Montag, 14. April 2014

Unternehmer unter sich



Es ergab sich so, ganz plötzlich. Frühjahrsferien standen an und es flatterte ein Sonderangebot für den Autozug von Hamburg Altona nach Basel ins Haus. Das Angebot war zu verlockend. Noch einmal nach Süden in den Schnee ohne den Stress von 900 Kilometer Autobahn. Wir buchten den Zug und ein Quartier in einem Schigebiet mittlerer Schwierigkeit nicht weit von Basel im Bregenzer Wald.
Die Anreise erwies sich wie erhofft als relativ stressfrei mit einigen Schlafstunden in einem eigenen Schlafwagenabteil. Im Schigebiet fanden wir ein angenehmes Quartier vor, das wir allem Anschein nach allein bewohnten. Das Haus lag etwas abseits vom Hauptgebäude, in dem sich auch das Restaurant befand. Der Wirt brachte uns die 100 Meter hinüber zu unserem Zimmer, wies uns in die Besonderheiten ein und verschwand wieder.
Wir haben noch etwas geschlafen und  haben uns dann gut ausgeruht  mit der Erkundung unserer neuen Umgebung beschäftigt. Schistiefel ausleihen und kleiner Rundgang durch das Dorf. Viel gab es nicht zu sehen. So beschlossen wir das im Hausprospekt angepriesene Wellnesspaket aufzuschnüren. Alles kostenlos, im  Übernachtungspreis enthalten: Sauna, Fitnessraum mit diversen Geräten, Whirlpool! Gehört hatten wir schon von alledem, Sauna vor Jahren auch schon einmal ausprobiert; aber fast schon wieder vergessen. Wo wir leben, muss man sich anders fit halten oder bis in die Kreisstadt zum nächsten Fitnesscenter fahren. Nein, so groß war das Bedürfnis nach Kraftmaschinen und Ausdauertraining an Geräten nicht, dass wir uns dafür ins Auto setzten und auch noch Geld dafür ausgeben.
Aber hier, hier hatten wir nun alles im Haus und noch dazu kostenlos.  Wir packten uns eine Tasche mit Utensilien, von denen wir glaubten, dass wir sie auf unserem Fitnesstrip brauchen würden. In weißen, hauseigenen Bademänteln begaben wir uns  in die Wellnessebene. Ein kurzer Blick in den Kraftraum.  Die Entscheidung fiel recht leicht, wir sind ja schließlich im Urlaub und da wollen wir uns nicht abrackern. Bewegung sollten wir ja in den nächsten Tagen auf den Pisten noch in genügendem Umfang bekommen. Also begaben wir uns in einen hellen Raum mit Whirlpool. Da der Hotelleitung wohl bewusst war, dass wir nicht die einzigen Gäste sind, die nicht an dauerhafte Benutzung einer Badewanne mit Brausestrahlen gewöhnt sind, gab es eine verständliche Bedienungsanleitung.  Abfluss schließen und Wasser in gewünschter Temperatur bis zum blauen Strich am Wannenrand einlassen! Das kannten wir schon von unserer Badewanne – bis auf den blauen Strich.  Dann einsteigen und nach Wunsch die unterschiedlichen Zuläufe öffnen, die mit einstellbarer Härte den Wasserstrom auf die Haut ermöglichen, den Körper massieren und die Luftblasen und  „Whirls“ produzieren.  Soweit doch alles ganz verständlich.  Aber da stand nichts davon, ob mit und wenn ja, mit wie viel Textilien man in die Wanne steigen soll.
Nein, prüde sind wir ja eigentlich nicht, aber dieser Raum ist zugänglich für jedermann.  Wir entschieden uns vorsichtshalber für Badebekleidung. Völlig überflüssig! Während der ganzen Whirlpool Sause erschien kein Mensch. Woher auch, hatte der Wirt nicht gesagt, dass wir die einzigen Gäste im Nebenhaus seien? Nach anfänglichem Reiz lässt der Spaß ziemlich schnell nach. Wir mussten sogar den Druck der Wasserstrahlen reduzieren, weil der harte Strahl anfing, Schmerzen auf der Haut zu erzeugen.
Ganz schön, es einmal ausprobiert zu haben. Das war´s dann auch. Nachdem ich später einmal in einer Bäderausstellung gesehen habe, was so eine Massagebadewanne kostet, habe ich endgültig beschlossen, Whirlpools in die Liste der Produkte aufzunehmen, die ich mit Sicherheit in diesem Leben nicht mehr kaufen würde.
„Sauna“ steht über einer Holztür mit Glasausschnitt. Das wäre doch nun die Gelegenheit, in Ruhe auszuprobieren, wie man das Dampfbad am besten genießen kann. Ein Lämpchen links von der Tür zeigt an, dass die Sauna ihre Betriebstemperatur erreicht hatte. Etwas unbeholfen tauschten wir unsere hauseigenen Bademäntel gegen die großen ebenfalls hauseigenen Badetücher. Dann rein in die Kammer.
Ganz schön warm!
Kurze Orientierung und langsames Wiedererkennen  setzt ein. Die hölzernen Bänke in zwei oder drei unterschiedlichen Höhen, ein Ofen, der die Steine heiß hält und ein gefüllter Wassereimer mit Schöpfkelle.
Mein Gott ist das heiß!
Noch dampft hier nichts. Die Schöpfkelle, der Aufguss.  Man muss das Wasser über die heißen Steine gießen. Ich versuche es einfach einmal.
Mit Gezische und Gegurgel verwandelt sich das Wasser in Wasserdampf und umhüllt unsere schwitzenden Körper.
Ja, das war´s, so wird es gemacht!   Nach drei, vier Aufgüssen mache ich trotz der Nebelschwaden eine Entdeckung: Ein kleines, braunes Fläschchen mit Fichtennadelextrakt. Aha! Aroma in den Dampf; aber wie? Direkt auf die heißen Steine oder ins Wasser? Ich versuche es mit einem Schuss „Fichtennadel“ in die Wasserkelle. Das Ergebnis ist frappierend! Die weiße Wolke ist gesättigt vom Aroma der Fichten, bei geschlossenen Augen und eingebildetem Vogelgezwitscher könnte man sich jetzt mitten im Fichtenhochwald wähnen. Die Bronchen bedanken sich und die Schleimhäute der Nase reagieren mit der Produktion von Rotz und das, obwohl Taschentücher nicht zu der Ausstattung von Österreichischen Saunen gehören. War vielleicht doch nicht so gut – die Idee mit den Fichtennadeln.
Die Tür geht auf und ein Mann um die Fünfzig lässt ca. 85  Kilogramm auf das Lattenrost fallen.
„Ich bin der Wolfgang!“
Wir hatten uns noch nicht von dem Schreck des unerwarteten Besuchers erholt, als dieser auch schon Initiative ergriff, die Kelle in die Hand nahm und für reichlich Dampf sorgte.
Ist das so in der Sauna, dass man gleich alle duzt?
Wird wohl. Wir folgen artig seinem Beispiel  und stellen uns auch vor. Mit wohligen Grunz Lauten streckt Wolfgang sich auf dem Lattenrost, sein Lendenschurz macht sich gewollt oder ungewollt selbstständig. Wir hocken ein wenig wie die Hühner auf der Stange und bemühen uns wahrscheinlich ganz vergebens so natürlich wie möglich zu wirken. Man möchte ja auch nicht gleich als Sauna Greenhorn identifiziert werden.  Gerade hatten Puls und Atmung sich wieder einigermaßen beruhigt, als erneut die Tür aufging. Durch den Nebel erkannte ich eine blonde Frau.
„Hallo, ich bin die Christa. Mein Gott was stinkt das hier nach Fichtennadeln. Habt ihr das Zeug da drauf gekippt?“
„Äh, nein, also das roch auch schon so, als wir kamen.“
„Kann ich überhaupt nicht haben.“
„Wir auch nicht“, sagte ich, „wir haben jetzt auch genug. Was meinst du Ulla, wollen wir gehen?“
Sie hatte ebenso wenig Lust weiter mit Wolfgang und Christa die Sauna zu teilen. Kaum, dass wir draußen waren, meinte Ulla:
„Und ich dachte wir wären alleine im Haus. Und nun?“
„Nun kalt duschen und ab aufs Zimmer!“
Das war es dann fürs Erste mit Wellness.

Das Nebenhaus hatte zwar auch eine eigene Küche, weil es aber so gering ausgelastet war, blieb sie unbesetzt und wir sollten zum Essen in das Restaurant im Haupthaus kommen. Es war sternenklar und wir hasteten schnell durch die schneidende Kälte hinüber zum Restaurant. Es erwartete uns von der Einrichtung und der Gestaltung her alpenländischer Standard. Den Essensgerüchen nach zu urteilen musste das Angebot von Fastfood bis zur regionalen österreichischen Küche reichen. Ein Blick über die Karte und meine Vermutung fand sich bestätigt. Gerade wollten wir uns über unsere Essenswahl austauschen, als uns ein Pärchen vom Eingang aus fröhlich zuwinkte. Auch ohne Handtuch und bei klarer Sicht erkannte ich sofort unsere „Freunde“ aus der Sauna. Christa und Wolfgang kamen strahlend auf uns zu. Es muss doch zu schön sein, wenn man in der Fremde plötzlich auf vertraute Personen stößt, selbst wenn der Vertrautheitsgrad nahe Null  liegt. Während Wolfgang fragte, ob sie sich zu uns setzen dürften, zog er bereits einen Stuhl für sich vom Nachbartisch heran.  Er wartete weder unser „Ja bitte!“ ab noch  kümmerte es ihn, wie Christa zu einer Sitzgelegenheit kommt. Als sie sich endlich einen weiteren Stuhl vom Nachbartisch herbeigezogen hatte und saß, plapperte sie ohne das Ende von  Wolfgangs Redebeitrag abzuwarten los, um uns mitzuteilen, dass sie sich riesig freue, uns wieder zu treffen.
Es war unglaublich, wie nahe wir uns  durch die zwei gemeinsamen Saunaminuten gekommen waren. Wir wussten von den beiden lediglich die Vornamen, dass sie Saunaprofis (wir die Saunadoofis!) waren und teilweise mit einem hauseigenen Frotteetuch bekleidet waren.  Das Wort Kontaktfreudigkeit reicht bei Weitem nicht aus bei dem, was wir hier gerade erlebten. Gut, dass die Menschen, die mit mir gemeinsam bis zu 10 Minuten bei EDEKA am Fleischtresen oder an der Kasse anstehen, nicht genauso veranlagt sind, wie Christa und Wolfgang. Diese Wiedersehensfreude im Aktivmarkt am nächsten Tag würde mich total erschöpfen. Ich möchte sogar noch ein Stückchen weiter gehen: Sie würde mich überfordern.

Es gab kein Entkommen, keine Alternative. Wir mussten die beiden Kletten ertragen. Gut und schlecht zugleich war, dass wir kaum etwas zur Unterhaltung beitragen mussten bzw. konnten. Das hatte Wolfgang übernommen und dabei war es ihm ziemlich egal, ob er gerade etwas in den Mund gestopft hatte oder jemand anderes aus der Runde versuchte, etwas zur Unterhaltung beizutragen. So erfuhren wir ziemlich schnell, dass Wolfgang die Stadthalle in Wupperfeld managte. Ein zweifellos sehr verantwortlicher Job. 50 Leute hat er unter sich.
„Glaub nicht, dass der Schröder (derzeit gerade  Bundeskanzler) mit mir gerne tauschen würde.“
„Ja, der Wolfi hat seine Auszeit verdient.“
„Halt mal die Klappe, Christa, jetzt red´ ich doch gerade!“
Das Essen kam. Meine Hoffnung, dass der wasserfallartige Redefluss von Wolfgang durch die großen, blutigen Steakhappen gebremst würde, erwies sich als sehr trügerisch. Nichts konnte diesen Spitzenverdiener, inzwischen hatte er auch schon durchblicken lassen, welch königliches Gehalt der Stadtrat bereit war für sein einzigartiges Talent monatlich auszuschütten, aufhalten.
Vier Pommes in den Mund.
„50 Leute, in Spitzenzeiten auch schon einmal 70. Das ist kein Pappenstiel, will sagen, da biste nur am Rotieren.“
Ich schweifte mit meinen Gedanken weg. Da traf es mich aus heiterem Himmel, das Fragezeichen am Ende von Wolfgangs letztem Satz. Es wurde still.
„Kannst du das bitte noch einmal sagen, Wolfgang, ich habe deine Frage nicht genau verstanden?“
Er guckte mich etwas irritiert an und fragte:
„Was machst du denn so, wie viele Leute hast du unter dir?“
Dass Ulla vielleicht auch „Leute unter sich haben könnte“ kam ihm nicht einmal ansatzweise in den Sinn. Weiß der Teufel, was mich geritten hatte. Ich dachte plötzlich an die Schule, deren Leitung ich vor einem Jahr übernommen hatte, sah meine Kolleginnen, Kollegen und die Schülerschaft vor mir  und sagte:
„Ungefähr 600, Hausmeister, Reinigungskräfte in die Gesamtbelegschaft eingerechnet.“

Das hatte gesessen!  Alle waren sprachlos.
Christa immer noch, weil sie die Klappe halten sollte und es gewohnt war, zu machen, was ihr Wolfi von ihr verlangte.
Ulla, weil sie befürchtete, von mir in eine äußerst peinliche Situation gebracht zu werden.
Wolfgang, weil er nach den langen Beschreibungen seiner verantwortungsvollen, gutbezahlten Tätigkeit erst einmal verdauen musste, dass sein Gegenüber noch einmal in einer ganz anderen Liga spielt.
Und ich? Ich war auch sprachlos, nachdem mir die Antwort einfach so, völlig unbedacht herausgerutscht war. Fieberhaft arbeitete ich an einer Auflösung. Dabei kam mir ein Stück Sehne im Fleisch sehr zu Pass. Während ich mich vergebens bemühte, das Stück Fleisch mit meinen Zähnen zu zerkleinern, konnte ich Zeit schinden.
Die Geschichte als Witz auflösen? Eigentlich eine Spezialität von mir. Vielleicht hätte ich es versucht, hätte Wolfgang nicht seine Sprache wiedergefunden.
„Welche Branche?“
Ich hatte die Lösung!
„Darf ich nicht drüber reden, verstehst du doch, Wolfgang?“
„Ja, ja, verstehe ich. Konkurrenz, Konkurrenz! War auch einmal ein paar Jahre im Großhandel.  Musst nichts sagen. Aber nur mal so, ganz wage, welche Richtung?“
Ich beuge ihm meinen Kopf über meinen fast leeren Teller entgegen und hauche in verschwörerischem Ton in sein Ohr:
„Bildung und Forschung. Behältst es  aber bitte für dich, ich habe nichts gesagt.“ Zu Ulla gewandt: „Ich sage nichts mehr, ist das in Ordnung?“
„Auf gar keinen Fall sagst du noch etwas. Das war meiner Ansicht nach schon alles viel zu viel.“
Wolfgang nickte verständnisvoll mit dem Kopf wie man es von den Wackeldackeln auf der Hutablage älterer Ford oder Opel Modelle kennt. Sein Gesicht verriet allerdings, dass da noch etwas offen war zwischen uns.

Wir verabschiedeten uns ziemlich schnell von unseren „Freunden“ mit der Begründung, dass wir morgen früh auf die Piste wollten und noch ziemlich angestrengt von der langen Anreise aus Norddeutschland seien.
Draußen auf der Straße fiel Ulla über mich her.
„Sag mal, hast du sie nicht mehr alle? Warum hast du das gemacht?“
Wahrheitsgemäß antwortete ich:
„Ich weiß es selber nicht. Aber wahrscheinlich konnte ich das prahlerische Gebabbel von dem Kerl nicht ertragen und plötzlich gab es kein Zurück mehr. Ich bin ja froh, dass mir der Trick mit der Geheimhaltung noch eingefallen ist.“
Ich glaube, dass sie mich nach der ersten Aufregung ganz gut verstehen konnte.

Was wohl aus Wolfgang und Christa geworden sein mag?
Ich habe sie am nächsten Tag noch einmal vom Lift aus gesehen, wie sie sich anschickten, die rote Piste anzugehen. Der Zufall wollte es, dass wir uns nicht mehr über den Weg liefen. Wolfgang wird sicherlich im Internet oder über die IHK Stade versucht haben, herauszubekommen, welch großes Unternehmen in der Gegend der Elbfähre Wischhafen Glückstadt im Sektor Bildung und Forschung arbeitet. Vielleicht wird es ihn stutzig machen, dass er keine brauchbaren Ergebnisse gefunden hat.  Aber, soooo schlau, wie der Geschäftsführer der Stadthalle von Wupperfeld ist, wird er seine Negativrecherche dadurch erklären, dass das Unternehmen ja offensichtlich mit geheimen Aufträgen befasst ist. Ist ja logisch, dass Firmen, die  Geheimaufträge haben, nicht im Branchenbuch aufgeführt sind und dass die IHK  über derartige Betriebe keine Auskunft geben darf.

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