Donnerstag, 17. April 2014

Da beißt die Maus keinen Faden ab




Eine Weihnachtsgeschichte

Es war eines jener Weihnachtsfeste nach der schlechten Zeit, ohne dass man sagen konnte, dass die Zeiten schon gut waren. Tannenbaumschmuck, von unserem Vater mit der Laubsäge ausgesägt, und Strohsterne aus goldenem Haferstroh aus den Tagen „als es doch gar nichts gab“ – wie unsere Mutter immer wieder betonte – hatten noch ihren Platz am Weihnachtsbaum.
Im bunten Wechsel mit diesem bescheidenen, aber dennoch von der ganzen Familie geliebten Baumschmuck fanden sich noch einige Tannenbaumkugeln und bunte Vögel mit seidigem Schwanz und einer Klammer statt Füßen unter den Beinen. Die Großmutter soll sie schon aus ihrem Berliner Elternhaus mitgebracht haben.
Zu all diesem Schmuck, der mich – soweit ich zurückdenken konnte – jedes Weihnachtsfest begleitet hatte, gab es eine sensationelle Neuerung: Schokoladenkringel mit bunten Streuseln, Geleekringel in verschiedenen Farben von waldmeistergrün über himbeerrot bis bernsteingold baumelten an Zwirnsfäden von den Zweigen des Weihnachtsbaumes. Als meine drei Schwestern und ich am Heiligabend nach alter Familientradition das Lied „Oh Tannenbaum“ vor dem Baum mit seinen leuchtenden Kerzen sangen, schielten wir nicht, wie in den anderen Jahren, auf die Geschenke unter dem Baum.  Nein, dieser nach den Gaben  suchende Blick  fehlte in diesem Jahr. Etwas Anderes, bislang  uns Unbekanntes, beanspruchte unsere ganze Aufmerksamkeit. Die Augen waren geradeaus gerichtet auf die Tannenbaumkringel und mehr noch vielleicht auf die Tannenzapfen, Glocken und Pilze ummantelt von verschiedenfarbigem Stanniolpapier.
Aus der Tiefe des vom Fußboden bis zur Decke reichenden Baumes leuchtete ein Päckchen mit kleinen Schokolädchen, ein Jedes in einer anderen Farbe  verpackt, von einem goldenen Bändchen zusammengehalten.
„Oh Tannenbaum“ war verklungen, die Eltern freuten sich über die gelungene Überraschung und wir Kinder konzentrierten uns auf die uns zugedachten Päckchen. Der Weihnachtsabend nahm seinen Lauf wie in jedem Jahr. Die Geschenke wurden gegenseitig vorgeführt, glückliche Gesichter bei den Kindern und Erwachsenen. Die Mädchen verwandelten sich in Puppenmütter und ich, der einzige Junge, stellte die neuen Tiere für meinen Bauernhof hinter die vom Vater selbst gebastelten Zäune. Streifte mein Blick über den Weihnachtsbaum, blieb er ein jedes Mal am süßen Baumschmuck hängen.  Nur mir, dem Jungen, war es erlaubt all diese Kostbarkeiten aus der Nähe zu betrachten. Die Mädchen hatten in ihren damals üblichen, leichtentzündlichen Perlon Kleidern strikte Anweisung, nicht zu nah an die Tannenbaumlichter zu gehen. Unsere Mutter wurde nicht müde, zu betonen,  dass schon etliche Kinder in ihren Perlon Kleidern verbrannt sein sollten!
Gleich zu Beginn des Festessens hielt der Vater seine übliche Festrede, an deren Ende sich die Eltern sich mit ihren Weingläsern zuzuprosten pflegten. Wir Kinder taten es ihnen mit unseren saftgefüllten Gläsern nach. Bevor es in diesem Jahr aber zu dem nicht ganz ungefährlichen  Anstoßen kam – gefährlich, weil gerade wir Kinder nicht die Zartheit der Weingläser einzuschätzen wussten - , musste der Vater noch eine  sehr ernste Warnung bezüglich der Süßigkeiten im Weihnachtsbaum aussprechen.
 „Dass mir niemand etwas vom Tannenbaumschmuck nimmt“, meinte er wohl vorausahnend, welch Anziehungskraft die Süßigkeiten im Weihnachtsbaum auf uns schokoladenentwöhnte Kinder ausübte.
„Jeder soll seinen Teil bekommen, wenn wir am Altjahrsabend den Tannenbaum gemeinsam plündern.“
Die Tage verstrichen, der Altjahrsabend rückte immer näher, als alle Kinder in das Weihnachtszimmer gerufen wurden.
