Samstag, 6. Februar 2016

Rudi Dutschke * Begegnungen 10



Rudi Dutschke


In einer meiner Geschichten habe ich von jemandem gelesen, der auf der Toilette der FU in Berlin beim Urinieren etwas unsanft von einem längerhaarigen Kommilitonen angerempelt wurde. Seine Worte der Entrüstung blieben ihm aber im Halse stecken, als er in dem stürmischen Kerl am Nachbarurinal Rudi Dutschke, die Ikone der 68er Studentenbewegung erkannte.
Mir hätte das natürlich nicht passieren können. Ich habe nicht an der FU studiert – nicht einmal die Sanitäreinrichtungen benutzt.
Und wenn?
Ich hätte den Rudi wahrscheinlich nicht erkannt.

Was ich jetzt schreibe, spielte sich zu einer Zeit ab, als wir nicht mehr - unsere Freunde Renate und Klaus aber noch in Göttingen lebten. Wir hatten unsere erste Lehrerstelle in Freiburg und legten auf der Rückfahrt von einer Reise in die Alpen einen Übernachtungsstopp  bei unseren Freunden ein. Renate und Klaus wohnten in einer WG in einem Hinterhaus im Stegemühlenweg, vielleicht war es auch die Riemannstraße. Die Wohnungen in den Vorderhäusern waren sehr beliebt aber von Studenten eher nicht zu bezahlen. Dort mieteten Studienräte, Richter und Universitätsprofessoren. Ich erinnere mich noch gut, dass im Vorderhaus mehrere Soziologen und Psychologen mit ihren jungen Familien lebten. Es fing an, dass das linke Establishment dem Klassenfeind nacheiferte und sich seine Wohnungen kaufte. Noch wurde von den Vorderhausbewohnern das bunte Treiben in den Hinterhäusern geduldet. Die Hinterhausimmobilien waren noch nicht im Visier der Makler. Sie waren ja nicht isoliert, hatten häufig noch Ofenheizung und von Doppelverglasung der Fenster träumten die Bewohner, wenn es im Winter so richtig durch die Ritzen pfiff.
In so einem Haus also lebten unsere Freunde damals und wir konnten bei ihnen übernachten, weil gerade Semesterferien waren und zwei MitbewohnerInnen auf Reisen waren. Es war alles so unkompliziert und schon bald hatten wir bei Wein und Bier das Gefühl, als hätten wir die Studentenzeit noch nicht hinter uns gelassen. Irgendwann nach Mitternacht beendete die einsetzende Müdigkeit unsere Wiedersehensfeier. Bevor unsere Gastgeber in ihren Zimmern  verschwanden, machten sie uns noch eine Mitteilung.
„Wir haben übrigens heute noch einen Gast hier in der Wohnung. Also nicht erschrecken, wenn heute Nacht jemand die Wohnung betritt oder ihr jemandem Fremden auf dem Weg zum Klo begegnet. Gute Nacht!“
„Gute Nacht“
Wir hatten einen sehr langen Tag hinter uns und  einen langen Abend noch dazu. Nichts haben wir gehört in der Nacht, niemanden getroffen. Die ersten Geräusche stammten vom Geklapper des Frühstücksgeschirrs. Sie drangen durch die Türritzen aus dem Gemeinschaftsraum zu uns. Während in der einen Küchenecke der Kaffee durchlief und mit seinem Duft eine Vorfreude auf das Frühstück aufkommen ließ, nutzten wir in der anderen Ecke eine Duschkabine, die der Vermieter aus Ermangelung eines Bades und eines geeigneteren Platzes in die Küche gestellt hat.
Der Tisch war für fünf gedeckt, ein Gedeck blieb vorerst ungenutzt. Hier gab es noch das bunte Sammelsurium von Geschirr und Besteck aus den Eltern-, Großelternhaushalten oder vom Flohmarkt, das bei uns schon hatte Platz machen müssen für günstige IKEA Sortimente. Irgendein Messer war scharf genug, um die harte Salami zu schneiden. Es wanderte mit der Wurst um den Tisch. Es war alles so einfach und doch fehlte nichts. Sogar ein Frühstücksei mit Wunschkonsistenz gehörte zum morgendlichen Angebot.
Mitten im Frühstück öffnete sich eine Zimmertür. Eine verschlafene Person mit dunklen, zotteligen Haaren und stoppeligem Bart mit T-Shirt und Shorts bekleidet kommt über den Flur zum Tisch und setzt sich hinter das freie Gedeck.
„Ich bin der Rudi“, stellt er sich vor ohne aufzublicken und begann sich schon Kaffee einzugießen, während Klaus und Renate ihm noch erklärten, wer wir waren.
„Ulla und Jörg sind Lehrer in Freiburg an der Elbe. Ja, und der Rudi hat hier gestern einen Vortrag vor dem Marxistischen Studentenbund Spartakus gehalten.“
Rudi war nicht sehr gesprächig. Er äußerte sich miesgelaunt über das „Scheißwetter“, fragte uns kurz über unsere Reise aus und tauschte mit Klaus ein paar Sätze über die Studentenschaft von heute aus. Großen Appetit hatte er nicht. Jedenfalls war er schon mit seinem Frühstück fertig, als ich mich noch für ein weiteres Brötchen entschied. Rudi schüttete den Rest seines Kaffees in sich hinein und verzog sich irgendetwas Unverständliches murmelnd in sein Zimmer.
„Schön“, meinte Klaus, nachdem Rudi seine Zimmertür hinter sich zugezogen hatte, „schön, dass der Rudi sich nach dem Attentat wieder so berappelt hat.“
„Attentat“ war das Schlüsselwort!
Ich hatte mit Rudi Dutschke, dem Bürgerschreck und dem Idol meiner Jugendzeit, gefrühstückt und hatte ihn nicht erkannt.
Von meiner Großmutter Erna habe ich häufiger gehört: „Ich habe den Führer in Kiel gesehen.“ Obwohl sie längst geläutert war von den Ideen des Führers, schwang doch immer noch ein nachhaltiger Eindruck von diesem Erlebnis mit.
Den Führer brauchte ich Gott sei Dank nicht mehr erleben. Er hatte aufgehört zu leben bevor ich auf die Welt gekommen bin. Aber, hätte Großmutter Erna noch fünf Jahre länger gelebt, hätte ich ihr erzählen können, dass ich mit Rudi Dutschke gefrühstückt habe.

Als ich von Rudi Dutschke erzählte, musste ich erfahren, dass sehr viele der jüngeren ZuhörerInnen nichts von Rudi Dutschke wussten, meistens ihn nicht einmal kannten. Damit etwas deutlicher wird, warum mich die Begegnung mit Rudi so beeindruckt hatte, gibt es hier eine Kurzbiografie über ihn.
Rudi Dutschke war eine der charismatischsten Figuren der 1968er Studentenbewegung. Er gab ihr ein Gesicht und galt als "der deutsche Che Guevara". Sein Name ist untrennbar verbunden mit dem "Sozialistischen Deutschen Studentenbund" (SDS) und der "Außerparlamentarischen Opposition" (APO). Rudi Dutschke hielt flammende Reden und ging als "Bürgerschreck" in die bundesdeutsche Nachkriegsgeschichte ein.
Mehr:
http://www.planet-wissen.de/geschichte/deutsche_geschichte/studentenbewegung/pwierudidutschke100.html



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