Dienstag, 4. Februar 2014

Wolli - Der Bundessieger



Meine Geschichte ist schon ein wenig älter. Was hier beschrieben wird, ist zu einem Teil ausgedacht. Ein Teil beruht auf Tatsachen, oder, was man so dafür hält, ich war ja schließlich nicht dabei. Und, wenn auch das eine oder andere ausgedacht sein mag, diese Geschichte hätte genauso hier in meinem Dorf passiert sein können.

 Sie handelt von einer dreiköpfigen Familie. Da ist der Familienvater John, der die Woche über mit aufwendigen Rohrkonstruktionen in der Chemieindustrie beschäftigt ist. Zu ihm gehört Karin, seine fröhliche und durchaus sehr resolute Frau mit viel Sinn für das Praktische. Der dritte in der Hausgemeinschaft ist  der 8-jährige Wolfhard, der meist nur Wolli genannt wird. Wolli und Karin gehen tagsüber gerne etwas spazieren. Gelegentlich entfernt sich der ungestüme, langhaarige Wolli etwas weiter von Karin, weil irgendetwas am Wegesrand interessanter ist, als der eintönige Trott neben Karin her. Bemerkt Karin, dass Wolli nicht mehr neben ihr geht, bleibt sie stehen und versucht mit möglichst energisch klingender Stimme ihren Wolli zum Kommen zu bewegen.
„Komm zu Mama, Wolli!“ schallt es dann durch die Büsche, die uns von Karin und Wolli trennen.
Ganz kritisch wird es, wenn der kleine Wolli nicht hören will und Karin mit immer eindringlicherer Stimme „Komm zu Mama!“ rufend auf ihn zu geht.
Es gibt da immer wieder kleine Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden. Zwischen John und Wolli gibt es die eher nicht. Für Wolli ist John eine unangezweifelte Autorität. Er reagiert auf die kleinsten Handzeichen und Kommandos. Während Wolli sich Karin gegenüber provozierend verweigert, ist das Verhältnis zwischen John und Wolli von beinah schon devoter Unterwürfigkeit gekennzeichnet.
Eigentlich hätte das so nicht sein dürfen bei dem Preis, den John und Karin für ihren Wolfhard bezahlt haben.
Ach ja, das muss man vielleicht noch wissen, Wolli heißt eigentlich Wolfhard von der Wachtelburg, also adlig, und er ist ein Deutschlanghaar Rüde, der fix und fertig zum Jagdhund ausgebildet ins Haus kam.
Und, dass der Wolli auch bei Karin pariert, dass er zu Mama kommt,  wenn Mama ruft, kann man bei dem Geld, das für ihn auf die Wachtelburg geflossen ist, schon erwarten. Zumal noch ein kleiner Zuschlag fällig wurde, weil der Wolli nicht nur adlig ist sondern noch dazu Bundessieger in seinem Jahrgang geworden ist.
Bundessieger!! Und wir sind Nachbarn von einem Bundessieger!
Genau weiß ich nicht, wie man bei den Deutschlanghaar zum Bundessieger wird; aber gut und ein wenig teurer anhören tut es sich schon allemal.

Im Sommer geht John gerne mal auf die Yacht. Dann nimmt er Karin mit und Wolli, Bundessieger hin oder her, spielt dann keine Rolle mehr. Er muss zu Hause bleiben.
Im Winter geht John auch gern mal auf die Jagd. Dann nimmt er Wolli mit, den Bundessieger, und Karin muss zu Hause bleiben.
Ja, so hat alles seine Ordnung in der Familie Taylor. 

Dezember, Treibjagdzeit!
Im Hause Taylor herrscht nervöse Stimmung. John ist nervös, weil er mit Wolli auf die Jagd will. Wolli ist nervös, weil er merkt, dass John zur Jagd will. Karin ist nervös, weil sie vor der Jagd nie weiß, was sie nach der Jagd alles einfrieren muss.
Es ist so weit! Wolli kann seine Freude kaum unterdrücken, läuft vor zum Auto, zurück zu John und, kaum dass der Kofferraumdeckel hochklappt, setzt er mit einem gewaltigen Sprung ins Auto. John setzt sich ans Steuer, ein flüchtiger Gruß noch zu Karin. Waidmanns Heil! Die Jagd kann beginnen.
Das erste Treiben in Allerhöhe zwischen den Ortschaften Hambürden und Friedeberg. In sicherer Entfernung, geschützt vor den Schrotkugeln, die für die Kombis und geländegängigen Offroader der Jäger zwar nicht tödlich sind, jedoch hässliche kleine Löcher und Beulen hinterlassen, werden die Autos der Jagdgesellschaft abgestellt. Der Jagdinhaber erläutert der versammelten Jagdgesellschaft die Choreographie des ersten Treibens. Wolli befindet sich in guter Gesellschaft. Fast jeder Flintenträger hat neben sich einen Deutsch Langhaar. Sie sind extrem aufgeregt, sie kennen die Jagd und sie sind erregt ob der vielen schmucken Hündinnen und Rüden um sie herum. Aufgeregt auch die Hundebesitzer vor der Jagd. Bange Fragen gehen durch die Köpfe. Machen wir ein gutes Bild? Wird sie beim Büchsenknall ruhig halten oder wieder durchdrehen? Wird er mir gehorchen? Wird er sich wieder mit Hasso (von der Hasenheide, auch adlig) beißen?
Jagdglück ist für viele Hundeführer von zweitrangiger Bedeutung. Gutes Bild machen mit dem Hund und, wenn dann auch noch ein Hase oder Fasan auf der Strecke bleibt, ist die Jagd wirklich gut gelaufen.
Allein John ist die Ruhe selbst was zum einen an seiner über den Kanal mitgebrachten britischen Ausgeglichenheit lag  aber zu einem Großteil in der Tatsache begründet war, dass man bei einem Bundessieger schon davon ausgehen könne, dass er sich verhält, wie man es erwartet. Etwas neidvoll schielt der eine oder andere Hundebesitzer hinüber zu John, der kleine Rauchwölkchen paffend  die eine Hand am Pfeifenkopf die andere am Flintenkolben den Instruktionen folgte. Neben ihm liegt Wolli, aufmerksam die Szenerie beobachtend, unangeleint im Gras.
Ja, ohne Leine!
 Kein Laut kommt von ihm, nicht einmal ein Winseln obwohl die schöne Babs (eigentlich Barbara von den Rabenklippen) nur zwei Meter entfernt alles daran setzt trotz kurzer Leine einen kleinen Blitzbesuch bei Wolli zu machen. Ihr Herrchen ist wütend und etwas beschämt. Ablenkende Gedanken jagen ihm durch den Kopf.  Muss das denn jetzt sein? Die anderen gucken schon alle. Hätte ich doch bloß nicht versucht, meine Babs selbst auszubilden. Kann mir schon denken, was beim Schüsseltreiben heute Abend passiert. Gut, dass Henrys Hund auch nicht still hält. Und der Kurzhaar da drüben von dem Hamburger (das ist kein Adelstitel, gemeint ist der Jagdkamerad aus Hamburg, der hier heute eingeladen ist) kann auch nichts, jault die ganze Zeit rum.
Jeder begibt sich auf seine Position. Bis alle Plätze besetzt sind und die Treiberkette sich auf die Schützen zu bewegt, wird es noch einige Zeit dauern. John hatte es nicht weit, gut 200m neben Anna Großkopfs Kate stand er etwas geschützt hinter einer Kopfweide.
Die Sonne kommt durch, das Wasser in den Treckerspuren auf dem Acker glänzt im Gegenlicht, Annas Hühner picken sich ohne irgendein erkennbares System durch Garten. Gleich muss es losgehen. Wenn alles nach Plan läuft, beginnt die Jagd in wenigen Minuten.
Es ist so weit. Der Wind treibt die noch fernen Rufe der Treiber über die Felder und Weiden, hier und da leuchtet schon mal eine signalrote Weste in der winterlichen Marschenlandschaft. John macht sich bereit obwohl es noch einige Zeit dauern wird, bis  Hase oder Fasan sich in Schussentfernung auf die Flucht begeben werden. Zwei Schüsse sind vom Allerhöher Deich her zu hören. Jetzt ist es da, das Jagdfieber. John konzentriert sich auf sein Schussfeld. Die Treiber nähern sich mit Getöse, sie sind jetzt schon deutlich zu sehen.
Auch der Bundessieger weiß, dass er schon in allernächster Zeit gefordert wird, um erlegtes Wild zu apportieren. Von John unbemerkt hat Wolfhard sich erhoben und beobachtet das Geschehen mit mindestens gleichgroßer Konzentration, wie sein Herr. Schüsse von ganz nah künden an, dass es hier jeden Moment losgehen kann. Geschrei von links: „Foss, Foss, Fuchs!“ John sieht ihn, sieht ihn nicht, sieht ihn. Kaum im Visier ist er schon wieder verdeckt durch Gräser, Schilf und Gestrüpp. Noch ist er zu weit entfernt, aber er läuft der Flinte fast genau entgegen.
Der Bundessieger fühlt sich angesprochen, steht auf und versucht nervös zitternd den Grund der Aufregung zu ermitteln.  Dann erliegt er einem folgenschweren Fehler. Anna Großkopfs Hühner durch die nahen Gewehrschüsse aufgeschreckt, flattern dem Sicherheit versprechenden Stall entgegen. Da haben sie aber die Kondition eines Bundessiegers vom Format Wollis gründlich unterschätzt. Am Hühnerloch staut sich das Federvieh, es ist immer nur Platz für ein Huhn zurzeit. Bekanntlich beißen den Letzten die Hunde. Hier hat es eine weiße Legehenne mittleren Alters getroffen. Es knackte kaum hörbar und die Henne war im Hühnerhimmel. Um sicher zu gehen schüttelte Wolli die tote Henne zwischen den Zähnen noch einige Male kräftig hin und her. Mit vor Stolz erhobenem Haupt, die Beute im Fang, kehrt Wolli zu seinem Herren zurück, um ihm, wie in seiner teuren Ausbildung erlernt, das erlegte Wild zu Füßen zu legen.
Zeitgleich zu dem Drama im Hühnerhof erwartet John den immer näher kommenden Fuchs mit der Waffe im Anschlag. Was ist das? Noch weit hinter dem Fuchs verfolgt ein Jagdhund einen Hasen gegen den er, das sollte er eigentlich wissen, keine Chance hat. Bekanntlich sind ja nur viele Hunde des Hasen Tod!
 „Oh, oh, oh“, geht es John durch den Kopf, „passiert doch jedes Mal, dass ein Hund dem Jagdtrieb nicht widerstehen kann.“
Ein kurzer Blick zum treuen Wolfhard. Aber da, wo er ihn das letzte Mal noch im Gras neben sich liegen sah, war nichts mehr. Die Flinte geht runter und, was John, der seinen Wolfhard suchte, nicht mehr sah, Reinicke Fuchs verließ den Kessel in bester Schussdistanz um sich in einem sicheren Schilfdickicht seiner sprichwörtlichen Schläue zu erfreuen.
Schwanzwedelnd nähert sich Wolfhard vom Anwesen Großkopf seinem Herren. Von der anderen Seite kommt Hansi Funck, die Flinte schon umgehängt und ein Hase an den Hinterläufen von Hansis großer Hand gepackt, schaukelt im Rhythmus der Schritte. Es tropft noch etwas Blut aus dem Hasenmund. Dieses Treiben war vorbei. Mit der Sonne kamen einige Treiber. Alle zusammen konnten teilhaben an der Freude des Bundessiegers als der seine gefiederte Beute mit sichtbar zur Schau getragenem Stolz apportierte.
Wolfhard war etwas irritiert. Etwas mehr Freude und Anerkennung von seinem Herren hatte er eigentlich schon erwartet. Wo blieben diesmal die lobenden Worte und das angenehme Kraulen durch Johns Hand im langen, braunen, deutschen Nackenhaar des Deutsch Langhaars. Nichts davon! Stattdessen von allen Seiten fröhliche Kommentare, ironisch gemeinte Glückwünsche und Hansi Funck, der immer noch nicht verstehen konnte, warum John den Fuchs nicht gekriegt hat:
„Mensch, besser kann man ihn doch gar nicht serviert bekommen. Warum hast du nicht abgedrückt?“

