Mein Frisöör oder warum ich nicht gerne „fremd“ gehe
Es ist
wieder mal so weit, die Haare hängen übers Ohr, der Bart liegt sich schief und,
was viel schlimmer ist, er ist über die Oberlippe gewachsen und wird zunehmend
zu einer ernst zu nehmenden Behinderung beim Essen. Ich muss dringend wieder
einmal zu Wolfgang, meinem Frisör.
Montags hat
er geschlossen, nur Hausbesuche oder Altenheim!
So weit ist
es ja Gott sei Dank noch nicht.
Dienstags
gehen alle, die Samstag zu spät dran waren und Montag nicht konnten, weil ja
geschlossen. Mittwoch und Donnerstag gibt es bei mir immer viele Termine und
Freitag gehen die Umsichtigen, die Sonnabend zur Goldenen Hochzeit,
Schützenball oder sonst einem wichtigen Ereignis müssen. Also Freitag ist ein
ganz ungünstiger Tag. Bleibt nur Sonnabend und der ist auch immer ungünstig,
genau so ungünstig, wie der Freitag, aus den gleichen Gründen.
Ich könnte
natürlich an einem der fünf ungünstigen Tage einfach so hereinspazieren, mich
hinsetzen und warten. Das aber ist nicht mein Ding, es gibt so viel
Sinnvolleres, als das Wochenblatt zu lesen oder den mehrere Wochen alten Stern,
der sich durch tausendfaches Durchblättern kontinuierlich von einer
Informations- zu einer Infektionsquelle hin entwickelt hat.
Ich habe auch schon einmal, aber das sage ich jetzt nur ungerne, einen
anderen Frisiersalon aufgesucht. Das mach ich aber nicht wieder.
Da treffe ich Kerstin, Wolfgangs Frau beim Einkaufen. Sonst sagt sie
immer: „Moin Uwe!“ oder ein knappes „Hallo“. Diesmal guckte sie mich nur etwas
länger an, um dann mit etwas vorwurfsvollen Unterton zu sagen:
„Beim Putzbüdel gewesen?“
„Hhmmm“
Das ist
nicht schön - für uns beide nicht!
Und es ist
noch einmal nicht schön. Dann nämlich, wenn der Bart wieder einmal über die
Oberlippe gewachsen ist und ich zu Wolfgang rein muss.
Zwei Mal
musste ich das schon durchmachen. Da kommst du dann rein in den Salon und wirst
mit einem Blick über den Spiegel nur mit der Frage: „Fremd gegangen?“ begrüßt.
Willem Hardekopf, dem Fremdgehen anscheinend vertraut ist, grinst mich nichts
wissend verschwörerisch durch den Spiegel an.
Schadensbegrenzung,
ich hatte mir ja schon etwas ausgedacht.
„Ach nöö,
ich hatte nur gerade ´ne Stunde Wartezeit in Frankfurt und da habe ich gedacht,
mach das mal eben.“
„Türkenschnitt,
seh´ ich doch, obwohl schon fast wech!“
Dann bin ich
doch ganz froh, wenn ich statt in Hardekopfs Grinsegesicht gucken zu müssen,
den Stern nehmen kann, der hier schon vor 8 Wochen lag und langsam wieder den
Hochglanz hat, den er schon einmal an
seinem Erscheinungstag hatte – nur eben etwas anders.
Also, bei Wolfgang
braucht man keinen Termin, anders als bei Ilka oder Haarhaus Hagen oder Martina
mit der „mobilen Schere“. Deswegen gehe ich ja auch so gerne zu Wolfgang.
Einfacher ist das aber trotzdem nicht, liegt aber an mir. Nun habe ich vor
Jahren eine fantastische Entdeckung gemacht. Wenn ich zum Einkaufen gehe am
Sonnabend, meist so bei elf oder zwölf Uhr, guck ich eben vorher bei Wolfgang
rein.
„Moin“
Er dreht sein
Gesicht vom Spiegel und Kunden weg, wirft einen etwas längeren Blick auf seine
Armbanduhr, obwohl im Salon doch eine viel größere Uhr hängt, und sagt dann:
„Halb eins,
is recht?“
Und ob! Das
ist Optimum. Der Einkauf ist erledigt, Einkaufskorb ins Auto und dann rein zu Wolfgang.
Sein letzter Kunde ist schon raus und er fegt überwiegend graue Haare, die
Arbeit der letzten Stunde, unter die Klappe im Fußleistenbereich. Eine feine
Zeit zum Haare schneiden.
Obwohl der
Fortschritt in mancherlei Hinsicht auch in Kehdingen schon Einzug gehalten hat
(Tiefkühlpizza und Internet, nur, um mal zwei Beispiele zu nennen), haben sich
einige Bräuche wider jeglichen Einfluss von außen bewahrt. Dazu gehört die
angenehme Angewohnheit der Kehdinger, dass sie Punkt zwölf zu Tisch gehen. Nur
bei Wolfgang und mir ist das anders. Er fegt nach zwölf und ich geh zu Tisch,
wenn es etwas gibt oder wenn ich Lust dazu habe.
Ich werde
freundlich auf den Frisiersessel gebeten, den Nylonkittel schon in der Hand
unterbricht Wolfgang die Bewegung, mit der er gewöhnlich das Nylon über den
Kunden drapiert.
„Is recht,
wenn ich eben einen Happen essen gehe?“
„Ja,ja, geh
man“, sage ich dann immer. Ich weiß ja, dass er sich nicht lange mit der
Esserei abgibt.
„Kerstin hat
noch Grünkohl von gestern“, sagt er mit einer halben Rückwärtsdrehung, als er
mit eingezogenem Kopf durch die windschiefe Tür in die Hinterzimmer des Altbaus
verschwindet. Kerstins Grünkohl nutzt den kurzen Moment der geöffneten Tür, um
sich bei mir vorzustellen.
„Sie kocht nicht schlecht“, meinte Wolfgang
mal bei anderer Gelegenheit. Dem Geruch nach zu urteilen hat er Recht.
Ich höre
Geschirr klappern, es sind noch keine fünf Minuten verstrichen, und mein Frisör
ist zurück. Während er mir den hellblauen Nylonkittel überschmeißt geht er noch
einmal mit der Zunge über die Zähne und seufzt tief auf beim Gedanken an den Grünkohl.
Das harte
Krepppapier an meinem Hals kratzt und es kommt, was immer kommt:
„Wie immer?“
„Wie immer!“
„Nicht so
kurz?“
„Nicht so
kurz.“
„Ohren
frei?“
„Ohren
frei.“
„Bart auch?“
„Bart auch.“
„Ein
Drittel?“
„Ein
Drittel.“
Das war am
Anfang einmal anders. Aber als ich feststellte, dass Wolfgang ein ganz anderes
Verständnis von Bruchrechnung hatte als ich und bei zwei Drittel nur noch kurze
Stoppeln das Gesicht bedeckten, haben wir uns auf ein Drittel geeinigt. Nun
stimmt alles: Ich sage ein Drittel, Wolfgang schneidet zwei Drittel und am Ende
bleibt ein Drittel stehen. Alles so, wie ich es haben will!
Bruchrechnung
nach Kehdinger Regeln.
Bartschneiden
ist der langweiligste Part bei Wolfgang - kannst nicht reden dabei.
Die harten
Stoppeln springen von der Schere weg und landen willkürlich auf den
geschlossenen Augenlidern oder den Lippen. Wenn Wolfgang dann zur Maschine
greift nutze ich die Gelegenheit blitzschnell eine Hand vom Nylon zu befreien,
um mir schnell die Stoppeln aus der Augenhöhle und vom Mund zu wischen.
Meistens merkt er es.
„Lass mal,
mach ich mit dem Pinsel.“
Genau das
wollte ich doch vermeiden. An den Augen lass ich es mir ja noch gefallen. Wenn
er dann aber mit den Schweineborsten über meine Lippen geht, kneife ich sie,
bei dem Gedanken, wessen Lippen dieser stummelige Pinsel schon alles in seinem
langen Dasein abgefegt hat, fest zusammen. Das Ergebnis ist, dass ich später
gleich vor der Ladentür Stoppeln ausspucke und mit dem Handrücken über die
Lippen gehe.
Ein schöner
Moment dann, wenn Wolfgang den Stuhl senkrecht stellt und mit einem Lob einfordernden
Blick in den Spiegel fragt: „Gut so?“
Na klar ist
das gut und auch die Nachfrage „Nicht zu kurz?“ beantworte ich ihm, wie er es
hören will.
Spätestens
jetzt beginnt die Phase, warum ich fast nie „fremd“ gehe, wie Wolfgang immer meint. Es beginnt
der Moment des Gebens und Nehmens. Gibt es so nicht beim Türken oder
irgendeinem anderen Frisör, den man mal so nebenbei besucht.
Meistens
eröffnet Wolfgang die heiße Phase auf dem Stuhl.
„Was ist denn
dran an dem Gerücht?“
„Welches
Gerücht?“
„Dass die
Straßenbaufirma, die die Hauptstraße pflastert, insolvent ist.“
„Hör ich
heut zum zweiten Mal, hat Bruno mich auch schon gefragt und der hat es in
Hansis Keller gehört, soll einer von den Straßenbauern Hans Ahlers erzählt
haben.“
„Wär´ja
Schiet so kurz vor Ende der Arbeiten.“
„Jo.“
Mehr fällt
mir dazu dann auch nicht ein.
„Mariechen Hase
ist gestorben.“
„Hab´ ich
auch gehört.“
„Is ja ´n
Segen.“
„So gesehen,
ja.“
Noch nicht
ganz zu Ende gesprochen, denke ich, was für einen Mist redest du denn da
eigentlich?
Aber Wolfgang
genügt das.
Themenwechsel
„Augenbrauen
auch?“
„Augenbrauen
auch.“
„Sehen aus
wie bei Breschnew.“
„Ja, oder
wie bei Waigel.“
„Ja, der
hätte auch mal kommen können.“
Das wär´s gewesen, Breschnew oder Waigel bei Wolfgang
in Freiburg. Wenn er es dann nicht schon gewusst hätte, hätte ich ihm eine
schöne Geschichte zu erzählen gehabt!
Wie zuvor schon angedeutet ist ein harmonisches
Verhältnis vom Kunden zu seinem Frisör – und bei Wolfgang allemal – von geben
und nehmen bestimmt. Nach dem Einsatz von Wolfgang – Straßenbau und Mariechen
Hase – musste ich nun liefern.
„Stimmt es,
dass im Spieker Firma Mählert den Auftrag bekommen hat, obwohl sie das
zweithöchste Angebot abgegeben haben?“
Während ich
ihm erkläre wie der Sachverhalt ist kommt die schon seit längerem erwartete
Frage „Nase auch?“
Obwohl ich
eigentlich jedes Mal sagen möchte: „Nein, heute nicht“, ist er schneller. Seine
Schere kitzelt in meinen Nasenlöchern und ich denke:
„Schere, wie viele Nasenlöcher musstest du dir
schon von innen ansehen?“
Der
Haarschnitt nimmt langsam Gestalt an.
„Dein
Schwager war schon lange nicht mehr bei mir.“
Was soll ich
sagen?
„Hmm“.
„Hab´ ich
irgendetwas falsch gemacht?“
„Nee, kann
ich mir nicht denken, passt eben nicht immer so, wenn die von Hamburg hier
sind.“
„Bin ich ja
beruhigt, dachte schon.“
„Ohren
auch?“
Auch darauf
hatte ich schon gewartet. Gegen „Ohren“ hab´ ich nichts, und wenn ja,
hätt´s wohl auch nichts genützt bei dem
Tempo mit dem Wolfgangs Schere Fakten schafft, bevor ich antworten kann.
Das Ritual
nähert sich dem Ende mit dem Kommentar, was für schönes volles Haar ich noch
hätte und ob es etwas Gel oder Haarspray sein darf.
„Nö, Wolfgang,
heute nicht.“
Einmal mit
dem Handspiegel rund um den Kopf.
„Gut so,
nicht zu kurz?“
Auf dem Weg
zur Kasse.
„Eine Frage,
musst nicht antworten, musst du heute noch irgendwo hin?“
„Ja.“
Pause!
Immer der
gleiche Gag!
„Nun sag
schon, was hast du heute noch vor? ´Was Besonderes?“
Ist das dann
auch geklärt jammern wir uns noch kurz etwas vor, dass der Haarschnitt so teuer
geworden sei und die Betriebskosten schon wieder gestiegen sind und so billig,
wie der Türke in Frankfurt könne er hier nicht arbeiten.
Wenn dann auch noch 50 Cent Trinkgeld in der
stiefelförmigen Spardose für das Personal versenkt sind und ich mich aus der
Kinderdose mit einem oder zwei Harribo Lakritz bedient habe, bin ich durch für die nächsten vier Wochen.
Zu Hause
brauche ich nicht auf ein Lob zu warten, wie etwa „Gut siehst du aus!“
Wenn´s hoch
kommt sagt Ulla: „Typischer Wolfgangschnitt mal wieder!“ und geht zum
Tagesgeschäft über.
„Na und“,
denke ich dann, „bist du schon einmal von deinem Frisör zurückgekommen und hast
gedacht: Das war doch wieder nett heute?“
Schön, dass
ich meinen Frisör noch im Dorf habe auch, wenn es manchmal an Stellen kitzelt,
wo der Frisör eigentlich besser weg bleiben sollte.
P.S.:
Mein Freund
Jan, erst seit wenigen Jahren Kehdinger, hat auch schon einige Geschichten mit
Freiburger Frisierstuben erlebt. Nur bei Wolfgang war er noch nie, wie er mir
unlängst anvertraute. Umso mehr war er an einer Beschreibung des Frisörs meines
Vertrauens interessiert.
Als ich bei
der Schere im Nasenloch angekommen war, schien sein Interesse schlagartig
erloschen.
Er werde
wohl nicht zu Wolfgang gehen, sagte Jan.
Ich weiß gar
nicht warum, aber so ist das manchmal mit den Zugereisten.
Und nun zu
guter Letzt noch eine Richtigstellung von meinem Schwager Horst, die
wiederzugeben ich mich verpflichtet fühle:
„Richtig an Wolfgangs Beobachtung ist, dass ich jetzt
seit Jahren ebenfalls nicht mehr "fremd-", sondern zu
"meinem" türkischen SPD-Abgeordneten in der Bezirksversammlung
Altona, Becet Algan, gehe, dessen Frisierstube ein sehr schlichter, aber viel
frequentierter Treffpunkt türkisch stämmiger Ottensener ist. An den Wänden kann
man - bei einem Gläschen türkischen Tees - Photos bewundern, die Becet neben
allerlei SPD-Prominenz zeigen...“
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen