Freitag, 12. Februar 2016

Begegnungen * 3 Marlene und Bert Frisch





Ein Platz zum Träumen: Marlene und Bert Frisch unter der Weltkarte

Marlene und Bert Frisch sind mir erstmals begegnet, als ich trotz Glatteis und Schneetreiben nach Bentwisch gefahren bin, um mir ihren Multi Media Vortrag über deren Atlantikquerung anzuhören, anzusehen. Nachdem ich sie einmal kennengelernt hatte, begegneten sie mir immer häufiger.  Mehrmals konnte ich Bert und Marlene für Vorträge vor der Freiburger Seglervereinigung gewinnen. Marlene moderierte irgendwann die Verleihung des „Goldenen Hechtes“ und ließ sich in den  Vorstand der AG Osteland wählen. Je länger ich die beiden kannte, desto beeindruckter war ich von ihrem Engagement für ihre neue Heimat. Als ich von der Redaktionsleitung des „Grünen Kalenders“ um Beiträge gebeten wurde, habe ich für den Kalender  2016 Marlene und Bert als „Zugereiste“ in unserer Region  porträtiert.
 
Zugereist! Na und?
Marlene und Bert Frisch – Ein Beispiel gelungener Integration in eine Dorfgemeinschaft



Wer kennt sie nicht, die „Zugereisten“ in seinem Dorf? Es sind die, die oft schon vor Jahrzehnten von irgendwo her aufgetaucht und nun Teil einer fest eingesessenen Gemeinschaft sind.
Manchmal sind sie unscheinbar und kaum jemand weiß etwas von ihnen.  Sie nehmen keinen Einfluss auf das Leben um sie herum, sie werden von ihrer neuen Umgebung wertneutral hingenommen. Anders ist es mit den Neubürgern, die keine Gelegenheit auslassen, ihrem Umfeld mitzuteilen, wie öde es hier ist und was alles an ihrem vorherigen Wohnort viel besser gewesen sei. Das interessiert die Alteingesessenen nicht, verletzt sie eher. Derartiges Verhalten macht eine Integration am neuen Wohnort nahezu unmöglich und führt nicht selten früher oder später zu  einem Fortzug.

Dann gibt es noch eine weitere Gruppe von „Zugereisten“. Sie haben sich ihren neuen Lebensmittelpunkt mit Bedacht gewählt. Oftmals sind sie einem rastlosen Berufs- und/oder Großstadtleben entflohen. Sie schätzen  und genießen, was sie in ihrer neuen Umgebung vorfinden. Ihnen merkt man an, dass sie mit ihrer Entscheidung zufrieden sind, die neue Umgebung macht sie neugierig. Sie wollen die Menschen um sie herum verstehen, die Eigenheiten, Traditionen und die Historie ihrer neuen Heimat kennenlernen. Ihre Neugierde mündet nicht selten in eine aktive Beteiligung an der Gestaltung des sozialen Miteinanders in ihrer neuen Heimat. 
Marlene und Bert Frisch aus dem Ostedörfchen Oberndorf lassen sich uneingeschränkt dieser letzten Gruppe der „Zugereisten“ zuordnen. Bereits 1973 erwarb Bert Frisch gemeinsam mit seinen Eltern sein Oberndorfer  Anwesen direkt am Ostedeich als Wochenenddomizil.  Seit 2008 haben Marlene und Bert Frisch ihren Wohnsitz auf Dauer von Hamburg in das Haus an der Oste verlegt.
  
 

 Der Blick aus der Stube geht über dn Deich auf die Oste

 Mit dem Ausscheiden aus dem aktiven Berufsleben stand für sie fest: Wir verlassen Hamburg, ziehen nach Oberndorf ins Haus, ans Wasser, zum Boot. Das Boot, die Heimkehr VII, ein Kutter von 17 Meter Länge mit zwei Masten, war all die Jahre vorher schon die zweite Heimat von Marlene und Bert. Beide sind dem Wasser, wenn auch auf sehr unterschiedliche Art, von Kindheit an sehr verbunden.

Berts Seekarriere begann mit beträchtlichem Ärger seitens seines Vaters bereits mit 10 Jahren, als er die ausgehängte Wohnzimmertür für einen kleinen Ausflug zu Wasser ließ. Geboren auf der Insel Borkum und später an der Nordseeküste in Varel aufgewachsen, kam er sehr schnell zur Segelei und zu seinem ersten Boot. Wie der aktuelle Schiffsname „Heimkehr VII“ verrät, sollten seinem ersten Schiff im Laufe seines Lebens noch einige weitere folgen.  Den Wehrdienst leistete Frisch selbstverständlich bei der Bundesmarine ab. Der Marine blieb er auch nach der Pflichtzeit neben seinem Beruf als gelernter Werbekaufmann treu. Immer wieder rückte er zu Reserveübungen aus  und darf sich nach etlichen Beförderungen heute Korvettenkapitän der Reserve nennen. (Ich kenne die Fachtermini nicht so, Bert, hier musst du mir noch helfen.)
Marlene ist auf einem Bauernhof an der Aller bei Verden aufgewachsen. Ihre Seekarriere nahm ihren Anfang auf einem Kahn mit Außenbordmotor. Während ihre Altersgenossen mit Moped, Fahrrad oder Auto zur Disco anreisten, nahm sie das Boot. Schon bevor sich die Lebenswege von Bert und Marlene kreuzten, hatte sie Segel-, Surf- und Tauchschein. Außerdem interessierte sie sich für alles, was sich schrauben und schweißen lässt, was sich dreht und mit Motorengeräuschen zu tun hat. All das sind beste Voraussetzungen für ein gemeinsames Leben mit Bert und seinen immer sehr arbeitsintensiven Schiffen. Seit 1989 sind Bert und Marlene – und natürlich (seit 1995) die aktuelle „Heimkehr VII“ -  miteinander verheiratet. Viele Reisen erlebten die drei rund um die Ostsee. Mit der „Heimkehr VII“ haben Marlene und Bert ein sehr zuverlässiges und hochseetaugliches Schiff. Mit immer besserer Ausstattung der „Heimkehr“ reifte langsam der jahrelange Traum nach einer Atlantikquerung auf eigenem Kiel. 2009 war es dann so weit: Das Ehepaar Frisch, bereits seit einigen Monaten frei von beruflichen Verpflichtungen, startete mit seinem Kutter über den Atlantik. 

 

Die Lieblingebeschäftigung der Frischs im Sommer: Mit der Heimkehr in See stechen!
 