Das Schüsseltreiben verließ John früher als sonst. Sein Missgeschick war das Thema in der Runde. Die Wiederholungen störten die Jagdgesellschaft nicht im Geringsten. Mit steigendem Alkoholpegel erreichte die Fröhlichkeit für John ein unerträgliches Ausmaß. Als dann auch noch Hansi Funck aufstand und ein weiteres Mal die Strecke des Tages verkündete, nach Nennung der 27 Hasen eine kleine Pause einlegte und mit vor Lachen fast erstickter Stimme  hervorbrachte „…und eine weiße Legehenne!“ verabschiedete sich John, kaum dass sich das Gelächter im Raum gelegt hatte mit den Worten: „Muss morgen früh raus.“
Zu Hause angekommen folgte Wolfhard immer noch nicht verstehend, was da heute schief gegangen  war, eingeschnappt Johns Aufforderung in den Zwinger zu gehen. Karin zeigte sich etwas erstaunt über die frühe Rückkehr ihres Mannes und fragte ihn in ihrem Heimatdialekt: „Na, wo haste denn die Viecher hinjelecht?“
John berichtet von seiner großen Enttäuschung über Wolfhards Fehlverhalten.
„Weißt du, Karin, ich hatte mich so auf ihn verlassen, ohne Leine, weißt du. Bundessieger und dann so etwas.“
Er tat Karin schon ein wenig leid als ihr ein Gedanke durch den Kopf schoss.
„Und was is nu mit dem Huhn? Wo haste dat jelassen?“
„Das habe ich zu Großkopf gebracht.“
„Und, wat hat die jesacht? Hat se jeschimpft?“
Wer Anna Großkopf kennt, ahnt, was sich da abgespielt hat.
„Und ob. Sch..jägerei hat sie gesagt. Das kommt dabei raus. Mein bestes Huhn. Natürlich ihr bestes Huhn. Würde mich nicht wundern, wenn das schon gar keine Eier mehr gelegt hätte. Sie hat rumgezetert und ließ mich gar nicht zu Wort kommen.“
„Ja, und was haste jemacht?“
„Ich hab´ ihr zehn Mark in die Hand gedrückt und dann hat sie den Mund gehalten.“
„Zehn Mark für´ne alte Henne, sach mal spinnst du? Haste denn dat Huhn wenichstens mitjebracht?“
Nee, das hatte er natürlich nicht. Und als Karin ihn losschicken wollte, das Huhn zu holen, das er ja schließlich bezahlt habe, soll er kräftig auf den Tisch gehauen haben. Er wollte mit der ganzen Geschichte nichts mehr zu tun haben. Das konnte ich gut verstehen und Karin kannte ihren John auch gut genug, um nicht weiter davon zu reden.

Woher ich das alles weiß?

Na ja, man hört ja so einiges im Dorf und meine Frau spielt einmal im Monat Bridge mit Karin. Das ist dann auch immer schön für mich, wenn ich am nächsten Morgen beim Frühstück die Geschichten aus der Bridgerunde höre.
„Du glaubst es nicht, Karin war immer noch empört über die Kurzsichtigkeit ihres Mannes. Nee, was haben wir gelacht. Nur Karin konnte immer noch nicht mitlachen.  „Zehn Mark bezahlt für dat blöde Huhn un nich ma mitjebracht, gibt´s denn so wat?!““

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen