Eine Weihnachtsgeschichte
Es war eines jener Weihnachtsfeste nach
der schlechten Zeit, ohne dass man sagen konnte, dass die Zeiten schon gut
waren. Tannenbaumschmuck, von unserem Vater mit der Laubsäge ausgesägt, und Strohsterne
aus goldenem Haferstroh aus den Tagen „als es doch gar nichts gab“ – wie unsere
Mutter immer wieder betonte – hatten noch ihren Platz am Weihnachtsbaum.
Im bunten Wechsel mit diesem
bescheidenen, aber dennoch von der ganzen Familie geliebten Baumschmuck fanden
sich noch einige Tannenbaumkugeln und bunte Vögel mit seidigem Schwanz und
einer Klammer statt Füßen unter den Beinen. Die Großmutter soll sie schon aus
ihrem Berliner Elternhaus mitgebracht haben.
Zu all diesem Schmuck, der mich – soweit
ich zurückdenken konnte – jedes Weihnachtsfest begleitet hatte, gab es eine
sensationelle Neuerung: Schokoladenkringel mit bunten Streuseln, Geleekringel
in verschiedenen Farben von waldmeistergrün über himbeerrot bis bernsteingold
baumelten an Zwirnsfäden von den Zweigen des Weihnachtsbaumes. Als meine drei
Schwestern und ich am Heiligabend nach alter Familientradition das Lied „Oh
Tannenbaum“ vor dem Baum mit seinen leuchtenden Kerzen sangen, schielten wir
nicht, wie in den anderen Jahren, auf die Geschenke unter dem Baum. Nein, dieser nach den Gaben suchende Blick fehlte in diesem Jahr. Etwas Anderes,
bislang uns Unbekanntes, beanspruchte
unsere ganze Aufmerksamkeit. Die Augen waren geradeaus gerichtet auf die
Tannenbaumkringel und mehr noch vielleicht auf die Tannenzapfen, Glocken und
Pilze ummantelt von verschiedenfarbigem Stanniolpapier.
Aus der Tiefe des vom Fußboden bis zur
Decke reichenden Baumes leuchtete ein Päckchen mit kleinen Schokolädchen, ein
Jedes in einer anderen Farbe verpackt,
von einem goldenen Bändchen zusammengehalten.
„Oh Tannenbaum“ war verklungen, die
Eltern freuten sich über die gelungene Überraschung und wir Kinder
konzentrierten uns auf die uns zugedachten Päckchen. Der Weihnachtsabend nahm
seinen Lauf wie in jedem Jahr. Die Geschenke wurden gegenseitig vorgeführt,
glückliche Gesichter bei den Kindern und Erwachsenen. Die Mädchen verwandelten
sich in Puppenmütter und ich, der einzige Junge, stellte die neuen Tiere für
meinen Bauernhof hinter die vom Vater selbst gebastelten Zäune. Streifte mein
Blick über den Weihnachtsbaum, blieb er ein jedes Mal am süßen Baumschmuck
hängen. Nur mir, dem Jungen, war es
erlaubt all diese Kostbarkeiten aus der Nähe zu betrachten. Die Mädchen hatten
in ihren damals üblichen, leichtentzündlichen Perlon Kleidern strikte
Anweisung, nicht zu nah an die Tannenbaumlichter zu gehen. Unsere Mutter wurde
nicht müde, zu betonen, dass schon
etliche Kinder in ihren Perlon Kleidern verbrannt sein sollten!
Gleich zu Beginn des Festessens hielt
der Vater seine übliche Festrede, an deren Ende sich die Eltern sich mit ihren
Weingläsern zuzuprosten pflegten. Wir Kinder taten es ihnen mit unseren
saftgefüllten Gläsern nach. Bevor es in diesem Jahr aber zu dem nicht ganz
ungefährlichen Anstoßen kam –
gefährlich, weil gerade wir Kinder nicht die Zartheit der Weingläser
einzuschätzen wussten - , musste der Vater noch eine sehr ernste Warnung bezüglich der Süßigkeiten
im Weihnachtsbaum aussprechen.
„Dass
mir niemand etwas vom Tannenbaumschmuck nimmt“, meinte er wohl vorausahnend,
welch Anziehungskraft die Süßigkeiten im Weihnachtsbaum auf uns
schokoladenentwöhnte Kinder ausübte.
„Jeder
soll seinen Teil bekommen, wenn wir am Altjahrsabend den Tannenbaum gemeinsam
plündern.“
Die Tage verstrichen, der
Altjahrsabend rückte immer näher, als alle Kinder in das Weihnachtszimmer
gerufen wurden.
„Aufstellen nach Alter!“
Keiner wusste, was geschehen war.
Wohl ahnten wir den Ernst der Situation. Vater marschierte vor der
orgelpfeifenförmigen Reihe seiner vier Kinder auf und ab, wie einst Napoleon
vor den Resten seiner ruhmreichen Armee. In der Hand hielt er eine leere
Stanniolhülle an goldenem Bändchen. Der Aufdruck ließ noch gut erkennen, dass
sie einmal einem Tannenzapfen aus Schokolade als Verpackung diente. Die
kläglichen Überreste des einstmals prächtigen Baumschmuckes zogen in
Wellenbewegungen an unseren Augen vorbei, die so typisch waren für den Gang
unseres Vaters. Typisch, weil er mit seinem steifen Bein, einer ständigen
Erinnerung an den nunmehr schon zehn Jahre zurückliegenden Krieg, nicht anders laufen konnte.
„Wer sich an Gemeingut vergreift,
vergeht sich an allen und verdient Strafe. Ich möchte, dass sich der Dieb
unverzüglich stellt“, sprach er in theatralischem Ton und gipfelte in der
Vorhersage:
„Hier beginnt eine Laufbahn, die
unweigerlich im Zuchthaus enden wird!“
Wir kannten alle das Backsteingemäuer
des Gefängnisses in unserer Kreisstadt und stellten uns, ein jeder überzeugt
von der eigenen Unschuld, die armen Geschwister schon bei Wasser und Brot
hinter Gitterstäben vor.
„Napoleons“ rastlose Wanderung endete
vor der ältesten Schwester. Er fixierte sie mit seinen Augen und forderte ein
Schuldgeständnis von ihr ein. Ein etwas zaghaftes aber eindeutiges „Nein“ ließ
den zum Vernehmer mutierten Vater zur nächstjüngeren Tochter weiterrücken. Auch
negativ!
Nun war ich an der Reihe. Welch ein
Verhängnis, dass ich nie ein Grinsen unterbinden konnte, wenn es wirklich ernst
wurde. Es kam, wie es kommen musste! Auf Vaters ernste Frage folgte mein
Grinsen, das ganz und gar nicht meiner Stimmung entsprach. Eine Ohrfeige erst
ließ das Grinsen erstarren und erlaubte mir, ein überzeugendes „Nein“
hervorzubringen. Bedingt durch das Gegrinse ließ sich nicht vermeiden, dass ein
gewisser Verdacht an meiner Person haften blieb.
Die kleine Schwester heulte bereits,
bevor sie befragt wurde. Sie wollte nicht in das Gefängnis und die Mutter
meinte schon:
„Lass doch, Karl!“
Nein, gleiches Recht für alle! Auch
sie musste antworten und wies weinend jegliche Schuld von sich.
Mit dem lächerlichen Stanniol am
Bändchen baute sich der Vater vor seiner
verschreckten Kinderschar auf. Es wurde mucksmäuschenstill. Er sah uns
in die Augen und aus seinem Mund kam leicht gepresst:
„Einer muss es gewesen sein, da beißt
die Maus keinen Faden ab!“
Stille, und in die Stille hinein hörte
man etwas durch die Tannenzweige rauschen, am Ende landet es mit einem dumpfen
Aufprall auf dem Fußboden. Wir drehten uns um. Auf dem Fußboden lag das
Päckchen mit den kleinen Schokoladentäfelchen, noch sorgfältig gebündelt mit
zerrissenem Bändchen.
Bewegung in den Tannenzweigen! Eine
kleine graue Maus huscht über den Boden hin zu dem Schokoladenpäckchen, das ich
bereits all die Tage seit dem Weihnachtsabend heimlich für mich ausgesucht
hatte. Sie knabberte die Verpackung auf und begann, ohne sich durch die Familie
stören zu lassen, mit dem Festessen.
„Willst du wohl!“ rief unsere Mutter
und klatschte in die Hände. Erschrocken huschte das Mäuschen in die Zimmerecke
und verschwand in einer Lücke zwischen Dielen und Fußbodenleiste. Ein Aufatmen
ging durch die Reihe der Verdächtigten, das blitzartig in befreiende
Fröhlichkeit umschlug. Nur unser Vater wollte nicht richtig mithalten. Er
schien eher etwas verlegen, was so gar nicht zu dem eben noch so überlegenen
Ermittler passen wollte.
War er es nicht, der gerade noch
sagte: „Da beißt die Maus keinen Faden ab“?
Naja, auch Väter können sich einmal
irren.
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