Als das Schiff 2011 nach dem Besuch zahlreicher karibischer Inseln und einem Abstecher zur Freiheitsstatue in New York wieder in Oberndorf an der Oste festmachte, konnten Marlene und Bert mit Freude und Stolz auf die Reise ihres Lebens zurückschauen. Ihre wunderschönen Erlebnisse, festgehalten auf vielen Fotos und Videosequenzen, haben  sie in mehreren  exzellent ausgearbeiteten Multimedia Shows in Oberndorf und Freiburg mit ihrer inzwischen begeisterten Fangemeinde geteilt. Eintritt wurde nie verlangt, dafür aber um Spenden für die Kiebitzschule in Oberndorf, die Jugendarbeit der Freiburger Segler oder den Jugendkutter der Oberndorfer Seglergemeinschaft gebeten.

Wer glaubt, dass die beiden Atlantikquerer sich nun von ihren Leistungen und Strapazen im Liegestuhl  erholten, irrt gewaltig. Das würde auch nicht zu ihnen passen. Wer Marlene und Bert bisher noch nicht kannte, konnte sie schon bald kennenlernen. Überall, wo Bürgerinitiative und Bürgerengagement im Dorf und in der Osteregion gefragt waren, brachten  bzw. bringen sie sich ein. „Es ist uns ein Bedürfnis, mit den Menschen um uns herum zu sprechen und mit ihnen gemeinsam ein Umfeld zu gestalten,  in dem auch junge Familien noch Lebensperspektiven finden.“  So fasst Bert Frisch den selbstgestellten Auftrag an seine Frau und sich zusammen.

 

 Der Biomeiler der Kiebitzschule in Oberndorf im Bau

Der jahrelange Kampf um den Erhalt der Grundschule in Oberndorf hat das Dorf zusammengebracht. Dass die Schule am Ende dann, für die meisten  Oberndorfer aus nicht nachvollziehbaren Gründen,   im Sommer 2014 für immer ihre Tore schloss, war auch  für Bert und Marlene  eine bittere Enttäuschung.  Sie hatten viele Stunden  und viel Liebe in Schulprojekte wie den Biomeiler zur  Energieerzeugung, die „Kiwitte“, eine Nachmittagsbetreuung in der Schule für Kinder, deren Eltern berufstätig sind, oder den Aufbau einer Bibliothek investiert. Die „Kiwitte“ und die Bücherei existieren auch ohne Grundschulbetrieb weiter.
 Marlene ist Beisitzerin im Vorstand der weit über die Oste hinaus bekannten  AG Osteland. Die AG Osteland bemüht sich um alle Belange, die für die Menschen beiderseits der Oste von Interesse sind: Natur, Tourismus, Wirtschaft, Kultur, Freizeit,  Traditions- und Heimatpflege, … 

 

Marlene moderiert den Festakt anlässlich der Verleihung des "Goldenen Hechtes"
durch die Arbeitsgemeinschaft Osteland e.V.

 
Zuletzt haben Marlene und Bert Frisch die Broschüre „Ostelotsen“ erstellt. Der „Ostelotse“ gibt Wassersportlern nützliche Tipps für die Befahrung der Oste. Egal ob in Leader Arbeitsgruppen, die sich mit von Brüssel geförderter Projektentwicklung befassen, oder  ob es um die Begleitung des Fusionsprozesses der Samtgemeinden Am Dobrock und Land Hadeln geht: Ohne das Engagement von Frischs geht es nicht.


 Die "Heimkehr" an ihrem Liegeplatz vor dem Haus der Familie Frisch

Die Kombüse 53°Nord, eine bürgergetragene Kulturkneipe, wurde von Leni und Bert nicht nur mitinitiiert, sie verrichten dort auch regelmäßig Tresendienst. Hier ist eine Einrichtung entstanden, die  den beiden eine Herzensangelegenheit geworden ist. Das Dorf hat einen Platz zum Klönen und Genießen bekommen. Hier gibt es gute Unterhaltung, gutes Bier, leckeres Essen und einmal in der Woche „ward hier Platt snackt“! Die Kombüse ist auch Heimat des neu ins Leben gerufenen „Forums“. In dieser Runde, zu der alle Bürgerinnen und Bürger Oberndorfs eingeladen sind, entstehen neue Ideen, neue Projekte, die die Dorfgemeinschaft weiterbringen können.  Themen sind hier die Einführung eines Bürgerbusses, das Projekt Opa (Oberndorfer passen auf!), Dorfcarsharing oder Wiederbelebung der Aktion „Roter Punkt“ aus Zeiten des Protestes gegen Fahrpreiserhöhungen im ÖPNV in den 70ern des letzten Jahrhunderts. Damals  signalisierte ein roter Punkt in der Windschutzscheibe die Bereitschaft, auch wildfremden Menschen eine Mitfahrgelegenheit anzubieten. Viele von Marlene und Bert Frisch unterstützte  Projekte haben einen nachhaltigen, sparsamen und gewissenhaften Umgang mit den natürlichen Resourcen der Erde zum Ziel. So zum Beispiel auch die Energiegenossenschaft für die  Nutzung der Dächer auf öffentlichen Gebäuden zur Gewinnung von Energie durch Photovoltaikanlagen. Eines der jüngsten Projekte mit maßgeblichem Engagement von Marlene und Bert Frisch ist die Gründung der Ostewert AG, die sich zum Ziel gesetzt hat, ein Biokraftwerk durch  Vergärung von Gülle  (ohne Mais!!!) mit einer Leistung von 75 KW zu betreiben. Die anfallende Abwärme wird zum Aufheizen von Wasserbecken genutzt, in denen bei 28°C afrikanische Welse gezüchtet werden sollen. Hier werden Umwelt- und Wirtschaftsinteressen sinnvoll miteinander verknüpft und – so ganz nebenbei – sollen auch noch einige Arbeitsplätze in der strukturschwachen Osteregion geschaffen werden.

 

Marlene und Bert sind auch aktiv im Bemühen, dem Stör in "ihrem" Fluss 
wieder eine Heimat zu geben

Marlene und Bert Frisch haben sich Oberndorf an der Oste als ihren Lebensmittelpunkt gewählt.  Mit ihrem ungewöhnlich hohen Engagement für das Gemeinwohl tragen sie nicht nur für das eigene Wohlbefinden bei. Menschen wie sie, geben unseren Dörfern wieder eine gehörige Portion der in den vergangenen Jahrzehnten verlorengegangenen Lebensqualität zurück.
Zugereist sind sie -  na und?
Wenn es denn solche sind, wie Leni und Bert Frisch, können nicht nur die Dörfer entlang der Oste mehr von dieser Sorte Zuwanderer  gebrauchen!

Donnerstag, 11. Februar 2016

Der Initiativantrag -- Schluss mit Nacktbaden in Weidenfleth



Eigentlich waren Nacktbaden und Nacktheit in Kolbingen, und schon gar nicht in Nordkolbingen, jemals ein Thema in der Gemeindepolitik. Das sollte sich in den späten Abendstunden des 24. Juni schlagartig ändern. Hier, im Weidenflether Hof, tagte der Gemeinderat.
Es war die Zeit, als in den Ratssitzungen noch geraucht wurde, die Mehrzahl der Roten keinen und alle der Schwarzen noch einen Schlips trugen und nach hitzigsten zum Teil hochpolitischen Diskussionen Bürgermeister Henning Großkopf doch fast immer einen einstimmigen Beschluss bekam. Ja, damals war die Welt in Weidenfleth noch in Ordnung.  Henny Oldenzaal aus dem Ordnungsamt musste das Protokoll schreiben. Außer ihr schrieben noch zwei weitere Personen eifrig mit. Es waren Sanni Hoellerich vom Tageblatt und Jupp Heinsohn, Fraktionsvorsitzender von den Roten. Jupp schrieb mit, weil er oft zu Recht das Gefühl hatte, dass nachher im Protokoll nur das zu lesen stand, was Henning Großkopf dort haben wollte. Das wiederum hatte zum Beginn jeder Ratssitzung zur Folge, dass erbittert um die Ergänzung des Protokolls um Jupp Heinsohns Redebeiträge aus der letzten Ratssitzung gerungen wurde. Da die Schwarzen eine Mehrheit von einem Sitz im Rat hatten, hätte Jupp Heinsohn sich die Debatte getrost sparen können.
Am Tresen des Weidenflether Hofes hat zwar mancher von den Schwarzen dem netten Jupp Recht gegeben. In der Abstimmung dann konnte Bgm. Großkopf sich auf seine Fraktion verlassen. Hein Möller kann ein Lied davon singen, was passiert, wenn man als Weidenflether Christdemokrat von seinem verfassungsmäßigen Recht der freien Meinungsäußerung Gebrauch macht. Von wegen, dass der gewählte Volksvertreter nur seinem Gewissen gegenüber verantwortlich ist. Als er, Heini, sich  getraut hatte, die verkehrsberuhigenden Maßnahmen des Bürgermeisters öffentlich in Frage zu stellen, trat der Bürgermeister einen Shitstorm (den Begriff gab es damals noch nicht, er hätte aber sehr gut gepasst) ungeahnten Ausmaßes gegen seinen Fraktionskollegen los. Das wollte niemand selber erleben. Lieber die Klappe halten und bei der nächsten Kommunalwahl wieder über die Liste des Bürgermeisters in den Rat einziehen.
Hoellerich schrieb, weil sie dafür bezahlt wurde und die Öffentlichkeit schließlich ein Recht drauf hätte zu erfahren, was in Weidenfleth abgeht.
Die zahlreiche Öffentlichkeit war durch Kapitän im Ruhestand, Jonny von Allwörden, vertreten, der nur von seinem Stock begleitet wurde. Seinen Hund durfte er nicht mehr mitbringen, seit Gaby Wüstenfeld bei der letzten Kommunalwahl mitsamt ihrer Hundehaarallergie in den Rat gewählt worden war. Jonny schrieb nichts auf. Er verließ sich voll und ganz auf die Hoellerich vom Tageblatt und das, was er im Kopf behielt. Manchmal schaltete Jonny sich vom Zuschauerplatz in die Diskussion ein. Das wurde ihm immer dann vom Bürgermeister gemäß NGO (Nieders. Gemeindeordnung) verboten, wenn er sich im Sinne der Roten äußerte. Passte Jonnys Beitrag zu Großkopfs Meinung, kam die NGO nicht zum Einsatz.
„Meine sehr verehrten Ratskolleginnen und Ratskollegen, ein interessanter Beitrag von Jonny. Berücksichtigen Sie das bitte bei Ihrer Entscheidung.“
Ja, so war er der Großkopf. Nickte Jonny wohlwollend mit aufgesetztem Grinsen zu und zog etwas zu laut hoch, was sich sonst unweigerlich dem Gesetz der Schwerkraft folgend seinen Weg aus der Nase in Richtung Erde gesucht hätte.
Diese Ratssitzung am 24. Juni war von großer Normalität bestimmt. Protokollgeplänkel und kontroverse Redebeiträge. Willi Koehn fehlte bei den Schwarzen und als die Mehrheit für den Bürgermeistervorschlag zu kippen drohte, brachte Großkopf seine letzte und wirkungsvollste Waffe zum Einsatz.
„Meine Damen und Herren, ich sage nur Kommunalaufsicht! Ohne die geht gar nichts. Wenn Sie mir hier nicht zustimmen kann das katastrophale Folgen auf die Schlüsselzuweisungen vom Land haben. Katastrophale Folgen für unseren Haushalt.
Wenn Sie das wollen, bitte! Dann sagen Sie das bitte aber auch den Bürgerinnen und Bürgern von Weidenfleth!“
Ernst in die Runde blickend lässt er sich in die Rückenlehne seines Stuhles fallen, setzt sein Nasenspray für alle gut sichtbar ein und ruft zur Abstimmung auf.
Zufrieden kann Henning Großkopf einen einstimmigen Beschluss zu Protokoll geben.
„So muss es laufen“, denkt er, „wenn man seinen Laden im Griff hat!“
Gerade will er die Sitzung schließen, hatte schon die Vorlagen in seiner kleinen Ledermappe verstaut, als sich sein Fraktionskollege Tönies Willers, Landwirt aus dem Grenzbereich zwischen der Weidenflether Marsch und dem Moor zu Wort meldete.
„Ja, Tönies, was gibt es noch?“
Tönies ist kein Mann der großen Worte. War er noch nie. Er schweigt lieber vor sich hin und stimmt im entscheidenden Moment richtig ab. Tönies weiß, was sich gehört. Nie kommt er ohne Krawatte und Jackett zur Ratssitzung. Auch, wenn die schwarze Manchesterhose und die ausgetretenen Halbschuhe heute Nachmittag schon die Geburt eines Bullenkalbes miterlebt haben, macht die obere Hälfte, die allein ja oberhalb der Tischkante sichtbar ist, ordentlich was her. Tönies steht auf, zieht sich das Jackett überm Hinterteil glatt, räuspert sich mehrfach und legt dann los.
„Sehr geehrter Herr Vorsitzender.“
Typisch Tönies! Sonst ist er mit Henning Großkopf per Du. Nun muss er doch schnell einmal herauskehren, dass er weiß, was sich gehört. Da ist er manch einem seiner gelegentlich überheblichen Fraktionskollegen aus der Weidenflether Marsch doch meilenweit überlegen.
„Also Herr Vorsitzender, ich habe da noch einen Initschiativantrag.“
„Tönies, steht nicht auf der Tagesordnung, können wir heute nicht mehr behandeln.“
„Deswegen ja Initschiativantrag. Kann man immer einbringen. Hat mir der Hamburger von nebenan gesagt. Der ist Rechtsanwalt.“
„Also ne, Tönies.“
Sanni Hoellerich, die bereits aufgestanden war, setzt sich wieder. Initiativantrag in Weidenfleth. Das hat es hier ja noch nie gegeben. Außerdem, fand sie es spannend zu erleben, dass Tönies Willers auch eine Stimme besaß.
Die Ollenzaal beugt sich zum Bürgermeister und erklärt ihm, was ein Initiativantrag ist. Noch bevor sie mit ihrer Erklärung fertig war, hatte Großkopf sich schon entschieden, den Antrag seines Fraktionskollegen zuzulassen. Ihm war nämlich eben gerade eingefallen, dass die Windmühlengesellschaft, an der auch er beteiligt war, ein Wegerecht von Tönies Willers benötigte. Hätte schlecht gepasst, wenn er Tönies nun nicht das Wort erteilt hätte.
„Also los, Tönies, was willst du beantragen?“
„Ich beantrage, dass Nacktbaden und überhaupt Nacktgehen in der Weidenflether Öffentlichkeit verboten wird.“
Das hat gesessen! Sekundenlang herrschte Ruhe auf dem Saal des Weidenflether Hofes. Dann Gemurmel und vereinzeltes Gelächter. Ein fröhlicher Austausch über den Tisch, über die Fraktionsgrenzen hinweg setzte ein. Die Frau von der Zeitung hat ihren Block wieder ausgepackt und schaut aufmerksam und auch ein wenig amüsiert Von Willers zu Großkopf und wieder zurück.
Tönies ist etwas überrascht von dem, was er soeben ausgelöst hatte. Leicht irritiert sagt er
„Danke, dass Sie mir zugehört haben“, und setzte sich.
„Ruhe meine Damen und meine Herren, Ruhe bitte. Tönies, gibt es vielleicht auch noch eine Begründung für deinen Antrag?“
Tönies steht wieder auf.
„Nu sett di mool weller daal, Tönies. Dat op un daal dat mookt mi jo ganz kirre in Kopp.“
Tönies setzt sich.
„Also, während der Ausübung meines Berufes als Landwirt musste ich in den vergangenen Wochen vermehrt Nacktbadern begegnen. Also Hamburger, die hier nackt baden.“
Selbst der Bürgermeister musste schmunzeln. Außer Tönies Willers hat anscheinend niemand der Anwesenden „das Problem“ in der Gemeinde wahrgenommen.
„Wo siehst du nackte Leute baden und woher weißt du, dass es Hamburger sind“? fragt der rote Jupp seinen Ratskollegen quer über den Tisch.
„An der Kuhle, bei Jonny von Allwörden.“
„Stimmt“, ruft Jonny, „ich beobachte ja immer die Rehe aus meinem Küchenfenster mit´m Fernglas.“ Und dann rutscht Jonny in seine Muttersprache.
„Jümmer, wenn de Hamborger taun Booden kümmt, dann haut de Dierten af. Tauerst har ick mi argert oober denn har ick jo wat anners tau bekieken. Bi lütten har ick mi schon gau gewöhnt an de beeden. Se hebt jümmer densülbigten Platz an de anner Siet vun de Kuhl blank den grooten Böm. Dann breet se een Decke in´t  Gras ut, smiet ehre Klamotten vun Lief. Se kunn jo nich weten, dat ick vun mine Kök mang twee Weidenböm jüst op ehrn Loogerplatz kieken kann.“
Der Bürgermeister fragt Jonny noch einmal, wo genau der Lagerplatz der beiden ist.
Die NGO hat er vergessen.
„Kann man den Platz denn auch von der Straße einsehen?“
„Normal geiht dat nich, dat Gras un dat Schilf is tau hoch. Geiht nur vun min Kökenfinster. Oder, Tönies, vertell doch mool, as wie du dat jümmer mookst.“
Tönies ist nicht wohl in seiner Haut. Das hätte nun wirklich nicht so laufen dürfen. Sanni Hoellerichs Kugelschreiberspitze bewegt sich in Mordstempo über das Papier. Das ist doch echt ´mal etwas anderes aus Weidenfleth. Sie sieht schon die verschiedensten Schlagzeilen vor sich.  „Nudisten erobern Weidenfleth“ oder „Eklat im Rat: Nackte Haut sorgt für Aufregung während Ratssitzung“. Schön wäre auch: „Sextouristen haben Weidenflether Idylle entdeckt.“
„Herr Vorsitzender, wir befinden uns noch in der Sitzung, laut NGO darf Jonny sich nicht an der Debatte beteiligen.“
„Tut mir leid, Tönies. Ich setzte kraft meines Amtes die NGO vorübergehend außer Kraft.“
Das hat er mit vollem Wissen darüber gesagt, dass er natürlich kein Landesrecht außer Kraft setzen darf. Aber, wenn es der Sache dient, muss sich die Demokratie durchaus auch schon mal den aktuellen Bedingungen anpassen. Das hat früher schon geklappt und wird auch heute wieder klappen.
„Was stört dich denn so an den Nackten an Jonnys Kuhle?“
Tönies will sich schon wieder erheben, wird aber von seinem Nachbarn Abbenseth am Ärmel gezogen und bleibt sitzen.
„Herr Vorsitzender, es ist wegen der Moral und der Schulkinder. Außerdem könnte es dem Tourismus schaden.“
Dann mischt Gaby Wüstenfeld sich in die Debatte. Für sie ist immer noch nicht geklärt, wie Tönies es denn macht, also das Gucken von der Straße aus.
„Also nicht, dass ihr nun denkt, dass ich auch mal gucken will, aber interessieren täte es mich schon, Tönies. Wie machst du das denn?“
Tönies sieht zur Seite und schweigt.
Stattdessen schaltet Jonny sich wieder ein:
„Taueers har ick dacht, hei har wat an sien Oors. Jümmer, wenn hei mit den vull´ n Miststreuer vörbiföhr un dann weller op´n  Trüchwech stellt hei sick bi´n  Föhrn op de Been un luschert no de anner Siet vuné Kuhl. Ha ´n lütt beten duert bit ick rutfunnen har, dat hei nur so sehn kann, wat ick vun mine Kök in Sitten un mit´n  Feldstecher veel beter bekieken kann.“
„Is dat so, Tönies?“
„Ja, anders hätte ich doch nicht herausbekommen, ob sie sich unsittlich verhalten.“
Großkopf blickt in die Runde. „Was machen wir denn nun damit?“
Ausgerechnet der rote Jupp meldet sich zu Wort.
„Wir können doch kein Verbot erlassen, nur weil hier zwei Nackedeis an der Kuhle liegen, noch dazu, wenn man einen Trecker braucht, um etwas zu sehen. Von Jonny mal ganz abgesehen. Aber der will ja eigentlich ohnehin nur seine Rehe beobachten. Ich bin gegen ein offizielles Verbot.“
Henning Großkopf, der immer noch an das Wegerecht zu den Windmühlen dachte und schon aus Prinzip Heinsohns Vorschläge für schlecht befinden musste, griff vermittelnd ein.
„Ja, Tönies, deine Bedenken sind nicht von der Hand zu weisen. Besonders auch wegen der Kinder. Leuchtet mir ein. Und, wenn die Nacktbaderei hier Schule macht, dann haben wir statt sanftem Familientourismus ein Nudistenzentrum in Weidenfleth. Mein Vorschlag: Wir stellen einfach vorne an der Straße ein Schild auf, auf dem steht „Baden verboten“.“
Das war der kleinste gemeinsame Nenner. Der Beschluss wurde einstimmig gefasst und der erste Initiativantrag in Weidenfleth war vom Tisch.
Sanni Hoellerich musste nach Rücksprache mit ihrem Chefredakteur die etwas verwirrende Überschrift:“Nackt ja! – Baden nein!“ über ihren Bericht setzen.
Am nächsten Tag stand der Hamburger Wagen wieder an der Kuhle. Zufällig kam Gaby Wüstenfeld mit dem Fahrrad vorbei und schaute bei Jonny rein.
„Na Jonny, kann ich die Rehlein auch mal sehen?“
„Na kloor mien Deern, kum rin. Hier hest du den Feldsteker. Du mötst dor dröben mang de Bööm kieken.“
„Donnerwetter, sie liegen da und, wenn mich nicht alles täuscht, handelt es sich um einen Bock und eine Ricke.“
Beide gickelten vor sich hin.
Noch am selben Tag konnte sie ihrer Schulfreundin erzählen, dass sie die Nackten von Jonnys Kuhle mit eigenen Augen gesehen habe.
Übrigens, das Schild, das die Nackten abschrecken sollte, steht heute noch nicht, und niemand hat sich weiter um die Umsetzung des Ratsbeschlusses vom 24. Juni gekümmert.

Letztlich waren alle ganz zufrieden, so aus der Angelegenheit herausgekommen zu sein.
Alle, außer Stine Willers, der Frau von Tönies.
Von wegen, dass die deutschen Parlamentarier in ihrem Willen und ihrer Entscheidung frei sind.
In Berlin vielleicht aber nicht in Weidenfleth!
Während eines winterlichen Kaffeeklatsches bei Stine Willers, als die Likörflasche nur noch gerade eben den Boden bedeckt hatte, traute Gerda Hauschildt sich zu fragen.
„Sag mal, Stine, wieso hatte Tönies das eigentlich im Sommer plötzlich so mit der Moral und so? Ich kenne ihn ja noch ganz gut von früher, also vor deiner Zeit. Also da war er ja ganz schön locker und je mehr Fleisch zu sehen war …“
„Ich war es. Ich hatte ihn zu dem Antrag gezwungen. Hatte ihm gesagt, wenn er es nicht macht, gehe ich rüber zu den Hamburgern, der roten Zora. Ich wollte nicht, dass es noch einmal passiert. Schon gar nicht wegen der dickbusigen Schlampe mit den roten Zöpfen, die vor drei Jahren die Kate von Martha Engel an der Scheidung gekauft hatte.“
„Wie? Was? Was ist passiert?“
Es wurde mucks Mäuschen still im Raum.
„Wisst ihr noch, als wir unseren neuen Fendt hatten, musste der doch gleich über eine Woche in die Werkstatt. Tönjes hat die Vorderachse und die Lenkung im Graben zu Schrott gefahren. Bei Jonny von Allwörden an der Kuhle. Der Trottel! Statt auf die Straße zu gucken hat er nur zu den Nackedeis rübergeguckt.“
„Ja, aber Stine, das ist doch nicht schlimm, so´n  paar Nackedeis. Gibt es doch schon in jedem Familienfilm im Fernsehen zu sehen.“
„Von Internet ganz zu schweigen. Was es da alles für Sauereien zu sehen gibt“, bringt Almut Köster sich ein.
„Nee, das versteht ihr völlig verkehrt. Ich hab´ doch nichts gegen die Nackedeis. Aber 2400 € für die Schlepperreparatur nur wegen der beiden Spinner von der Scheidung.
Nee, Gerda und Almut, 2400 €, dann soll er sich lieber die Nackedeis im Fernsehen angucken!“

Die zweite Likörflasche machte die Runde im ohnehin schon sehr heiteren Damenkränzchen.
„Und“, griff Melanie Uhtenwoldt das Gespräch von vorher wieder auf, „bist du noch rüber?“
„Ja. Und ob ihr es glaubt oder nicht. Die waren super nett. Hatten auch Klamotten an. Ich musste dann ´ne Tasse Tee mit ihnen trinken. Nicht so einen Tee, wie wir ihn haben. Irgendein sündhaft teures Zeug aus dem Himalaya. Gibt es nur in der Speicherstadt. Schmeckt zum Kotzen. Zweimal haben sie mich gefragt, ob mir der Tee schmeckt. Und ich habe immer geantwortet „Nicht übel“, obwohl ich schon kurz davor war.“
„Und, hast du sie auf den Pott gesetzt? Von wegen nackt in der Öffentlichkeit rumlaufen?“
„Nö. Da haben sie ganz alleine von angefangen. Wir sollten nach diesem Zeitungsartikel bloß nicht glauben, dass sie solche, na ja, ihr wisst schon, so Typen sind, die sich vor anderen ausziehen. Wenn sie gewusst hätten, dass man sie dort sehen kann, an der Kuhle am alten Deich, sie hätten sich dort niemals nackt gezeigt. Und dann haben sie mir erzählt, dass sie überzeugte Nudisten seien, nur so für sich, weil das Nacktsein den Körper so befreit. Sie haben sich jetzt einen „Nacktgarten“ angelegt, in den man nicht von außen hineinsehen kann.“
„Außer Tönies, wenn er mit dem Fendt vorbeifährt!“
Es dauerte einen Moment, bis die Frauen wieder zur Ruhe kamen.
„Ja, die waren wirklich nett. Wir sagen nun auch „du“ zueinander. Harald und Gerlinde. Tönies, der ja bekanntlich nicht so gerne spricht, hat dann als das Nacktthema mal wieder zur Sprache kam, gesagt: „Weißt du Gerlinde, ein Nacktgarten geht bei uns nicht, weil wir rund ums Haus Kälberweide haben. Kälber sind unser Broterwerb. Von Nacktsein können wir nicht satt werden.“
Das leuchtete Gerlinde ein, schließlich konnte sie als Unternehmensberaterin wirtschaftlich denken. Dann lächelte sie plötzlich und sagte: „Harald, Schatz, was hältst du davon? Wenn Stine und Tönies keinen Nacktgarten bei sich haben können, können sie ja unseren benutzen.“
„Gute Idee, Liebes. Natürlich könnt ihr hier immer entspannen, wenn euch danach ist. Dafür ist er ja da, der Nacktgarten.“
Es war wieder verdächtig still in Tinas Stube. Bis Gerda aussprach, was alle wohl dachten.
„Und, habt ihr es ausprobiert? Mein ja nur, ihr wirkt in letzter Zeit so entspannt.“
„Sag ich nicht! Aber, wenn ihr es unbedingt wissen wollt und gerade mal keiner auf dem Hof ist, könnt ihr euch ja den Fendt nehmen und mal eben bei Harald und Gerlinde vorbeifahren.“

Dienstag, 9. Februar 2016

Florian, mein Freund








So, mein Florian, nun ist es so weit. Ich sitze und schreibe eine Geschichte über uns. 
Florian ist mit mir über Google verbunden. Er hat mich als Freund eingestuft und bekommt jedes Mal Nachricht, wenn sich bei mir im Googlebereich etwas tut. Das ist immer der Fall, wenn ich einen neuen Text auf meinen Blog poste. Bis vor einigen Wochen hat er sich immer aufgeregt über meine neuen Posts, ohne den Inhalt der Geschichten zu kennen. Über Viber  und auch über die Kommentarfunktion äußerte er seinen Unmut und forderte mich auch schon mal auf „den Scheiß sofort zu löschen“.  Das habe ich natürlich nicht gemacht sondern habe ihn stattdessen aufgefordert, meine Geschichten zu lesen, bevor er derartige Forderungen stellt. Das wollte oder konnte er nicht.  Allerdings stellte er die Kommentierung meiner neuen Posts ein und fragte stattdessen regelmäßig an, wann ich denn endlich einmal eine Geschichte über unsere Freundschaft schreiben würde. Meine Standardantwort lautete dann immer: „Wenn mir etwas Gutes einfällt, schreibe ich es auf. Vielleicht kannst du mir ja sagen,  was ich schreiben soll.“
Seine Antwort war dann meistens: „Weiß nicht, über unsere Freundschaft. Aber keinen Scheiß schreiben!“

Ich hole aus. Florian dürfte jetzt vielleicht 23 Jahre alt sein. Bei seiner Geburt gab es seinerzeit Probleme und eine kurzfristige Unterversorgung seines Körpers sorgte für bleibende Behinderungen bei ihm. Gegen alle Prognosen der Ärzte hat Florian sich besser entwickelt, als jemals zu erwarten war. Er lernte gehen, sprechen und konnte ganz normal Nahrung zu sich nehmen. Seine Motorik ist bis heute noch etwas gestört. Das kann zum Teil aber auch in seiner sehr eingeschränkten Sehkraft begründet sein. Ich bin immer erstaunt, wie gewandt sich Florian in gewohnter und vertrauter Umgebung bewegt. Wenn wir zusammen in der Stadt unterwegs sind, sucht er meine Hilfe, weil er auf Distanz wohl nur Schatten wahrnimmt. Löcher im Boden, Stufen oder Bordsteinkanten werden zu hässlichen Stolperfallen und der Straßenverkehr wird zu einer tödlichen Gefahr für ihn. Ich vermute, dass Florian sich nicht alleine orientieren könnte, weil ihm vertraute Bezugspunkte am Wegesrand aufgrund seiner Sehschwäche fehlen.
Ob meine Vermutung wirklich zutrifft, ist völlig offen. Im weiteren Verlauf der Geschichte wird noch deutlich, dass ich Florians Leistungsmöglichkeiten schon mehrfach unterschätzt hatte.
Ich bin Florian irgendwann in der ersten Dekade dieses Jahrhunderts begegnet. Er kam als Schüler einer Lebenshilfegruppe zu mir an die Schule. Die Gruppe bestand vielleicht aus 12-16 Kindern mit unterschiedlichsten Behinderungen. Eines hatten sie alle gemein: Ihre Handicaps waren zu schwerwiegend, um regulär in einer Schule eingeschult werden zu können. Durch die Kooperation mit unserer Schule konnten die Schülerinnen und Schüler allerdings am Schulleben und je nach den individuellen Möglichkeiten auch in einige Fachbereichen am Unterricht teilnehmen.  Florian hat den Sport-, Biologie-, Geschichts- und Erdkundeunterricht seiner Partnerklasse besucht.
Gelegentlich habe ich die Kooperationsgruppe in ihren Räumen besucht und mich interessiert an den Kindern und der dort geleisteten Arbeit gezeigt. Bei diesen Gelegenheiten muss mein Freund Florian auf mich aufmerksam geworden sein. Irgendwann stand er nachmittags in meinem Büro. Ich fragte ihn: „Na, Florian, was kann ich für dich tun?“
„Ich wollte dir nur Tschüß sagen“, gab er zur Antwort.
Er kam zu mir, umarmte mich zaghaft und legte seinen Kopf ganz sanft an meine Brust.
Bald schon kam er täglich, um sich zu verabschieden. Erschien er einmal nicht, habe ich oben bei Christiane gefragt, ob Florian vielleicht krank sei. Und, wenn ich einmal nicht am Platz war, erkundigte er sich im Nachbarbüro oder im Sekretariat nach mir. Den Weg von meinem Büro zum Parkplatz, wo der Bus der Lebenshilfe wartete, bewältigte Florian ganz alleine, obwohl einige Stufen und Stolperfallen zu bewältigen waren. Das spricht dafür, dass er sein geringes Sehvermögen mit seinem Tastsinn, dem Gehör und gutem Gedächtnis für einmal begangene Wege ausgleichen konnte.
Als ich im Januar 2012 in den Ruhestand ging, suchte Florian mich auch an meinem letzten Arbeitstag auf. Er war sichtlich erregt und es dauerte eine ganze Zeit, bis er mir verständlich gemacht hatte, dass er große Angst habe, dass unsere Freundschaft nun ein Ende haben würde. Ich habe ihn dann in den Arm genommen und ihm versprochen, dass wir uns auch weiterhin gelegentlich sehen würden.
Und so war es dann auch. Ungefähr alle sechs Monate verabredeten wir uns an einem Wochenendtag. Florian hatte ja schließlich noch Schule. Zwischendurch rief er mich an. Wenn ich nicht erreichbar war versuchte er es im Abstand einer Stunde erneut. Ich versuchte ihm zu erklären, dass es genügen würde, wenn wir einmal in der Woche miteinander telefonieren würden. Seine Geduld reichte nicht allzu lange, dann bemühte er wieder sein Telefon. Es folgten ernste Worte und die Gefahr, dass unsere Freundschaft beendet werden könnte, bewirkte tatsächlich, dass Ruhe am Telefon einkehrte.
Die große Überraschung für mich trat ein, als ich eine SMS von Florian auf meinem Handy vorfand. Ich antwortete ihm und fragte, wer den Text für ihn geschrieben habe. Er war es selbst gewesen und ich musste feststellen, dass ich all die Jahre nicht gewusst hatte, dass Florian schreiben kann.
Von dem Zeitpunkt schrieben wir uns E-Mails und SMS.
Inzwischen wurde Florian aus der Schule entlassen und er ging jeden Tag nach Stade in eine Lebenshilfeeinrichtung zum Arbeiten. Stück für Stück erfuhr ich mehr über sein Leben. Es stellte sich heraus, dass ich seine Mutter und seinen Vater bereits als Schüler hatte und dass seine Großeltern, Onkel und Tanten mir ebenfalls alle bekannt waren. Wenn wir uns verabredeten, telefonierte ich vorher mit seiner Mutter, die mir noch etwas mehr über Florians Behinderung erzählen konnte. Wenn wir uns trafen, holte ich Florian an seinem Zuhause in Dornbusch ab. Meistens, wenn das Wetter es erlaubte, fuhren wir auf die Elbinsel Krautsand. Wir machten einen kleinen Spaziergang über den Strand oder auf dem Deich und kehrten dann irgendwo ein, um eine Cola zu trinken. Florian hatte immer sein Smartphone dabei. Einmal berichtete er mir, dass er sich von Whats App verabschieden wolle, weil das ja nach einem Jahr Geld kosten würde. In dem Zusammenhang fragte er ob wir nicht Weiber auf unsere Handys nehmen wollten.
„Nein Danke“, sagte ich ihm. „keine Weiber auf mein Handy!“
Er guckte etwas irritiert.
„Nein, keine Weiber sondern Weiber.“
Nun war ich derjenige, der nichts mehr verstand.
„Ich verstehe immer nur Weiber. Kann damit nichts anfangen.“
Dann gelang ihm die Aufklärung. Viber, gesprochen wie die deutschen Weiber, ist eine Handy- und PC-App mit der man kostenlos telefonieren, Nachrichten und Bilder verschicken kann.
„Guck mal hier!“

 

Florian berührt fast das Display und die Tastatur seines Handys, die Finger haben zwischen Kopf und Telefon kaum den nötigen Platz zum Arbeiten. Dann hatte er, was er mir zeigen wollte.
„Das musst du auch haben, dann können wir uns immer schreiben und das kostet nichts. Whats App ist Mist!!“
„Ich kann das nicht, Florian. Ich kenne mich nicht so aus mit Handys und Apps.“
Etwas genervt hebt Florian den Kopf und sagt dann einmal wieder zu meiner großen Überraschung:
„Gib mal dein Handy her, ich lade dir eben mal die App runter.“
Mit großem Erstaunen verfolgte ich seine Arbeit.
„Wie ist dein Microsoft Account?“
„Keine Ahnung“, antwortete ich ihm. „Ich weiß nicht einmal, ob ich einen habe.“
„Na, dann richte ich dir eben einen neuen ein.“
Ich kam aus dem Staunen nicht heraus. Nach einigen Minuten hatte ich Viber auf dem Handy und wir begannen unser neues Kommunikationsportal auszuprobieren. Florian zeigte mir alle Funktionen: Telefonieren, geschriebene Nachrichten, Bilder oder Sprachnachrichten verschicken. Ich war mindestens so begeistert von den gerade erst entdeckten Fähigkeiten meines Freundes wie von der App selber.
Zu Hause gelang es mir mit telefonischer Hilfe von Florian, Viber auch auf meinem PC zu installieren. Bei unserem nächsten Treffen wollte Florian die App auch auf Ullas Handy installieren, damit auch Ulla und ich kostenlos miteinander telefonieren können. Das hat er dann auch gemacht.
Die nächsten Wochen und Monate blieb das Telefon still. Wir kommunizierten ausschließlich über Viber. Es ist so bequem und auf der PC Tastatur kann man so schön schnell schreiben. Immer wieder musste ich Florian bestätigen, wie gut es ist, dass wir Viber haben. Ja, Viber hat echt ´was. Das war schon eine ganz schön coole Entdeckung, die du da gemacht hast, Florian.
Im Frühjahr 2015 standen große Veränderungen in Florians Leben an. Seine Mutter plante einen Umzug in die Nähe von Bremervörde und Florian musste sich langsam an den Gedanken gewöhnen, dass er nunmehr mit 21 Jahren ein Alter erreicht hatte, ab dem er ein Leben ohne die ständige Präsenz seiner Mutter führen sollte. Aufregende Zeiten begannen mit Probewohnen in Stade und dann in einer betreuten Wohneinrichtung in Bremervörde. Bald schon stellte sich heraus, dass Florian ab Sommer in der Wohneinrichtung der Lebenshilfe in Bremervörde in der Heinrich Zille Straße wohnen würde. Je näher der Zeitpunkt rückte, desto aufgeregter wurde mein Freund. Aus unseren Viberbegegnungen konnte ich ablesen, dass ihn nicht nur die Trennung von Dornbusch, seiner Mutter, der vertrauten Umgebung beängstigte. Er musste sich auf neue Menschen einstellen. Schon lange hatte Florian die Erfahrung gemacht, dass sein Mitmenschen sehr unterschiedlich mit ihm umgingen. Da gab es durchaus auch einige, die er gar nicht mochte und die ihm zum Teil auch Angst machten.
Und dann gab es ja noch ein ganz anderes Problem. Bei fast jedem Kontakt musste ich Florian versichern, dass ich ihn auch in Bremervörde besuchen würde. Ich glaube, dass ihm ein geographisches Denken fast völlig fehlt. Er spürt, dass Bremervörde nicht so nah ist, wie Wischhafen oder Freiburg. Seine Angst bestand darin, dass ich ihn nun, da er ja so weit entfernt wohnt, nicht mehr besuchen würde. Ab Juli nahm er mir bei jeder Gelegenheit das Versprechen ab, ihn auch wirklich zu besuchen und er fragte dann auch schon jedes Mal nach einem konkreten Termin. Im August wurde dann ein Termin im September festgelegt.
Für Zeit hat Florian ein ganz gutes Verständnis. Er kann die Wochentage unterscheiden und kann sich auch Daten aus dem Kalender merken und rechnet mir auch schon einmal vor, wie viele Tage es noch bis zu seinem Geburtstag oder unserem nächsten Treffen sind. Während ich im August verreist war, zog Florian in sein neues Zimmer in der Heinrich Zille Straße ein. Zeiten, in denen ich nicht zu Hause bin, werden von Florian als Unterbrechung unserer Beziehung akzeptiert. Aber, kaum dass ich wieder Zu Hause bin, sucht und fordert er die Kommunikation mit mir. Irgendwie hat es sich so eingependelt, dass wir täglich einen Dialog über Viber führen. Wir haben uns auf den Abend geeinigt. Da gibt es nur das Problem, dass ich viele Abendtermine habe und manches Mal erst sehr spät an den PC komme. Oftmals finde ich dann schon eine Batterie von Fragen vor.
„Wo bist du?“  „Wo bleibst du?“ „Hast mich doch nicht vergessen?“ „Du weißt doch, ich bin dein Freund.“ „Bitte melde dich.“ Oder im Abstand von 30 Minuten oder weniger: „Ich warte“.
Unsere Kommunikation verläuft immer nach dem gleichen Muster. Sowohl Florian als auch ich wissen manches Mal schon im Voraus, was der andere gleich schreiben wird. Oftmals lasse ich ihn nicht durch mit Standardfloskeln. Dann zwinge ich ihn, nachzudenken und präzise auf meine Frage zu antworten. Das strengt ihn dann sehr an. Umso erfreuter ist er, wenn er die Aufgabe erledigt hat und ich ihn erlöse. Er kennt mich inzwischen sehr gut und spürt, was ich von ihm erwarte. Vieles schreibt er nach Gehör. Ich lasse ihn nicht immer damit durch und schreibe ihm die richtige Bedeutung vor. Einige Korrekturen merkt er sich und macht die Fehler nicht wieder. Ich bin erstaunt, wie gut Florian mit der Schreiberei zurechtkommt. Meine Frage, wie er das Schreiben gelernt hat, kann er mir nicht beantworten. Es ist nicht so selbstverständlich, dass er es in der Lebenshilfe gelernt hat. Vieles hat er sich selber beigebracht oder von seinem Bruder gelernt.
Über die tägliche Kommunikation erfahre ich ein wenig über Florians Alltag. An den Arbeitstagen begleitet er eine Gruppe, die Gartenarbeiten bei Kunden verrichtet. Die Arbeiten mag er nicht so gerne. Das ist verständlich, weil ihm die Arbeiten durch seine Sehbehinderung nicht so von der Hand gehen. Aber durch die Arbeit lernt er die Zeit ohne Arbeit als etwas Angenehmes zu schätzen. In seiner freien Zeit beschäftigt Florian gerne mit seiner Spielekonsole. Dann wird geschossen und geknallt oder es werden wilde Verfolgungsrennen auf dem Bildschirm gefahren. Ich habe ihn bei meinem letzten Besuch dabei beobachtet. Er spielt die Spiele mit System und bewegt sich auf hohem Level. Eine Beschäftigung, der er ungetrübt nachgehen kann, ist das Hören von Musik. Don Omar, ein Puerto-ricanischer Reggae Musiker und Schauspieler, hat es Florian im Moment besonders angetan. Die stark rythmusbetonte Musik liegt ihm. Ein Bruder hat ihm den Tipp gegeben. Über Arbeiten in der Wohngemeinschaft erzählt er nichts. Um sein Zimmer muss er sich nach seinen Worten nicht kümmern. MitbewohnerInnen habe ich beim Tischdienst gesehen. Dass er selber einen Dienst übernehmen muss, hat er mir nicht gesagt.
Über seine sozialen Kontakte erfahre ich fast nichts. Einige Wochenenden verbringt er bei seiner Mutter und auch zu den Großeltern und Geschwistern gibt es regelmäßigen Kontakt. Ich weiß nicht, ob er in seiner WG ein Leben nur für sich führt oder ob er mit seinen Mitbewohnerinnen kommuniziert. Es gibt einige Kontakte über Viber, die ich aber nicht einordnen kann. Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich nach seiner Familie die wichtigste Person in seinem Leben bin.
Ich versuche Florian seit einigen Wochen zu erklären, dass es noch viele andere Freundinnen und Freunde in meinem Leben gibt, zu denen ich vielleicht nur ein oder zwei Mal im Jahr Kontakt habe. Er soll verstehen, dass mein Plan ein anderer als der seine ist. Ich will ihm verständlich machen, dass er in meinem Tag nur ein kleiner Teil von einem Ganzen ist und dass es noch viele andere Dinge und Personen gibt, denen ich mich zuwenden will oder muss. Das ist für ihn nicht einfach zu verstehen, weil sein Leben von so eingeschränkten Möglichkeiten bestimmt wird. Ich bin ganz zuversichtlich, er wird auch das noch lernen.
Mir ist aber bei meinen Besuchen aufgefallen, dass er sich offensichtlich in seiner Umgebung wohlfühlt. Die Betreuerinnen, die ich kennengelernt habe, machten alle einen freundlichen und netten Eindruck.
Meine Besuche in Bremervörde verlaufen nach gleichem Muster wie früher schon in Dornbusch. Wir unternehmen gemeinsam einen Ausflug an den See oder in die Stadt zum gemeinsamen Frühstück. Nach etwa zwei Stunden mache ich mich wieder auf den Weg. Beim Abschied beteuern wir uns gegenseitig, wie gut es doch sei, dass wir uns haben.
Manchmal fragst du mich, lieber Florian, ob du mich „nervst“. Ja, manchmal ist das schon so. Immer dann, wenn du so ungeduldig bist und nicht warten kannst, bis ich mich melde. Aber daran arbeiten wir ja und ich bin mir ganz sicher, dass du noch geduldiger wirst.  Du hast schon so viele tolle Dinge in deinem Leben gelernt. Das lernst du auch noch.
So, lieber Florian, nun habe ich die Geschichte von unserer Freundschaft aufgeschrieben. Ich schicke sie dir per E-Mail. Dann hast du sie groß auf dem Bildschirm und kannst sie besser lesen. Meine anderen Geschichten wolltest du ja nie lesen. Nun bin ich gespannt, ob du diese, deine Geschichte lesen wirst. Wenn ich etwas Wichtiges vergessen habe, musst du es mir schreiben.

Ich habe nun Antwort von dir bekommen. Zu meiner Freude hast du diese lange Geschichte ganz gelesen. Don Omar und seine, Florians, Freude an dessen Musik hatte ich vergessen zu erzählen. Das habe ich nun nachgeholt. Und ich sollte doch noch schreiben, wie lieb er mich hat. Das, lieber Florian spüre ich fast jedes Mal, wenn wir uns schreiben oder treffen. Meinen letzten Besuch bei Florian machte ich wenige Tage nach meinem Geburtstag. Den Tag hatte er abgespeichert und als ich sein Zimmer betrat, hat er mir erstmal einen großen Kasten mit köstlichsten Pralinen geschenkt. Den hatte er in der Stadt für mich gekauft. Mein lieber Florian, so lange der Vorrat reicht, verwöhne ich mich täglich mit einer oder zwei dieser kleinen Köstlichkeiten. Danke, hast du wirklich sehr gut ausgesucht.
Du möchtest immer von mir wissen, wie groß unsere Freundschaft ist. Diese Geschichte soll die Antwort sein. Sie muss schon ganz schön groß sein, wenn ich mich mehrere Stunden hinsetze und eine Geschichte über unsere ganz besondere Freundschaft schreibe.
Lass es dir gutgehen, mein Freund.