Freitag, 17. März 2023

Gretchen von Allwörden-Auf der Heyde

oder

Wie der nackte Muskelmann von Hohen Wisch zu seiner pinkfarbenen Boxershorts kam

 


 

Wo fange ich bloß an? Vielleicht mit Gretchen Auf der Heyde, die eigentlich von Allwörden-Auf der Heyde heißt. Sie hatte sich damals, im letzten Jahrhundert, als mit der Einführung der Doppelnamen viele fortschrittliche Frauen einen tüchtigen Schritt in Richtung Gleichberechtigung taten, dazu entschlossen, ihren Mädchennamen nach der Eheschließung mit Auf der Heyde aus Hohen Wisch weiterleben zu lassen. Gretchen von Allwörden-Auf der Heyde. Was mir eigentlich ganz gut gefiel, als ich vor einigen Jahren erstmals ihren vollen Namen kennengelernt hatte, erwies sich für Gretchen als alltagsuntauglich. Einfach zu lang! Am Telefon zum Beispiel. Versuch´ doch mal ganz schnell Von Allwörden-Auf der Heyde zu sprechen. Selbst, wenn du ganz schnell bist, ist es irgendwie immer noch zu lang. Die ewigen Nachfragen, die ellenlange Unterschrift! Das nervt.

Gretchen verkürzte schon nach wenigen Monaten ihren Nachnamen im alltäglichen Gebrauch auf gut die Hälfte. Und da sie für die meisten Menschen in ihre Umfeld ohnehin nur „die von Hauke Auf der Heyde“ war, brauchte sich niemand richtig umzustellen.

Hauke hat der Herrgott viel zu früh zu sich gerufen. Bis er den Tod zwischen Hans, dem Deckbullen, und der Stallwand fand, waren alle bisherigen Versuche, einen Hoferben zu zeugen, erfolglos geblieben. Gretchen blieb nach seinem Tod bei seinem Namen Auf der Heyde. Mit den Jahren wurde sie immer wunderlicher, dankte dem Herrgott, dass er ihren Hauke zu sich geholt hat. Irgendwann verließ sie den abgelegenen Hof im Grenzgebiet zwischen den Kehdinger Mooren und der Ostemarsch nur noch in ausgesprochenen Ausnahmefällen. Hauke hatte sie gut versorgt zurückgelassen. Sie lebte von einer Unfallversicherung und der jährliche Pacht, die sie für ihre Ländereien bezog. Tiere gab es auf dem Hof seit Haukes Zeiten nicht mehr.

Gretchens Hauptbeschäftigung bestand im Verfassen religiöser Verse. Ihr Neffe Kevin wird einmal nach Gretchens Ableben Wochen oder gar Monate zum Lesen brauchen, wenn er nicht gleich auf die Idee mit der Entsorgung im Papiercontainer kommen wird.

Gretchens Beitrag zum Energiesparen im Ukrainewinter 22/23 bestand in der Absenkung der Raumtemperatur auf 18°C. Ohne dicke Decke und heiße Getränke lässt es sich schwer aushalten – schon gar nicht, wenn man am Schreibtisch sitzt und Verse zum Lobe des Herren zu Papier bringt. Egal ob die niedrige Temperatur, die dicke Decke oder vielleicht auch beides die Ursache war, Gretchen Auf der Heydes Körper reagierte mit schmerzhafter Verspannung. Irgendwann ging nichts mehr und sie quälte sich zum Doktor nach Friedeberg.

Fango Massage! Keine Pillen, keine Spritze! Es führte kein Weg vorbei am Physio Therapie Zentrum in Hohen Wisch.

Dort begegnete man dieser schüchternen  und zurückhaltenden Frau  gewohnt nett und freundlich. Als Lena, die fröhliche Therapeutin aus Lettland, die Kabine 1 betrat, hatte Gretchen Auf der Heyde sich bereits bäuchlings mit freiem Rücken auf die Pritsche gelegt.

Lena: „Ist ja schon alles gut so, nur bitte den Kopf zur anderen Seite drehen.“

„Ne, mach ich nicht“, sagte Gretchen.

„Ist aber viel besser bei Ihren Beschwerden,“

„Mag ja sein, aber dem kann ich nicht immer auf sein … gucken.“

„Worauf gucken?“

„Na, auf seinen, also auf seinen Penis.“

„Und? Das ist doch nur ein wissenschaftliches Schaubild. Und das geht nicht?“

„Nein, das geht nicht, ich kann das nicht.“

„Und Augen zu?“

„Geht auch nicht!“

„Und warum nicht?“

„Dann muss ich immer daran denken, was ich da sehen würde, wenn ich die Augen öffnen würde.“

„OK, aber der Behandlungserfolg ist echt mit der anderen Kopfhaltung eher gegeben. Fangen wir also an.“

 

„Wie lief es denn mit Gretchen Auf der Heyde?“ fragte der Chef in der Mittagspause.

„Ganz entspannt, nur in die 1 geht sie wohl nicht wieder.“

„Warum nicht?“

Lena erzählte von Gretchens Problem. Alle lachten und der Chef meinte dann noch, dass da ja noch einige Kabinen seien, ohne „anstößige“ Bilder an der Wand. Lena verließ den Raum, drehte sich noch einmal um und meinte, sie hätte wohl eine Lösung für Frau von der Heyde.

„Auf der Heyde“, rief Christian noch hinter ihr her. Gehört hat sie es wohl nicht mehr.

 

Zwei Tage später hatte Frau Auf der Heyde ihren zweiten Termin. Christian steht neben dem Tresen, schaut in den Kalender und sagt: „Gehen Sie bitte schon mal in die 1, Frau von der Heyde.“

„Auf der Heyde! Und in die 1 möchte ich nicht.“

„Gehen Sie ruhig, wir haben heute nur noch die 1. Sie machen das schon, alles wird gut.“

 

Lena kommt in die 1.

„Alles gut Frau Auf der Heyde, heute liegen Sie ja auch richtig. Ist doch gar nicht so schlimm, oder?“

„Heute hat er ja auch ´was an.“

„Wie? Verstehe ich nicht.“

 

„Na de Kerl dor an de Wand. Hüt het hei´ne Büx an. Süht gor nich mool so schlecht ut, de Kerl mit siene pinke Ünnerbüx.“

Das passierte ihr gerne mal, wenn sie aufgeregt war. Dann verfiel sie ins Plattdeutsch.

Lena hatte natürlich keine Ahnung, wie lange der „Kerl“ an der Wand schon die pinke Hose trug und schon gar nicht, wer ihm die verpasst hat.

Und Gretchen von Allwörden-Auf der Heyde? 

Sie ist schon lange fertig mit ihrer Behandlung. Der Schmerz ist weg und sie hat zum Schluss sogar um die Kabine 1 gebeten. Vielleicht hat „de pinke Ünnerbüx“ ihren Anteil am Heilungsprozess gehabt.

 

Morgen ist es wieder so weit. Ich gehe wieder zur Krankengymnastik. Und, wenn ihr mich fragt, ich will wieder in die 1!