Montag, 6. Oktober 2014

Was Wilhelmine Holst aus Freiburg an der Unterelbe mit Elfenbeinküste und Ghana verbindet



„Was darf´s sein, der Herr?“  oder „Junger Mann, was darf´s sein?“
 Ich höre die Stimme von Wilhelmine Holst gelegentlich noch heute, wenn ich den kleinen Bäckerladen in der Hauptstraße betrete. Dabei ist die gute alte Frau Holst nun schon bald zwei Jahre tot. Sie war die Seele des Geschäftes und hatte einst mindestens ebenso wie der leckere Rosinenstuten und Vollkornbrot dazu beigetragen, dass ich diesen kleinen Laden zu meinem Stammgeschäft machte und in den drei anderen Bäckereien des Ortes nur gelegentlich einkaufte. Als ich den Laden für mich entdeckte, hatte sich Wilhelmines Mann bereits zur Ruhe gesetzt und Sohn Heinrich führte die Bäckertradition in der Backstube fort. Wilhelmine interessierte das Rentenalter weder bei sich noch bei  ihrem Mann herzlich wenig. Ihr Platz war hinter dem Verkaufstresen. Auch, als Konrad, ihr Mann, verstarb, dachte sie nicht daran, sich in den inzwischen wirklich wohlverdienten Ruhestand zu begeben.
Sie wurde 75 Jahre, dann 80 und 85 Jahre. Manchmal machten die Füße es nicht mehr so lange mit. Dann setzte sich Frau Holst in ihre Küche gleich neben den Laden und verfolgte das Geschehen im Geschäft durch die geöffnete Küchentür.
Immer, wenn ich den Laden betrat und Frau Holst nicht hinter der Theke stand, ging mein Blick zur Küchentür. Sah ich sie dort sitzen, war immer ein Wort zum Wetter oder Tagesgeschehen fällig. Manchmal heiterte ich sie auch mit einem kleinen Scherz auf und erntete dafür als Lohn zur Antwort:
 „Sie sind ja heute wieder so lustig, Herr Petersen!“

Frau Holst hatte noch einen weiteren Sohn, der mit seiner Familie im fernen Südafrika lebte. Gelegentlich, alle paar Jahre,  begab sie sich auf die weite Reise nach Südafrika, um ihre Familie auf der anderen Erdhalbkugel zu besuchen. Eines Morgens, Frau Holst war schon 90 Jahre oder zumindest knapp davor, vertraute sie mir mit fast verschwörerischer Stimme an:
 „In zwei Wochen reise ich zu meinem Sohn nach Südafrika.“
„Donnerwetter!“ dachte ich bei mir, „ganz schön fit die Frau.“

Und dann war sie plötzlich verschwunden.
Mein Standardblick  zur Küche zeigte mir ein ums andere Mal, dass der Platz mit der guten Sicht in den Laden immer noch unbesetzt war. Ich war schon kurz davor, mir diesen Blickreflex abzugewöhnen, da saß sie wieder auf ihrem Platz, lachte mich an und sagte:
„Bin wieder zurück, Herr Peters!“
Über die zwei fehlenden Buchstaben meines Namens ging ich ebenso großzügig hinweg, wie sie.
„Das freut mich aber,  dass Sie gesund und munter zurückgekehrt sind. Ich finde es ja ganz großartig, dass Sie diese lange Reise auf sich nehmen. Ich glaube, dass es selbst mir schon zu anstrengend wäre. Wie mach Sie das nur?“
Nun hielt es sie nicht länger auf ihrem Stuhl. Sie kam zu mir ins Geschäft, strahlte mich an und verriet mir ihr Geheimnis.
„Ach wissen Sie, Herr Petersen, so schlimm ist das ja gar nicht. Wenn du in der Luft bist, gibt es erst einmal etwas zu essen. Dann mach ich ein bisschen die Augen zu. Und dann, meistens so zwischen Elfenbeinküste und Ghana, steh ich auf und geh  ´n büschen auf dem Gang auf und ab. So geht das dann.“
So war sie, die Wilhelmine Holst. Praktisch und patent, wie sie viele andere Probleme und Krisen in ihrem Leben gelöst hat, hat sie sich auch auf der langen Reise von Freiburg an der Elbe nach Johannesburg zu helfen gewusst.

Nun ist sie tot, meine freundliche Bäckerin. Ich besuche das Geschäft immer noch wegen Stuten und Brot, nur mein Blick geht nicht mehr zur Küche. Warum auch? Wilhelmine Holst werde ich da ja doch nie wieder sehen.
Geblieben ist mir die Erinnerung und, wenn einmal alles verquer läuft, mache ich es wie Wilhelmine Holst: In Gedanken gehe ich einfach zwischen Elfenbeinküste und Ghana ein wenig auf dem Gang auf und ab und, ob du es glaubst oder nicht, meistens hilft es.

Samstag, 6. September 2014

Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit



Eines weiß ich mit Sicherheit: Wenn ich vor Gericht schwören müsste, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu sagen, ist die Gewissheit, dass ich etwas Falsches aussage, ziemlich groß. Drei kleine belanglose Geschichten zeigen am besten, wie es um meine Wahrnehmung bestellt ist.
Heike kam mit der Neuigkeit, dass Friedrich seinem Krebsleiden erlegen war. Friedrich hatte einige Zeit in unserem Stadtteil gewohnt und mit mir zusammen gearbeitet. Wir waren sogar gut befreundet, verloren uns aber dann, nachdem er in die Nähe von Bremen fortgezogen war, etwas aus den Augen.
Friedrich ist tot!
Auch, wenn wir uns schon seit einigen Jahren nicht mehr gesehen haben, ich hatte viele gute Erinnerung an unsere gemeinsame Zeit und mich machte die Nachricht von seinem Ableben traurig.
Warum hatte Ute, seine Frau, keine Todesanzeige geschickt? Ich hätte ihn doch auf seinem letzten Weg begleiten können, so weit entfernt lebte er ja nicht – als er noch lebte.

Einige Jahre später besuchten wir die Innenstadt von Bremen. Vor dem Rathaus, auf dem Marktplatz, agierte ein Fotograf hinter seiner Kamera. Er sprang fast von seinem Stativ hin zu der Gruppe, die er fotografieren wollte, um dann wieder wieselig hinter seiner Kamera Position zu beziehen. Langes Haar, Schlapphut und ein wallender, langer Mantel, alles passte.
„Weißt du, an wen er mich erinnert?“ fragte ich Inge.
„Nein.“
„An Friedrich! Sieh dir einmal die Bewegungen an, das Haar, das Ziegenbärtchen und die Kleidung. Wenn ich es nicht besser wüsste, ich könnte schwören, dass es Friedrich ist.“
„Ja, jetzt, wo du es sagst.“

Hätte mich nun ein Richter gefragt, wann ich das letzte Mal Friedrich Pitschke gesehen hätte, ich hätte ihm geantwortet, dass es vor einigen Jahren gewesen sei. Hätte er mich gebeten diese Aussage auch unter Eid zu wiederholen, ich hätte es getan!

Wir machten noch ein paar Besorgungen und auf dem Weg zum Parkhaus querten wir erneut den Markt. Der Mann mit dem Fotoapparat auf dem Stativ arbeitete immer noch an seinem Foto. Ich blieb stehen.
Faszinierend, diese Ähnlichkeit!
„Ich geh´ da jetzt hin, ich will mir den Kerl aus der Nähe ansehen“, sagte ich zu Inge und wandte mich ab, um zu dem Fotografen hinüber zu gehen.
„Lass doch, was bringt das denn? Lass uns zum Auto gehen.“
Mein Entschluss stand fest. Ich wollte mir den Fotografen aus der Nähe ansehen. Nur wenige Meter entfernt, die Ähnlichkeit war gewaltig, höre ich ihn sprechen. Es war auch noch die Stimme von Friedrich. Hektisch und etwas nuschelig tauschte er sich mit seinen Models aus. Alles sah nach einem Fotokurs aus. Alles passte zu Friedrich, nur nicht, dass dieser Mann lebte.
Mit Herzklopfen näherte ich mich dem Fotografen von der Seite. Er bemerkte mich nicht, war zu beschäftigt, und das kam mir sehr gelegen. Auf Armlänge Abstand sagte ich, wie im Selbstgespräch, halblaut – fast schon geflüstert – „Friedrich!“
Der Fotograf drehte sein hageres Gesicht mir entgegen, seine lebendigen Augen begannen zu strahlen. Er trat auf mich zu und begrüßte mich.
„Mensch Hannes, was machst du denn hier? Wir haben uns ja schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen.“
Ich musste sehr merkwürdig ausgesehen haben und brachte für Friedrich etwas schwer nachvollziehbar hervor:
„Friedrich, du lebst?“

Ja, Friedrich lebte und das nicht schlecht, wie er uns bei einer Tasse Kaffee am Rande des Marktes erzählte. Nach einer schweren Magenoperation musste er sein Leben gewaltig umstellen. Er hat sich mit den Folgen seiner Krankheit arrangiert, war frühpensioniert und befand sich an diesem Tag  gerade mit seinem Volkshochschulkurs auf Exkursion in Bremen.

Totgesagte leben länger! In Zukunft wollte ich mehr meinen Augen und Gefühlen trauen. Woher hatte Heike eigentlich die Information von Friedrichs Ableben? Ich hatte sie auch später nie danach gefragt.

Gelegentlich besuche ich Lehrgänge. Das mache ich, um etwas für meine berufliche Tätigkeit hinzuzulernen. Aber bestimmt genauso gerne, um alte Bekannte wiederzutreffen. Ole zum Beispiel, mit dem ich während des Studiums einige Projekte gemeinsam durchgezogen hatte. Wenn wir uns alle paar Monate manchmal auch Jahre auf Fortbildungen oder bei einem Theaterprojekt treffen, gibt es immer regen Austausch zwischen uns. Manchmal höre ich auch über Wendy von ihm. Sie arbeitet gelegentlich mit ihm zusammen.
Ole scheint jetzt irgendwo in meiner Nähe zu wohnen. Ich sah ihn neulich mit einem Hund, muss der Hund seiner Freundin sein, von dem er mir einmal erzählte. Ich winkte ihm über die Straße unter den Bäumen auf dem Mittelstreifen hindurch zu.  Er drehte sich um, um zu sehen, wen ich gemeint haben könnte, und verschwand um die Ecke in die Fuldastraße. Ich muss Wendy unbedingt fragen, wo Ole wohnt. Vielleicht sind wir ja sogar Nachbarn und wissen gar nicht voneinander. So lange wohne ich nämlich noch nicht hier, in diesem Stadtteil.
Ich traf Ole einige Wochen später im Straßencafé „Flüsterkasten“ vor dem Ernst Grobig Theater und setze mich zu ihm.
„Ole, ich habe dich neulich gesehen, mit deinem Hund und dir zugewunken. Du bist dann aber um die Ecke verschwunden.“
„Kann schon sein“, meinte er und nahm einen Schluck aus der Kaffeetasse. „War aber der Hund meiner Freundin.“
„Wohnst du jetzt auch in Hochsaalitz?“
„Nö, wieso?“
In diesem Moment kam Wendy an den Tisch und setzte sich zu uns. Ole hatte keine Zeit mehr für die Antwort, Wendy bestimmte, ganz ihre Art, das Gespräch vom ersten Moment ihres Eintreffens an.

In den nächsten Tagen sah ich Ole mit seinem, pardon, mit dem Hund seiner Freundin, als ich im 142er Bus saß. Er konnte mich nicht sehen und es war zwecklos an die Scheibe zu klopfen. Er wird doch hier irgendwo wohnen.
Meine Vermutung sollte sich schon bald bestätigen. Ich begegnete Ole auf dem Weg von der Bushaltestelle zu meiner Wohnung. Er, wieder in Begleitung des Hundes, kam mir auf der gleichen Straßenseite entgegen.  Merkwürdig, dieser Schal! Hätte ihm niemals so eine schrille Farbe zugetraut.
„He Ole, wohnst ja doch hier, ich wohne jetzt in der Uslarer, gleich um die Ecke.“
Ole blieb stehen, nahm meine Hand und guckte mich an, als spielte er eine Theaterrolle.
Ich kenne diesen Blick nur zu gut.
„Es ist nicht das erste Mal, mein Freund, dass wir uns begegnen. Ich bin nicht der, für den du mich hältst. Ich bin nicht Ole ich heiße Nico. Trotzdem schön, dich kennenzulernen.“
„Aus deiner neuen Rolle, Ole?“
„Hier muss ein Missverständnis vorliegen, ich bin nicht Ole. Sagte doch, Nico. Muss jetzt weiter, sehen uns vielleicht noch einmal. Ciao!“
„Ciao!“ Das sagt er sonst nie. Vielleicht hat er  ´was genommen? Habe ich sonst noch nie an ihm bemerkt, seit Marburg nicht mehr. Und das ist zwanzig Jahre her.
Vier Monate später treffe ich Ole auf einem Gewerkschaftsseminar wieder. Wir nehmen einen Kaffee zusammen und erzählen uns von unseren jüngsten Projekten. Kurz vor dem Ende der Pause, spreche ich Ole auf unser letztes Treffen in Hochsaalitz an.
„Hochsaalitz? Da komme ich fast nie hin und wenn, dann ohne Hund.“
„Bist du dir ganz sicher, Ole?“
„Klar, werd´ ich doch wohl wissen. Bist´n bisschen komisch heute.“
„Auch nicht in der Rolle von Nico, mit dem Labrador und dem unmöglichen Schal?“
„Eeiih, wilste mich verscheißern? Lass uns rein gehen.“

Ich hätte schwören können, dass Ole Nico war und Nico Ole.
Gut, dass ich nicht schwören musste.

Als mich Ole in meiner neuen Wohnung besuchte und wir vom Balkon schauten, ging er unten mit seinem Hund vorbei, der Ole, der neben mir auf dem Balkon stand.
Nico ist also Nico und Ole ist Ole. Zwei verschiedene Personen.
Ich habe nicht mehr versucht, Ole zu erklären, dass er soeben nicht mit seinem Hund unter meinem Balkon vorbeigegangen ist. Er hätte mich wahrscheinlich ohnehin nicht verstanden. Beim Abschied, wir hatten schon einige Gläser roten Ruppertsberger getrunken, sagte ich an der Haustür zu ihm:
„Bis bald mal wieder, Nico, Ciao!“
Ich lachte, Ole verstand nichts und stieg die Treppe hinunter.

Damals in Bremen, Friedrich. Nein, er konnte es nicht gewesen sein und er war es doch!
Hier, in Hochsaalitz, Ole, hundertprozentig mit Hund und krassem Schal und es war Nico, den ich gar nicht kannte.
Ich beschloss für mich, meine Mitmenschen zukünftig aufmerksamer zu betrachten, mich nicht mehr so sehr auf meine Gefühle und Sinne zu verlassen.

Ich bin gerade aus dem  Thüringer Wald zurück. 14 Tage wandern mit leichtem Gepäck. Inge war auch mit, sie hatte die Idee mit der Wanderung. 320 Kilometer auf dem Saale – Orla – Weg. Nie Kinderwagengerecht, nie barrierefrei! So stand es im Wanderführer und so war es auch in Wirklichkeit. Was ich nun erzähle, ereignete sich ungefähr sieben Kilometer hinter Pößneck, oben auf dem Kammweg. Von Westen zog eine schwarze Wand auf und immer lauteres Grummeln verriet, dass der Wetterbericht mit seiner Gewitterankündigung für die Mittagszeit haargenau zutraf. In der Karte war ein Rastplatz mit einem Schutzhüttensymbol eingezeichnet. Es konnte nicht mehr weit sein. Dennoch überraschte uns der plötzlich einsetzende Regen, bevor wir die Hütte erreichten. Zwei Personen in hellblau und rosa hatten bereits vor uns die Hütte erreicht. Ein Schindeldach auf sechs Stützen über einem Picknicktisch. Zwei Wände waren geschlossen.
„Nehmen Sie doch Platz“, sagte die Frau unter dem rosafarbenen Nylon. Sie bemerkte meinen Blick und meinte. „Sieht nicht so gut aus, wees ick ja, aber praktisch. Ganz klein und leicht, nich Achim? Also, Joachim, mein Mann, der hasst diese Dinger.
Aber nun biste froh, Achim, dass du nicht nass geworden bist?“
Joachim guckt wortlos aus seinem hellblauen Regencape aus feinstem Nylon.
Ich konnte ihn nur zu gut verstehen.
„Wo hab´ ich diese Frau bloß schon einmal getroffen? Kenn doch die Stimme“, ging es mir durch den Kopf. Wir zogen unsere nassen Fliesjacken aus und hängten sie zum Trocknen an einen Haken.
„Das kann noch´n bisschen dauern“, sagte die Frau. „Beste Gelegenheit zum Picknick, was meinst du Achim?“
Achim konnte schon sprechen. Das haben wir nun, ca. fünf Minuten nach unserem Eintreffen, feststellen können, als Achim ihr antwortete:
„Könnt schon ´was gebrauchen.“
Die Frau klappte die Kapuze runter und begann mehrere Dosen aus ihrem Rucksack zu nehmen.
„Hab immer ´n paar Stullenpakete mit dabei, wenn wir wandern. Einkehren ist nicht so unser Ding, nicht wahr Achim?“
Inge packt auch unseren Proviant aus und verbreitet die geöffneten Dosen und Päckchen über unsere Tischhälfte. Sie packt immer so leckeren Proviant ein.
Woher kenne ich die Frau?
„Kommen Sie zufällig auch aus dem Hamburger Raum?“
„Ne, aber meine Oma. War da als Kind manchmal. Wohn nun schon ganz lange in Berlin. Stralsund war ick auch schon zu Hause. Man kommt schon wat rum. Zeigen Se mal, wat ham se da Schönes? Sieh mal Achim, lauter Obst und frisches Gemüse. Wolln wir wat tauschen. Wir hätten da ein Ei und Leberwurststullen. Wenn wir dann vielleicht wat von die Karotten und zwee von den Tomaten?“

Ich kenne diese Frau. Geht mir immer häufiger in letzter Zeit, dass ich lange brauche, um Personen den richtigen Orten und den richtigen Begebenheiten zuzuordnen. Hoffentlich wird das nicht noch schlimmer.

„Bedienen Sie sich ruhig, ich habe immer zu viel mit. Das gefällt mir besser, als unterwegs Hunger zu haben.“
„Achim, haste gesehen, die haben auch ein kleines Salzfass mit.“
Jetzt erst bemerkte ich vielleicht 50 oder auch hundert Meter weiter eine Gruppe von vier jungen Männern. Ohne Regenschutz stehen sie unter einer dieser riesigen Fichten, wie sie es nur noch selten in unseren Wäldern gibt. Sie tragen Jeans und Turnschuhe außer dem mit der Sonnenbrille, der hat schwarze Halbschuhe an. Alle tragen dunkle Jacketts, die durch den Regen beträchtlich aus der Form geraten sind.
Ich machte Inge auf die Männer aufmerksam und fragte:
„Wollen wir die nicht mit unter das Dach nehmen?“
Bevor Inge antworten konnte sagte die Frau von gegenüber:
„Nee, lassen Sie die mal da. Die will ick hier gar nich haben. Dann woll´n die ooch noch wat von meine Bemmen.“ Sie strahlt mich dabei mit verschmitztem Grinsen an. War bestimmt als Spaß gemeint, der Spruch mit den Bemmen.
Und ich kenn sie doch!
„Sagen Sie, ich kenne Sie aus dem Fernsehen, Lindenstraße?“
„Nee, Lindenstraße nich, aber Fernsehen, da hab´ ick schon häufiger mal mit zu tun, stimmt’s Achim, haha?“
Achim nickt und bricht sich eine halbe Käsestulle ab. Seine Frau reicht ihm eine Spreegurke rüber.
„Sieh mal, Achim, wat ick noch gefunden hab.“
Zwei der Männer rauchten, alle Warnhinweise missachtend, mitten im Wald. Den Männern schien es egal zu sein, dem Regen ohne Schutz ausgesetzt zu sein.
Der Regen ließ nach.
„Achim, nimm doch noch eine Tomate, die schmecken ja köstlich. Darf er noch eine?“
„Natürlich“, sagte Inge. „Bedienen Sie sich ruhig.“
„Na los, Achim, hast doch gehört, was die Frau gesagt hat.“
Achim nahm ein Stück grüne  Gurke aus Inges Box. Es hatte etwas von leichtem Protest.
„Hat aufjehört zu regnen.  Woll´n wir mal weiter, auf Schusters Rappen, haha, Achim. Müssen wir noch einmal vorher in die Büsche? Besser is wohl.“
Sie streifte sich das rosa Nyloncape über den Kopf und ein froschgrüner Blazer war zu sehen. Unter den Hosenbeinen der schwarzen Bügelfaltenhose wurden derbe Wanderstiefel sichtbar.
„Gut, dass das Papier trocken geblieben ist.“ Sie verschwand in den Tiefen des Hochwaldes und war bald schon nicht mehr zu sehen. Einer von den Männern trat seine Zigarette aus und verschwand ebenfalls im Hochwald.
Spanner!?
Achim nutzte die Abwesenheit seiner Frau, um uns ein weiteres eindrucksvolles Beispiel seines Sprachvermögens zu geben.
„Für uns ist es immer ein sehr schöner Ausgleich, mit dem Wandern. Wir sehen uns ja auch nicht viel. Manchmal sehe ich sie mehrere Tage nur im Fernsehen. Sie ist ja viel unterwegs, Paris, Washington und übermorgen Kopenhagen. Angela  genießt diese Ausflüge in den Thüringer Wald.“
Aus dem Wald zurück kam geräuschvoll die Frau mit dem krass grünen Blazer.
„Ach, Achim, eigentlich heißt er ja Joachim, schön, dass du schon die Regencapes zusammengepackt hast. Hamse gesehen, wie klein die gehen? Is doch toll, oder? Los geht´s, aufgesattelt und weiter. Wünsche noch schönen Urlaub, man sieht sich, vielleicht -  im Fernsehen. Komm, Achim.“
Sieht ein bisschen aus, wie Angela Merkel, denke ich, als sie dem Pfad in westlicher Richtung folgte. Ja, die Merkel hat doch auch so ein Jackett.
Die Männer unter der Fichte wollen anscheinend auch weiter. Zwei sind schon vorgegangen und die beiden anderen kommen erst richtig in Gang, als das merkwürdige Ehepaar bereits an ihnen vorbei war.
„Ein bisschen komisch waren die ja schon“, meinte Inge der Gruppe nachblickend. „Sie sah Angela Merkel sehr ähnlich.“
„Ja, interessant, dass du das auch findest. Ist mir auch schon aufgefallen.“
Angela Merkel hier im Thüringer Wald? Glaubst du doch im Ernst nicht. Oder doch?
„Inge, weißt du wie ihr Mann heißt?“
„Ja, Achim.“
„Nein, der von Angela Merkel.“
„Ich glaube, dass der Joachim heißt, ja, Joachim Sauer.“
Merkwürdig, hatte er nicht von Angela gesprochen?
Quatsch, das gibt es doch nicht, dass wir mitten im Thüringer Wald Angela Merkels Eier essen und sie unsere Tomaten und Apfelscheibchen. Übermorgen ist der Ukrainegipfel in Kopenhagen. Ach was, das wäre doch ein Witz, damit dürfte ich meinem Kegelverein nicht kommen.
Aber sie sah der Kanzlerin doch schon ganz schön ähnlich.
„Weißt du, Inge, woran ich denken muss?“
„Nein.“
„An die Geschichte mit Friedrich in Bremen, der es wirklich war, obwohl er es doch gar nicht sein konnte, und Ole, der diesem Nico so ähnlich sah. Und nun diese Frau mit ihrer Ähnlichkeit zur Kanzlerin. Ist schon merkwürdig, mit den Ähnlichkeiten.“

An diesem Abend hatten wir ein Hotelquartier mit Fernseher auf dem Zimmer.
„Ach nee, das ist doch nicht dein Ernst, Fernsehen auf Wandertour, mach´ ihn aus, bitte.“
„Nur eben die Tagesschau!“
Und dann kam es hammerhart für mich. Ein Bild von der Kanzlerin mit Wanderstab, Rucksack, froschgrünem Blazer, schwarzer Bügelfaltenhose und die Füße steckten in derben Wanderschuhen. Während ich in meiner Einfalt noch dachte, die sieht ja aus wie die Frau, die wir oben auf dem Steig in der Schutzhütte getroffen haben, höre ich die Stimme der Nachrichtensprecherin:
„…heute und morgen auf ihrer traditionellen Wandertour in einem deutschen Mittelgebirge. Während ihrer Abwesenheit werden die Amtsgeschäfte vom Vizekanzler Siegmar Gabriel geführt. Bereits übermorgen muss die Kanzlerin dann wieder auf dem Ukrainegipfel….“

Unsere Wanderin und die Kanzlerin sahen sich verdammt ähnlich.
Es war ein und dieselbe Person, die Wanderin war auch die Kanzlerin!

Schade, dass ich diese Geschichte für mich behalten muss. Würde mir ja doch niemand glauben. Vor Gericht hätte ich nun schwören können, dass ich Angela Merkels Eier gegessen habe. Es stimmte wirklich, ihr könnt ja Inge fragen. Der Richter aber, der Richter hätte mich wohl wegen Meineides dran gekriegt.

Dienstag, 26. August 2014

Kackmanns Tannenbaum



                    
Kackmann gehört zu jenen Menschen, die immer alles besser wissen, alles besser können, die für jedes Problem eine Lösung wissen und dann, wenn sich die Dinge weiter entwickelt haben, selten mit ihrer Auffassung im Recht bleiben.
Unangenehm ist er eigentlich nicht – eher etwas anstrengend für seine Mitmenschen und, wenn man sich an seine Art gewöhnt hat, kann es sogar unterhaltsam mit ihm sein.

Vielleicht 14 Tage vor dem Weihnachtsfest unterhielten sich Kackmanns beiden Kollegen über den bevorstehenden Weihnachtsbaumkauf auf dem Stader Weihnachtsbaummarkt. Private Gespräche waren keine Seltenheit in diesem Büro und kennzeichneten das gute Klima zwischen den drei Angestellten.
Kackmann wäre nicht Kackmann, hätte er sich nicht nach kurzer Zeit in das Gespräch über Größe, Preise und Qualität der Weihnachtsbäume eingeschaltet.
„Versteh´ gar nicht, warum ihr euch keinen Baum aus dem Wald holt, frischer und billiger geht es doch wirklich nicht.“
Kackmann hatte bisher in jedem Jahr seinen Baum vom Stader Markt geholt. In diesem Jahr hatte er einen Zeitungsartikel über das Selberschlagen von Weihnachtsbäumen im Tageblatt gelesen.
„Steigert doch die weihnachtliche Vorfreude für die ganze Familie, so ein Waldausflug. Ist auch viel billiger und der Baum nadelt nicht schon am Heiligen Abend“, gab er sein gerade erworbenes Zeitungswissen weiter.
Sie ließen ihn reden, um ihm am Ende seiner Ausführungen zu sagen, dass sie ihren Baum auch in diesem Jahr wieder auf dem Stader Tannenbaummarkt kaufen würden.
„Groß wird er sein in diesem Jahr, frisch und nach Wald duften. Silvester wird er noch seine Nadeln haben! Ich lade euch mit euren Familien ein zum Weihnachtskaffee am 2. Weihnachtsfeiertag. Dann könnt ihr eure Mickerpalmen mit meinem Baum vergleichen! Ich möchte wetten, dass wir im nächsten Jahr gemeinsam in den Wald fahren werden!“

Zu Hause am Abendbrotstisch platzt Vater Kackmann schon mit der Neuigkeit heraus, bevor noch alle an ihrem Platz saßen. Almut Kackmann, die heute manchmal lieber ihren Mädchennamen Meier zurück gehabt hätte, der 12jährige Sohn Maik, den der Vater nach dem Vorbild amerikanischer Spielfilme meistens „Junior“ nannte, die 10jährige Jennifer und der kleine 5jährige Sebastian nahmen Kackmanns Ankündigung sehr unterschiedlich auf.

„Muss ich auch mit?“
Mutter Almut mit ihrer Vorliebe für Versandhausmode hoffte noch auf Befreiung von der Weihnachtsbaumaktion.
Im Gegensatz zu ihr waren die Kinder gleich Feuer und Flamme für Vater Kackmanns Vorschlag.
„Denk´ nur, was für ein schönes Familienerlebnis es wird und anschließend, wenn wir unseren Baum haben, kehren wir noch irgendwo in der Wingst zum Kaffeetrinken ein“, schwärmte der Familienvater.
Mit „dem schönen Familienerlebnis“ schnitt Vater Kackmann seiner Frau Almut den zaghaften Rückzug aus der Tannenbaumaktion so gut wie ab.

Wochenende

Erwin Kackmanns Fröhlichkeit – zugegeben etwas aufgesetzt – wirkte nur auf seine Kinder ansteckend. Ehefrau Almut hatte sich in Anbetracht des in Aussicht gestellten Kaffeetrinkens mit dem neuen Kleidervorschlag von der Katalogseite 314 angezogen: Kostüm in Herbstfarben, gelbockerfarbene Strümpfe, die halben Schuhe mit den nicht ganz langen Absätzen und dem Wintermantel vom Vorjahr.
Kackmann selber hat sich auf das Ereignis vorbereitet wie ein Buschläufer. Eine Armeehose in Tarnfarbe – schon vor Jahren aus Heeresrestbeständen erworben – olivfarbene Gummistiefel, Daunenweste unter der Bundeswehrparka und, etwas unpassend dazu, der karierte Hut, den er auch immer zum Dienst trägt. Ein Hut ähnlich dem, den der Altkanzler Adenauer immer trug, wenn er Boccia spielte.
Junior, Jenni und Sebastian saßen erwartungsvoll mit ihren Gummistiefeln im Fond des zweijährigen Japaners.
Mit Axt, Säge und Seil im Kofferraum verließ die Familie am frühen Nachmittag ihr Dorf in Richtung Naherholungsgebiet Wingst, das sich schon bald mit seinen dunklen Waldhügeln am Ende der Elbmarsch vor dem hellen Winterhimmel abzeichnete. Kackmann trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad, pfiff dabei immer ein und dieselbe Melodie irgendwelcher bayrischer Stimmungsmacher, die sich bei seinem letzten Stadeumsbesuch in seinem Kopf festgesetzt hatte. Er war zufrieden. Kackmann war meistens zufrieden – daran konnten auch seine häufigen Niederlagen nichts ändern.
„Kinder, dieser Tag wird euch in Erinnerung bleiben“, sprach er in den Rückspiegel blickend. Dabei ahnte er noch nicht, wie Recht er behalten sollte.

Mitten im Hochwald setzte Kackmann den Blinker und bog nach rechts in einen Waldweg. Vor einem Sperrbalken führte eine Fahrspur im spitzen Winkel durch die hohen Fichten. Am Anfang dieser Spur stoppte er den Wagen, stellte den Motor aus, atmete tief durch und sagte genießerisch: „Oh diese Ruhe! Herrlich!“
Die Wagentüren öffneten sich, ein Schrei durchbrach die Waldesstille! Almut Kackmann zog ihren Fuß zurück ins Wageninnere – schwarz bis knapp über den Knöchel. Ohnehin nicht in bester Laune hatte sie die tiefe Wagenspur neben der Beifahrertür übersehen.
Vielleicht war dieses Missgeschick – so unangenehm sich der schlammüberzogene Fuß auch anfühlte – gar nicht so verkehrt: Hatte sie nun doch einen Grund, im Auto sitzen zu bleiben.

Ohne Mutter Kackmann bewegte sich die Familie ausgestattet mit Axt und Säge durch den Hochwald zu der dahinter liegenden Fichtenschonung. Bald schon war der Weihnachtsbaum gefunden. Junior hielt die unteren Zweige hoch, der Vater sägte und die Kleinen schauten zu. Gute drei Meter neigten sich zur Seite. Als der Baum fiel, ließ Junior die Zweige los. Einer wischte Kackmann durchs Gesicht. Mit den leuchtendrot aufblühenden Schrammen im Gesicht entfuhr ihm ein Fluch, den er normalerweise vor den Kindern unterdrückt hätte. Der schmutzige Handschuh fuhr reflexartig über das Gesicht, um den aufkommenden Schmerz zu lindern und hinterließ dabei schwarze, harzige Flecken auf dem Gesicht. Während der Schmerz noch nicht nachgelassen hatte, johlten die Kinder vor Vergnügen, weil ihr Vater mit diesem Gesicht so lustig aussah.
Kackmann unterdrückte seinen Groll. Erste, heimliche Zweifel beschlichen ihn, ob die Entscheidung, selbst einen Weihnachtsbaum zu schlagen, richtig gewesen war.
Kaum, dass der Schmerz sich verzogen hatte, musste Kackmann feststellen, dass er diesen Baum unmöglich mitnehmen konnte. An den Zweigen, die zum Nachbarbaum gezeigt hatten, waren fast alle Nadeln abgescheuert. Der Baum blieb liegen und ein zweiter Baum, diesmal sorgfältiger untersucht, fand das Gefallen der Familie und wurde gefällt. Das dicke Ende tragend bahnte sich Kackmann gefolgt von Junior in knapp drei Meter Entfernung, der das dünne Ende in der Hand hielt, einen Weg durch die Schonung. Jenni und Sebastian halfen sich gegenseitig durch die zurückschnellenden Zweige. Ihnen waren Axt und Säge anvertraut.

„So, nun haben wir es gleich geschafft“, meinte Kackmann zu seinen Kindern, als sie den Waldweg erreicht hatten. Er hatte noch nicht ganz ausgesprochen, als sich eine Gestalt mit Dackel aus dem Dunkel des Hochwaldes löste, unschwer als Förster zu erkennen.
„Guten Tag! Wo haben Sie denn den Baum her, bitte schön?“
Kackmann, sichtlich verlegen, versuchte dem Forstmann zu erklären, dass er den Baum abgesägt neben der Schonung gefunden habe.
„So, so, und Axt und Säge rein zufällig dabei gehabt“, fragte er in einem Ton, der zweifelsfrei erkennen ließ, dass alles Lügen zwecklos sei.
Da mischte sich der kleine Sebastian ein und meinte: „Mein Papi hat doch ein bisschen Recht. Ein Baum liegt da noch! Den haben wir zuerst abgesägt aber der taugte nichts.“
Kackmann wollte es nicht glauben! Sein eigen Fleisch und Blut brachte ihn in noch größere Verlegenheit als er ohnehin schon war.
„Dann haben Sie also zwei Bäume geschnitten. Sie müssen doch gewusst haben, dass man nicht einfach so in den Wald gehen darf, um sich einen Tannenbaum zu besorgen. Wären Sie gleich auf das Forstamt gekommen, hätte ich Ihnen eine Schonung angewiesen. Von einer Anzeige wegen Diebstahls will ich einmal absehen, weil Weihnachten vor der Tür steht. Bezahlen müssen Sie schon, zehn Euro nehmen wir jetzt für den Meter.“
Er zückte einen Quittungsblock aus seiner ledernen Umhängetasche und begann eine Quittung auszustellen.
Kackmann war, entgegen seiner Art, ganz still geworden. Er kramte in seinem Portemonnaie und hielt dem Forstmann schon 30 Euro entgegen.
Als der mit der Schreiberei fertig war, nahm er die Geldscheine, rieb sie zwischen seinen Fingern und sah Kackmann fragend an.
„Stimmt etwas nicht?“ fragte Vater Kackmann.
„Was ist mit dem anderen Baum, von dem Ihr Sohn sprach? Der gehört Ihnen jetzt auch. Ich nehme an, dass er auch um die drei Meter lang ist und habe deshalb die Quittung auf 60 Euro ausgestellt.“
Wortlos griff Kackmann erneut zur Geldbörse, zückte einen Fünfziger und erhielt zwanzig von seinen bereits gezahlten dreißig Euros zurück. Dazu eine Quittung unterschrieben mit H. von Wensow.
Der Förster tippte mit der Fingerspitze an seinen Hut, zog seinen Hund, der gerade an den Weihnachtsbaum pinkelte, zu sich heran und verabschiedete sich mit den Worten: „Frohes Fest wünsche ich dann noch und im nächsten Jahr kommen Sie dann aber bitte gleich zu mir, ja?“
Die Amtsperson war erst wenige Schritte entfernt, als Jenni flüsternd fragte, ob der Papi denn nun geklaut habe?
Kackmann, der es nicht gewohnt war, Niederlagen kampflos hinzunehmen, arbeitet fieberhaft daran, den Diebesmakel loszuwerden.
„Eigentlich“, begann er, „eigentlich gehörte uns der Baum schon, bevor ich ihn bezahlt hatte. Wisst ihr, was der Förster gemacht hat, war nicht ganz richtig. Dieser Wald ist ein Staatsforst, der allen gehört, auch mir. Ich habe mir nur meinen kleinen Teil herausgeholt, der mir ohnehin schon gehörte.“
„Warum hast du dann noch für die Bäume bezahlt?“ fragte Junior seinen Vater.
Kackmann war auch hier nicht um die passende Antwort verlegen.
„Förster sind nur kleine Beamte, die nicht viel verdienen und immer auf unseren Wald aufpassen müssen. Da habe ich mir gedacht, jetzt zu Weihnachten kann er vielleicht gut ein paar Euros gebrauchen, um seinen Kindern und seiner Frau Weihnachtsgeschenke kaufen zu können.“
„Und für seinen Dackel“, ergänzte der kleine Basti, „der an unseren Weihnachtsbaum gepinkelt hat.“
„Ja, für den auch“, versuchte Kackmann das Gespräch zu beenden. Schon fast am Auto angekommen, spürte er die Quittung in seiner freien Hand. Zorn stieg in ihm auf und er schleuderte das zusammengeknüllte Papier zwischen die Fichtenstämme neben dem Weg.
„Du hast eben Papier verloren, Papi!“ rief Jenni. „Das ist Umweltverschmutzung!“
„Ist es nicht!“ knurrte Kackmann. „Papier ist aus Holz, der Wald auch – passt also gut zusammen!“
Die letzten Meter bis zum Auto wurden wortlos zurückgelegt.  
Schräg, mit dem dicken Ende zuerst, drückten Kackmann und Junior den Baum in die Ecke des japanischen Kofferraumes. Weihnachtsmusik drang aus dem beschlagenen Innenraum des Autos. Almut Kackmann hatte sich mit notdürftig gereinigtem Fuß mit dem Autoradio getröstet, nachdem die beschlagenen Scheiben ihr den Ausblick in das Tannengrün genommen hatten.

Kaum, dass der Baum verschnürt war, schwang Kackmann sich hinter das Steuer seines Wagens, startete den Motor, legte den Rückwärtsgang ein und gab Gas. Der Motor heulte auf aber das Auto bewegte sich trotz drehender Antriebsräder nicht vom Fleck.
Junior und Mutter sollten etwas schieben, vorne, an den Scheinwerfern. „Viel fehlt nicht!“ rief Kackmann durch das Seitenfenster mit der heruntergedrehten Scheibe, „etwas ruckeln!“
Tatsächlich bewegte sich das Auto etwas zurück, um dann jedoch erneut festzusitzen.
„Noch einmal nach vorne!“ schallte das Kommando des Familienvaters durch den Wald.
Almut Kackmann stelzte wie ein Storch über Pfützen und Tannenzweige, packte das Rücklicht und stemmte sich mit ihren ganzen 58 Kilogramm gegen den festsitzenden Japaner.
Der Motor heulte auf – Frau Kackmann auch! Das konnte ihr Ehemann aber durch das Geräusch des Motors und der durchdrehenden Reifen nicht hören.
Kackmann ging vom Gas. Weder Motor noch Reifen heulten; aber durch die Stille des Waldes hörte Kackmann nun das Heulen seiner Frau. Sie saß auf einer Fichtenwurzel, die Hände vor dem Gesicht und von oben bis unten zog sich über den Versandhauschic ein autoreifenbreiter, schwarzer Dreckstreifen. Selbst auf der Brille saß ein Placken Walderde, der langsam abzurutschen begann.

Basti heulte auch, Jenni schwieg und Junior suchte Tannenzweige, um sie vor die Antriebsräder zu legen. Kackmann versuchte seine Frau notdürftig zu reinigen. Er zog ihr den Mantel aus und setzte sie – nun schon erheblich sauberer und nicht mehr heulend – auf den Beifahrersitz.
Kackmann begann den Familienausflug heimlich zu verfluchen, wenngleich er das niemals zugeben würde. Juniors Patent mit den Zweigen klappte. Der Wagen machte einen gehörigen Satz über den Weg, beinahe gegen den Sperrbalken, den Kackmann wegen der beschlagenen Scheiben nicht gesehen hatte. Lediglich der Tannenbaum ist an dem Pfosten entlanggeschrammt. Von den drei oberen Zweigenkreisen hing jeweils ein Zweig - nur noch mit ein wenig Borke dem Stamm verbunden – senkrecht nach unten. Das aber konnte Kackmann nicht sehen.

Es fing zu dämmern an. Die Scheiben wurden klar, alle wollten nach Hause. An gemütliche Einkehr dachte niemand mehr. Kackmann fing vorsichtig wieder damit an, die Melodie von der Hinfahrt zu pfeifen, Mutter Kackmann saß schweigend, ja, wenn nicht gar anklagend auf dem Beifahrersitz. Die Kinder, von der Waldluft müde, vergaßen sogar, sich auf der Rückbank zu streiten.
Ein rotes Licht auf der Straße kurz vor der Molkerei Hasenfleet, fast schon an der Kreisgrenze, ließ Vater Kackmann auf die Bremse treten. Er drehte die Scheibe herunter. Ein freundlicher Polizist bückte sich runter und sagte durch das geöffnete Fenster: „Guten Tag! Fahrzeugkontrolle, die Papiere bitte!“
Gott sei Dank! Kackmann hatte alles dabei und der Wagen war auch gerade in der Werkstatt.
Der Beamte ging um den Wagen, reichte die Papiere durch das Fenster und meinte freundlich: „Alles in Ordnung!“ Wohl als Scherz gemeint fügte er noch hinzu: „Den Tannenbaum haben Sie aber nicht geklaut?“
Er wollte sich schon abwenden, da mischte Basti sich in das Gespräch ein.
„Richtig geklaut haben wir den Baum nicht. Der kommt nämlich aus dem Staatsforst und der gehört sowieso allen. Dieser Baum gehörte meinem Papi!“
Kackmann wäre am liebsten in den Fußraum seines Japaners versunken.
„Herr Kackmann“, sagte der Polizist, „können Sie einen Nachweis darüber bringen, woher Sie diesen Baum haben? Eine Quittung vielleicht?“
Kackmann blätterte in seiner Brieftasche, obwohl er sehr genau wusste, dass er die Quittung dort nicht finden würde.
„Ich habe den Baum gekauft vom Forstamt. Äh, ich habe 60 € dafür gegeben, äh, Kinder sagt dem Polizisten, dass das wahr ist.“
„Das stimmt“, sagt Jenni, „Papi hat dem Jäger 60 € gegeben, damit er für seine Familie Weihnachtsgeschenke kaufen kann.“
„Getrunken haben sie nichts, Herr Kackmann?“ fragte der Polizist. „Das kommt mir doch alles sehr merkwürdig vor. Fahren Sie uns bitte nach zur Polizeiwache in Cadenberge. Wir werden von dort klären, ob Sie den Baum bezahlt haben.“

Glück für Kackmann: Der Förster war gleich am Apparat. Er konnte sich nur zu gut an die Familie erinnern und bestätigte dem Polizisten, dass die beiden Bäume ordnungsgemäß bezahlt wurden.
Die beiden Bäume? Der Polizist runzelte die Stirn. Da war doch nur ein Baum, im Kofferraum? Irgendetwas stimmte heute nicht. Na ja, wird schon seine Richtigkeit haben. „Sie können fahren, Herr Kackmann, und denken Sie daran, dass Sie im nächsten Jahr die Quittung aufheben! Gute Fahrt!“

Almut Kackmann überlegte die ganze Rückfahrt über, ob sie ihr Schweigen brechen sollte. Wenn ja, würde es ein fürchterliches Gewitter geben. Sie entschied sich, weiter zu schweigen – bis zum nächsten Morgen.

Stumm verließ die Familie das Auto und ging ins Haus. Kackmann, allein mit seinem frischen, selbstgeschlagenen Tannenbaum nach einem „herrlichen Familienausflug“, fühlte sich einsam, wie selten zuvor. Während er den Baum auspackte bemerkte er die abgeknickten Zweige. „Nicht so schlimm“, dachte er, „da werde ich neue Zweige in den Stamm einbohren.“
Der regennasse Baum musste in den Heizungsraum zum Abtrocknen. Die schwere Eisentür zum Heizungsraum stieß er mit dem Fuß auf, die Hände waren ja belegt. Ein rascher Schritt vorwärts in den Raum, jedoch nicht schnell genug. Die Tür klappte zu und die Spitze des Weihnachtsbaumes fiel auf der anderen Seite der Tür auf den Boden. Kackmann bemerkte es, aber ihm fehlte der nötige Antrieb die abgefallene Spitze vom Boden aufzuheben.

Zwei Tage vor dem Fest drängte Almut Kackmann ihren Mann, den Weihnachtsbaum in die Stube zu holen. Kackmann hatte fast den Albtraum der Baumexpedition vergessen. Auch im Büro redete er nicht darüber, obwohl seine Kollegen Meiners und Holten ihn einmal fragten, ob er denn einen schönen Baum gefunden habe.
Er ging also in den Keller, griff den schön abgetrockneten, kräftig nach Fichte duftenden Baum und zwängte ihn durch die Tür des Heizungskellers. Zurück blieb ein Nadelteppich. Nicht anders war es an der nächsten Tür und, als der Baum im Wohnzimmer ankam, trug er nur noch die Hälfte seiner Nadeln, drei Zweige hingen wie an einem dünnen Faden, Die Spitze fehlte ganz und gar.
Almut Kackmann war lautlos hinter ihrem Mann in das Zimmer getreten.
„Raus! Raus mit diesem elendigen Baum und sieh zu, wo du einen anderen her bekommst!“ zischte sie mehr als sie sprach durch die kaum geöffneten Zähne ihren Mann an.

Am letzten Tag vor Weihnachten schlich Kackmann sich mit „Fröhliche Weihnachten!“, das alles andere als fröhlich klang, nach Feierabend aus dem Büro. Viele Bäume gab es nicht mehr auf dem Stader Weihnachtsbaummarkt. Die guten Bäume waren längst schon ausgesucht. Kackmann entschied sich am Ende für einen Baum, für den er in den vergangenen Jahren nicht einen Euro hingelegt hätte.

Ach ja! Ganz ist die Geschichte noch nicht zuende. Von Kackmann ganz vergessen, standen am zweiten Weihnachtstag die Familien seiner Kollegen vor der Tür. Großes Hallo! „Und nun wollen wir uns doch einmal euren Weihnachtsbaum ansehen!“ Nett waren sie, die Kollegen. Besonders der lange Holten schwieg zum Kackmannschen Baum. Meiners konnte sich nicht verkneifen, diesen Baum zu kommentieren.
„Weißt du, Erwin, wenn ich mir deinen schönen, frischen und  selbstgeschlagenen Baum so ansehe, glaube ich, dass ich meine „Mickerpalme“ doch lieber weiter vom Weihnachtsbaummarkt in Stade holen werde.“
Mutter Kackmann und die Kinder, soweit sie es verstanden hatten, grinsten. Vater Kackmann wechselte schnell das Thema und versuchte seine Gäste von den Vorzügen japanischer Autos zu überzeugen.

Die Wahrheit über Kackmanns Weihnachtsbaum erfuhren die Kollegen erst im Sommer während des alljährlich stattfindenden Betriebsausfluges. Das war, als Kackmann, der lange Holten und Meiners sich der letzten Liter Bowle angenommen hatten – aus reiner Sorge, dass sie sonst verkommen könnte.