„Aufstellen nach Alter!“
Keiner wusste, was geschehen war. Wohl ahnten wir den Ernst der Situation. Vater marschierte vor der orgelpfeifenförmigen Reihe seiner vier Kinder auf und ab, wie einst Napoleon vor den Resten seiner ruhmreichen Armee. In der Hand hielt er eine leere Stanniolhülle an goldenem Bändchen. Der Aufdruck ließ noch gut erkennen, dass sie einmal einem Tannenzapfen aus Schokolade als Verpackung diente. Die kläglichen Überreste des einstmals prächtigen Baumschmuckes zogen in Wellenbewegungen an unseren Augen vorbei, die so typisch waren für den Gang unseres Vaters. Typisch, weil er mit seinem steifen Bein, einer ständigen Erinnerung an den nunmehr schon zehn Jahre zurückliegenden  Krieg, nicht anders laufen konnte.
„Wer sich an Gemeingut vergreift, vergeht sich an allen und verdient Strafe. Ich möchte, dass sich der Dieb unverzüglich stellt“, sprach er in theatralischem Ton und gipfelte in der Vorhersage:
„Hier beginnt eine Laufbahn, die unweigerlich im Zuchthaus enden wird!“
Wir kannten alle das Backsteingemäuer des Gefängnisses in unserer Kreisstadt und stellten uns, ein jeder überzeugt von der eigenen Unschuld, die armen Geschwister schon bei Wasser und Brot hinter Gitterstäben vor.
„Napoleons“ rastlose Wanderung endete vor der ältesten Schwester. Er fixierte sie mit seinen Augen und forderte ein Schuldgeständnis von ihr ein. Ein etwas zaghaftes aber eindeutiges „Nein“ ließ den zum Vernehmer mutierten Vater zur nächstjüngeren Tochter weiterrücken. Auch negativ!
Nun war ich an der Reihe. Welch ein Verhängnis, dass ich nie ein Grinsen unterbinden konnte, wenn es wirklich ernst wurde. Es kam, wie es kommen musste! Auf Vaters ernste Frage folgte mein Grinsen, das ganz und gar nicht meiner Stimmung entsprach. Eine Ohrfeige erst ließ das Grinsen erstarren und erlaubte mir, ein überzeugendes „Nein“ hervorzubringen. Bedingt durch das Gegrinse ließ sich nicht vermeiden, dass ein gewisser Verdacht an meiner Person haften blieb.
Die kleine Schwester heulte bereits, bevor sie befragt wurde. Sie wollte nicht in das Gefängnis und die Mutter meinte schon:
 „Lass doch, Karl!“
Nein, gleiches Recht für alle! Auch sie musste antworten und wies weinend jegliche Schuld von sich.
Mit dem lächerlichen Stanniol am Bändchen baute sich der Vater vor seiner  verschreckten Kinderschar auf. Es wurde mucksmäuschenstill. Er sah uns in die Augen und aus seinem Mund kam leicht gepresst:
„Einer muss es gewesen sein, da beißt die Maus keinen Faden ab!“
Stille, und in die Stille hinein hörte man etwas durch die Tannenzweige rauschen, am Ende landet es mit einem dumpfen Aufprall auf dem Fußboden. Wir drehten uns um. Auf dem Fußboden lag das Päckchen mit den kleinen Schokoladentäfelchen, noch sorgfältig gebündelt mit zerrissenem Bändchen.
Bewegung in den Tannenzweigen! Eine kleine graue Maus huscht über den Boden hin zu dem Schokoladenpäckchen, das ich bereits all die Tage seit dem Weihnachtsabend heimlich für mich ausgesucht hatte. Sie knabberte die Verpackung auf und begann, ohne sich durch die Familie stören zu lassen, mit dem Festessen.
„Willst du wohl!“ rief unsere Mutter und klatschte in die Hände. Erschrocken huschte das Mäuschen in die Zimmerecke und verschwand in einer Lücke zwischen Dielen und Fußbodenleiste. Ein Aufatmen ging durch die Reihe der Verdächtigten, das blitzartig in befreiende Fröhlichkeit umschlug. Nur unser Vater wollte nicht richtig mithalten. Er schien eher etwas verlegen, was so gar nicht zu dem eben noch so überlegenen Ermittler passen wollte.
War er es nicht, der gerade noch sagte: „Da beißt die Maus keinen Faden ab“?
Naja, auch Väter können sich einmal irren.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen