Roseneck Klinik Februar 2011
Ein extraterrestrisches Wesen schickt seinen Wochenbericht
an einen Stern in weit entfernten, den Menschen unbekannten Galaxien.
Am 24. Februar 2011 nach Rechnung
der Erdbewohner bin ich nahe meines Einsatzortes inmitten einer größeren
Wasserfläche, sie sagen Chiemsee zu dieser Wasserfläche, auf einem Erdfleck mit
großem Haus gelandet. Nach den Koordinaten musste mein Einsatzort die
Ansammlung von Lichtern hinter der Wasserfläche sein. Meine Klonung ist noch
ein wenig fehlerhaft aber mit dem Korrekturprogramm gelingt die Annäherung an
die Menschen immer mehr. Ich habe nach einem Rundgang bemerkt, dass mein
Landepunkt auf einer Insel liegt. Erst am nächsten Morgen konnte ich mit einem
Wasserüberwinder (sie sagen Schiff, Ausflugsdampfer und Boot dazu, sie scheinen
sich noch nicht ganz auf einen Begriff fest gelegt zu haben) nach Prien, meinem
Einsatzort übersetzen.
Dank der guten Vorarbeiten fand ich schnell zur Roseneck
Klinik. Wir hatten Recht, es handelt sich um einen Bau so ähnlich wie bei uns
die Waben der Arbeitsdrohnen. Viele Kammern und in jeder Kammer leben 1-2
Menschen.
Aber nun der Reihe nach.
Draußen vor der Tür standen Menschen mit Rauchteilen in der
Hand. Soweit ich sehen konnte Vertreter beider Geschlechter. Einigen war sehr
kalt. Übrigens die weiße Farbe, die wir auf den Bildern gesehen haben, ist
wirklich gefrorenes Wasser, wie unsere Abt. Ferne Planeten vermutet hatte. In
der Eingangshalle viel Bewegung. Viele Menschen liefen ohne sichtbaren Plan auf
und ab. Viele trugen Wasserflaschen, Papiere oder Schlüssel in den Händen.
Als ich mit meinem Koffer in der Halle stand, kam eine, ich
vermute weibliche Person, in grauem Anzug auf mich zu und meinte, ich müsse an
den Tresen mit Schiebefenster. Hier wurde ich registriert. Gute Arbeit von
unseren Leuten. Ich war dort bereits wie geplant in den Listen unter Tinnitus
eingetragen. Ich musste einige Fragebögen ausfüllen und man machte mich auf
Regeln aufmerksam, die unseren Diensten bis dahin unbekannt waren.
Falls Ersatz kommt, ihr findet mich unter Nummer 137,
Station A5. Dieser Code kennzeichnet die einzelnen Wohnwaben, sie sagen auch
„Zimmer“ dazu. Ich werde diesen Fachterminus zukünftig auch gebrauchen.
Auf dem Zentralerschließungsflur
meines Wabengeschosses (Flur oder Station) gibt es eine Sitzecke, sie sagen
Kanzel dazu. Die Kanzel ist von kleinen Zellen umgeben in die pausenlos
Menschen in weißen Kitteln verschwinden und geschäftig wieder herauseilen. Ich
kann kein System erkennen. Aus einer Glaszelle heraus beobachten mehrere
Weißkittel die Menschen in der Kanzel. Weißkittel haben hier eine ganz
besondere Rolle. Ich habe keinen. Warum nicht weiß ich auch nicht. Weißkittel
sagen immer, was man machen muss. Weißkittel und Weißkittel ist aber nicht das
gleiche. Es gibt Weißkittel und Weißkittel, die mehr zu sagen haben. Männer und
Frauen stecken in den Kitteln, nach meinem Eindruck gibt es mehr Frauen in
Weißkitteln. In den Zellen der Weißkittel müssen sich außerordentliche Werte
befinden. Kaum, dass sie den Raum verlassen, schließen sie ab. Dabei
verursachen sie starke Geräusche und gucken immer um sich, als fürchteten sie,
nicht bemerkt zu werden.
Während ich mich über meinen Flur bewegte kamen mir ständig
Menschen entgegen, die mir die Hand gaben und vermutlich ihren Namenscode
nannten. Ich habe dann auch von meinem Namen Gebrauch gemacht, ihn immer wieder
rausgeschleudert bevor mir die nächste Hand entgegengestreckt wurde. Sie hießen
Rolf, Astrid, Hubert, Richard, Walter, Bernie, Torsten, Nadja, Tina, Uschi,
Veronika, Steffi, Peter, Corinna, Stefan, Paul, Sibylle, Ariane, Amelie, …
Ein Weißkittel, unterer Dienstgrad, ich sollte ihn Schulze,
Herrn Schulze nennen, führte mich zu meiner Wabenzelle und ließ mich dort mit
meinem Koffer allein. Kommen Sie bitte in 30 Minuten ins Büro. Er meinte die
Glaszelle an der Kanzel. Meine Schlafwabe, pardon, mein Zimmer, war im
Grundsatz so, wie ich es im Vorbereitungsmodell kennen gelernt hatte.
Schlaffläche, Sitzgestell, Ablageplatte und die große Kleiderkiste. In einer
Ecke befinden sich abgetrennt die Reinigungseinrichtung und das Becken für die
Körperflüssigkeiten und Exkremente, die wir so nicht haben. Ich habe das Becken
ausprobiert. Sitzt sich nicht besonders gut.
Dreißig Minuten vergangen. Ich verschließe mein Zimmer. Die
Temperaturen sind erheblich höher als mir vor der Reise mitgeteilt wurde,
besonders im Flur. Bis zum Glasbüro sind es nur wenige Schritte. Kommen Sie
herein Herr Petersen. Wieder Fragen und Papiere und noch ein Foto, damit, so
Herr Schulze, damit alle Weißkittel wissen, wer neu ist auf der Station. Hier
bleibt man nämlich nur unbestimmte Zeit. Ich habe noch nicht herausgefunden,
wie lange hier die Verweildauer ist. Ich habe inzwischen schon von völlig
unterschiedlichen Zeiten gehört. Die Weißkittel haben damit zu tun.
Anschließend musste ich in das Weißkittelzimmer neben dem Glasbüro. Eine junge
Frau unterhielt sich mit mir und fragte nach meinem Befinden. Sie gehörte
sicherlich zu den höherrangigen Weißkitteln. Ich musste meine Tabletten abgeben
und bekam einen kleinen Becher und ein Blatt Papier. Am nächsten Tag sollte ich
mich in einem Zimmer melden und Körperflüssigkeiten abgeben.
Es war nicht so einfach mit der Körperflüssigkeit. Ist es
schon ganz schön schwer allein das kleine Gefäß zu treffen, gibt es noch
weitere, verschärfte Auflagen. Nüchtern! Kein Alkohol und keine Mahlzeiten ab
22 Uhr am Vorabend. Soweit noch ganz leicht. Aber nun kommt´s:
„Wir benötigen von Ihnen eine Probe aus dem sogenannten Mittelstrahl. Dazu bitte vor dem morgendlichen
Wasserlassen Hände und Genitalbereich mit Wasser und Seife gründlich reinigen.
Erst etwas Urin in die Toilette
entleeren, dann einen Teil des Urins in dem beigefügten Becher
auffangen, den Rest [möglichst] wiederum in die Toilette entleeren.“
MZ: Hier standen schon mehrere Männer und Frauen. Sie trugen
alle gleichgroße Plastikpötte mit grünem Deckel und der gelben
Körperflüssigkeit. Nach einiger Zeit konnte ich das Gefäß loswerden und musste
in einen Raum, in dem drei Personen gleichzeitig rote Körperflüssigkeit (Blut) aus
der Armbeuge abgezapft wurde. Obwohl ich in den letzten Wochen schon gut
vorbereitet worden war, fiel es mir nicht leicht. Zwei junge Frauen tauschten
sich über ihre Unerfahrenheit im Blutzapfen aus. Auf Nachfrage stellte sich heraus,
dass sie gerade am Anfang ihrer beruflichen Karriere standen und erst seit zwei
Tage im Zapfteam arbeiten.
In einigen Zimmern müssen zwei Patienten (Irdische) leben.
Sie scheinen dazu zu neigen, die Zellenzuweisung und –belegung abzulehnen. In
einer Hausinformation steht dazu:
„In letzter Zeit ist es immer wieder vorgekommen, dass
Patienten ein Doppelzimmer durch Anbringen zusätzlicher Vorhänge, Bettlaken, Styroporplatten, Holzbretter oder Verändern des
Mobiliars etc. in ein Einzelzimmer umgewandelt haben.“
Dies ist nicht
zulässig!!!
Es folgt die Drohung, dass die Mitarbeiter der Haustechnik
in den nächsten Tagen wieder entsprechende Kontrollen der Patientenzimmer
vornehmen und alle eigenmächtig
angebrachten Raumteiler in den Doppelzimmern entfernen.
Bei Fragen wenden Sie sich bitte an den Bezugstherapeuten!
Ich werde Frau Gietl fragen, ob man eine Einraumzelle in ein
Zweiraumappartement verwandeln darf. Zum Beispiel in einen Schlafraum und
Wohnzimmer.
