurzer Pause. Auch das kannten wir schon. Ute, meine etwas vorlaute Schwester, sprach aus, was der Vater als nächstes gesagt hätte.
„Ja, ja, Papa, wir wissen´s. Dann müssen wir eben wieder eine Wäscheleine durch das Weihnachtszimmer spannen, ein paar Tannenzweige, Kringel und Kerzen und Heiligabend kommen wir dann in das Weihnachtszimmer und wieder steht ein Tannenbaum da!“
Kaum war die Fröhlichkeit nach dieser Einlage verklungen, als der Vater wieder ansetzte:
„In diesem Jahr ist es anders; aber so schlecht wird es mit der geschmückten Wäscheleine auch nicht aussehen. Vielleicht klappt es ja im nächsten Jahr wieder mit einem Weihnachtsbaum.“

Es war wirklich anders in diesem Jahr – die Kinder waren für dieses Spielchen zu alt geworden. Angesteckt von der Sicherheit der Großen verloren auch wir Kleinen den Respekt vor des Vaters Neuauflage vom Fest ohne Tannenbaum. Allgemeine Heiterkeit erstickte jegliche Versuche, uns das Wäscheleinenmärchen noch einmal aufzutischen.
Es muss die Woche vor Weihnachten gewesen sein, als dann plötzlich das Weihnachtszimmer verschlossen war. Selbst das Schlüsselloch konnte nicht weiterhelfen: Es war mit einer Stanniolkugel verstopft und zusätzlich von innen verhängt.
Wäscheleine oder Tannenbaum?
Diese Frage wurde immer wieder von uns Kindern mit viel Heiterkeit erörtert. Nein, diesmal sind wir ihm nicht auf den Leim gegangen und er hat es bemerkt. Vom Vater kam seit jenem Adventsnachmittag kein Wort mehr zu dem Thema. Er hatte eben begriffen, dass wir uns nicht mehr so leicht von ihm verschaukeln ließen.
Trotz Stanniol war die Versuchung zu groß, das Schlüsselloch regelmäßig zu kontrollieren. Vielleicht ist ja doch etwas zu sehen. Am Sonntagmorgen vor dem Fest war es dann soweit: Statt Stanniol leuchtete Licht durch das Schlüsselloch! Allein nicht mutig genug, musste ich erst meine kleine Schwester Franziska holen, um mit ihr gemeinsam das Geheimnis hinter der verschlossenen Tür zu lüften. Was wir dann sahen, wirkte wie ein Schlag und trieb uns die Tränen in die Augen. Quer durch den Sichtbereich des Schlüsselloches spannte sich eine Wäscheleine mit einigen kümmerlichen Fichtenzweigen behängt und zwei oder drei Kerzen, die dem Gesetz der Schwerkraft folgend mit dem Docht zur Erde hingen.
Zur Mittagszeit fand uns die Mutter auf den Betten sitzend mit verheulten Gesichtern. Auch die großen Mädchen hatten ihren Übermut verloren. Nun war nicht nur offensichtlich, wie arm wir wirklich waren. Wir mussten uns zusätzlich mit der abscheulichen  Vorstellung abfinden, diese Weihnachten unter einer Wäscheleine feiern zu müssen. Da halfen auch die tröstenden Worte der Mutter nichts, die immer wieder beteuerte, dass wir alles versuchen würden, das Beste aus dieser Situation zu machen. Wir beruhigten uns; aber die Vorweihnachtsstimmung der anderen Jahre wollte einfach nicht aufkommen.

Dann war es endlich soweit. Nach einem bescheidenen Mittagsmahl am Weihnachtstag – am Abend sollte es ja noch das Festessen geben – mussten wir vier Kinder der Reihe nach durch die graue Zinkwanne. Eingewickelt in Decken ging es aus der warmen Waschküche über kalte Kellergänge und Treppen in unser Zimmer. Unter dem Gebläse des umgedrehten Koboldt Bohnerbesens trockneten die Haare. Ein Föhn für die Haare gab es in unserem Haushalt nicht.

Mutter trug das schwarze Kleid mit Goldfäden, das ich nur immer Weihnachten an ihr gesehen hatte. Auch wir Kinder waren mit unseren besten Kleidungsstücken herausgeputzt. So standen wir in dem dunklen Flur vor dem Weihnachtszimmer und warteten auf das Glöckchen des Christkindes, das noch gemeinsam mit unserem Vater letzte Vorbereitungen im Weihnachtszimmer traf.

„Jetzt zündet er die Kerzen an“, sagte meine Schwester Regine in der Pause zwischen zwei Weihnachtsliedern.
„Nee“, meinte die kleine Zissi, „die können doch gar nicht brennen – über Kopp!“
„Oh du fröhliche“ musste Mutter dann alleine singen, weil unsere Gedanken bei der Wäscheleine waren.

Vater und Christkind hatten ein Erbarmen mit uns, das Glöckchen klingelte. Die Doppeltür öffnete sich und vor unseren Augen strahlte ein Tannenbaum vom Fußboden bis zur Decke buntgeschmückt im Lichterglanz.
„Oh Tannenbaum“ haben wir dann alle aus vollem Herzen gesungen und manch eine Freudenträne mag den Blick auf die Geschenke unter dem Baum getrübt haben. So schön, wie in jenem Jahr, habe ich nie wieder einen Tannenbaum erlebt.

Es war das letzte Weihnachtsfest, vor dem Vater versuchte, uns mit der Wäscheleinengeschichte auf die Folter zu spannen. Bis heute vergeht jedoch kein Weihnachtsfest, ohne dass ich an die Wäscheleine im Weihnachtszimmer denken muss.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen