Rudi Dutschke
In einer
meiner Geschichten habe ich von jemandem gelesen, der auf der Toilette der FU
in Berlin beim Urinieren etwas unsanft von einem längerhaarigen Kommilitonen
angerempelt wurde. Seine Worte der Entrüstung blieben ihm aber im Halse
stecken, als er in dem stürmischen Kerl am Nachbarurinal Rudi Dutschke, die
Ikone der 68er Studentenbewegung erkannte.
Mir hätte
das natürlich nicht passieren können. Ich habe nicht an der FU studiert – nicht
einmal die Sanitäreinrichtungen benutzt.
Und wenn?
Ich hätte
den Rudi wahrscheinlich nicht erkannt.
Was ich
jetzt schreibe, spielte sich zu einer Zeit ab, als wir nicht mehr - unsere
Freunde Renate und Klaus aber noch in Göttingen lebten. Wir hatten unsere erste
Lehrerstelle in Freiburg und legten auf der Rückfahrt von einer Reise in die
Alpen einen Übernachtungsstopp bei
unseren Freunden ein. Renate und Klaus wohnten in einer WG in einem Hinterhaus
im Stegemühlenweg, vielleicht war es auch die Riemannstraße. Die Wohnungen in
den Vorderhäusern waren sehr beliebt aber von Studenten eher nicht zu bezahlen.
Dort mieteten Studienräte, Richter und Universitätsprofessoren. Ich erinnere
mich noch gut, dass im Vorderhaus mehrere Soziologen und Psychologen mit ihren
jungen Familien lebten. Es fing an, dass das linke Establishment dem
Klassenfeind nacheiferte und sich seine Wohnungen kaufte. Noch wurde von den
Vorderhausbewohnern das bunte Treiben in den Hinterhäusern geduldet. Die
Hinterhausimmobilien waren noch nicht im Visier der Makler. Sie waren ja nicht
isoliert, hatten häufig noch Ofenheizung und von Doppelverglasung der Fenster
träumten die Bewohner, wenn es im Winter so richtig durch die Ritzen pfiff.
In so einem
Haus also lebten unsere Freunde damals und wir konnten bei ihnen übernachten,
weil gerade Semesterferien waren und zwei MitbewohnerInnen auf Reisen waren. Es
war alles so unkompliziert und schon bald hatten wir bei Wein und Bier das
Gefühl, als hätten wir die Studentenzeit noch nicht hinter uns gelassen.
Irgendwann nach Mitternacht beendete die einsetzende Müdigkeit unsere
Wiedersehensfeier. Bevor unsere Gastgeber in ihren Zimmern verschwanden, machten sie uns noch eine
Mitteilung.
„Wir haben
übrigens heute noch einen Gast hier in der Wohnung. Also nicht erschrecken,
wenn heute Nacht jemand die Wohnung betritt oder ihr jemandem Fremden auf dem
Weg zum Klo begegnet. Gute Nacht!“
„Gute Nacht“
Wir hatten
einen sehr langen Tag hinter uns und
einen langen Abend noch dazu. Nichts haben wir gehört in der Nacht,
niemanden getroffen. Die ersten Geräusche stammten vom Geklapper des
Frühstücksgeschirrs. Sie drangen durch die Türritzen aus dem Gemeinschaftsraum
zu uns. Während in der einen Küchenecke der Kaffee durchlief und mit seinem
Duft eine Vorfreude auf das Frühstück aufkommen ließ, nutzten wir in der
anderen Ecke eine Duschkabine, die der Vermieter aus Ermangelung eines Bades und
eines geeigneteren Platzes in die Küche gestellt hat.
Der Tisch
war für fünf gedeckt, ein Gedeck blieb vorerst ungenutzt. Hier gab es noch das
bunte Sammelsurium von Geschirr und Besteck aus den Eltern-,
Großelternhaushalten oder vom Flohmarkt, das bei uns schon hatte Platz machen
müssen für günstige IKEA Sortimente. Irgendein Messer war scharf genug, um die
harte Salami zu schneiden. Es wanderte mit der Wurst um den Tisch. Es war alles
so einfach und doch fehlte nichts. Sogar ein Frühstücksei mit Wunschkonsistenz
gehörte zum morgendlichen Angebot.
Mitten im
Frühstück öffnete sich eine Zimmertür. Eine verschlafene Person mit dunklen,
zotteligen Haaren und stoppeligem Bart mit T-Shirt und Shorts bekleidet kommt
über den Flur zum Tisch und setzt sich hinter das freie Gedeck.
„Ich bin der
Rudi“, stellt er sich vor ohne aufzublicken und begann sich schon Kaffee
einzugießen, während Klaus und Renate ihm noch erklärten, wer wir waren.
„Ulla und
Jörg sind Lehrer in Freiburg an der Elbe. Ja, und der Rudi hat hier gestern
einen Vortrag vor dem Marxistischen Studentenbund Spartakus gehalten.“
Rudi war
nicht sehr gesprächig. Er äußerte sich miesgelaunt über das „Scheißwetter“,
fragte uns kurz über unsere Reise aus und tauschte mit Klaus ein paar Sätze
über die Studentenschaft von heute aus. Großen Appetit hatte er nicht.
Jedenfalls war er schon mit seinem Frühstück fertig, als ich mich noch für ein
weiteres Brötchen entschied. Rudi schüttete den Rest seines Kaffees in sich
hinein und verzog sich irgendetwas Unverständliches murmelnd in sein Zimmer.
„Schön“,
meinte Klaus, nachdem Rudi seine Zimmertür hinter sich zugezogen hatte, „schön,
dass der Rudi sich nach dem Attentat wieder so berappelt hat.“
„Attentat“
war das Schlüsselwort!
Ich hatte
mit Rudi Dutschke, dem Bürgerschreck und dem Idol meiner Jugendzeit,
gefrühstückt und hatte ihn nicht erkannt.
Von meiner Großmutter
Erna habe ich häufiger gehört: „Ich habe den Führer in Kiel gesehen.“ Obwohl
sie längst geläutert war von den Ideen des Führers, schwang doch immer noch ein
nachhaltiger Eindruck von diesem Erlebnis mit.
Den Führer
brauchte ich Gott sei Dank nicht mehr erleben. Er hatte aufgehört zu leben
bevor ich auf die Welt gekommen bin. Aber, hätte Großmutter Erna noch fünf
Jahre länger gelebt, hätte ich ihr erzählen können, dass ich mit Rudi Dutschke
gefrühstückt habe.
Als ich von
Rudi Dutschke erzählte, musste ich erfahren, dass sehr viele der jüngeren
ZuhörerInnen nichts von Rudi Dutschke wussten, meistens ihn nicht einmal
kannten. Damit etwas deutlicher wird, warum mich die Begegnung mit Rudi so
beeindruckt hatte, gibt es hier eine Kurzbiografie über ihn.
Rudi Dutschke war eine der charismatischsten Figuren
der 1968er Studentenbewegung. Er gab ihr ein Gesicht und galt als "der
deutsche Che Guevara". Sein Name ist untrennbar verbunden mit dem
"Sozialistischen Deutschen Studentenbund" (SDS) und der
"Außerparlamentarischen Opposition" (APO). Rudi Dutschke hielt
flammende Reden und ging als "Bürgerschreck" in die bundesdeutsche
Nachkriegsgeschichte ein.
Mehr:
http://www.planet-wissen.de/geschichte/deutsche_geschichte/studentenbewegung/pwierudidutschke100.html
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