Weißkittel
Die große Schar der Weißkittel lässt
sich nach näherer Untersuchung in mehrere Klassen einteilen. Ganz unten in der
Hierarchie stehen die Frauen mit den blauen Streifen im Kittel. Sie reinigen
die Flure und Zellen. Etwas höher scheinen die Weißkittel bei der Speiseausgabe
und Speisezubereitung zu stehen. Im Wellnessbereich finden wir die
nächsthöheren Kittelträger. Auf der Station, in den Glaskästen, findet man
Weißkittel, die rangniedriger sind und immer sagen: „Besprechen Sie das mit dem
Arzt oder ihrer Bezugstherapeutin.“ Sie trauen sich nicht, selbständig
Entscheidungen zu treffen. Einer, von außen nicht von den übrigen Weißkitteln
zu unterscheiden, sagt immer: „Ich bin nur der Praktikant.“
Die nächsthöhere Weißkittelstufe
umfasst Ärzte und Therapeuten, meist Psychologen. Hier konnte ich noch nicht
heraus bekommen, welche Kaste über der anderen steht. Vielleicht haben sie die
gleiche Rangstufe. Auffallend ist nur, wenn sie mit der höchsten Rangstufe
zusammenkommen, eilen sie voraus und reißen die Tür auf und sprechen von dem
Professor. Der Herr Professor ist ein freundlicher, älterer Mensch, der dazu
neigt, bei geöffnetem Kittel Fröhlichkeit zu verbreiten. Manchmal, wenn man zur
höherstehenden Patientenkaste gehört, darf man zu ihm, 15 Minuten! Dann muss
immer einer der niederen Kittelträger, Arzt oder Therapeut anwesend sein. Die
werden dann immer etwas kleiner als bei anderen Begegnungen. Der Professor
möchte immer die T-Patienten in einen Bund, den er Tinnitusliga nennt,
aufnehmen. Bei mir hat er es auch versucht. Ich bitte um Anweisung, was ich
machen soll.
Ein paar weitere Beobachtungen. Bei Weißkitteln kann man
schon aus weiter Ferne erkennen, ob sie entgegen kommen oder sich entfernen.
Sie tragen die Kittel grundsätzlich geöffnet. Sieht man also einen durchgehend
weißen Körper, entfernt er sich. Entwarnung! Ist eine „normale“ Menschengestalt
weiß gerahmt, kommt sie entgegen. Begegnungen sind nicht immer unproblematisch.
Weißkittel bewegen sich in der Regel sehr schnell. Ich glaube, dass sie die
Anweisung haben, dass die Kittelenden möglichst weit nach hinten herausstehen
müssen. Und das erreichen sie durch Geschwindigkeit, hohe Geschwindigkeit.
Besonders eng wird’s dann im wahrsten Sinne des Wortes, wenn einem mehrere
Weißkittel begegnen. Sie neigen zu Rudelverhalten. Es ist nicht immer
nachvollziehbar, nach welchem System sich das Rudel bei Gangverzweigungen
vergrößert oder verkleinert. Fakt ist jedoch, dass sie meist die gesamte
Gangbreite einnehmen. Kommt einem eine solche Gruppe entgegen, sprechen sie
hier auch von der weißen Welle.
Das Verhalten im Rudel ist höchst unterschiedlich. Einige
bewahren ihre sonst übliche Freundlichkeit und nehmen die Patienten trotz des
Eilschrittes wahr. Andere scheinen sämtliche Erinnerung an ihre Patienten
verloren zu haben.
Über den Tag verteilen sich die Patienten auf viele Räume
und arbeiten dort zu unterschiedlichen Themen. Ich werde später darüber
berichten. Auffallend ist, dass Weißkittel in diesen Räumen das Sagen haben.
Manchmal sitzen sie dort im Raum und warten auf die Patienten, die völlig
selbständig die richtigen Gruppenzellen finden. Das verläuft alles sehr
systematisch, nach raffinierten Plänen, die von den Patienten unbedingt
eingehalten werden müssen, weil sonst das System wahrscheinlich zusammenbrechen
würde. Oft kommen die Weißkittel auch erst später, wenn alle Patienten im Raum
sind. Selten kommt kein Weißkittel. Wahrscheinlich ist das auch beabsichtigt
und die Patienten werden über verborgene Kameras beobachtet, wie sie mit dieser
Situation fertig werden.
Auffallend ist jedoch bei allen beschriebenen Fällen, dass
die Weißkittel, kaum dass sie im Raum sind, erst einmal ihren Kittel ausziehen.
Ich vermute, dass sie damit den Eindruck erwecken wollen, als seien sie nichts
Anderes als alle anderen im Raum. Vorsicht! Dieser Eindruck ist falsch!! Sie behalten
das Kommando trotz äußerer Gleichmacherei. Das wird spätestens deutlich, wenn
sie wieder in bekanntes Kommandoverhalten verfallen oder zum Ende der
Veranstaltung „Hausaufgaben“ erteilen.
Hausaufgaben scheint ein Disziplinierungsmittel zu sein. Ich
muss der Sache noch nachgehen. Es scheint kein System zu geben. Sie kommen wahllos,
unberechenbar. Mal ja, mal nein!
Und dann das Blitzlicht!! Jeder in der Runde äußert sich
über sein momentanes Befinden. Merke! Weißkittel ohne Kittel outen sich, weil
sie die einzigen sind, die sich im „Blitzlicht“ nicht äußern.
Wunderbar!!! Ernest Hemmingway, Thomas Wolfe und Ludwig Ganghofer in einer Person!! Jörg, bitte, bitte mehr davon!!
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