Donnerstag, 10. März 2016

Kevin Tomhave und die 2. Chance



Wer viel mit Kindern und Jugendlichen zu tun hat, wird meine Beobachtung vielleicht bestätigen. Natürlich ist es Ziel jeder Lehrkraft oder Erzieherin, alle ihr anvertrauten Kinder und Jugendlichen gleichermaßen gern zu haben. Erreichen werden sie das Ziel jedoch nie. Zu unterschiedlich sind die Menschen, die dort auf Zeit zusammenarbeiten arbeiten (müssen). Sympathien sowohl von der einen, als auch von der anderen Seite werden sehr schnell wahrnehmbar.
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass weder das Lernvermögen, die soziale Herkunft oder irgendwelche äußerlichen Merkmale wie Kleidung, Statussymbole oder das Aussehen entscheidend für Sympathiepunkte sind. Ausschlaggebend war für mich immer das Sozialverhalten, in dem alle Tugenden sicht- oder spürbar werden, die darüber entscheiden, in welchem Umfang die Chemie zwischen zwei Menschen stimmt oder nicht.
Ganz schwer machten es mir die Kinder und Jugendlichen, die mir mit mehr oder weniger offen entgegengebrachter Feindschaft begegneten. Gott sei Dank gab es von denen nicht so viele.
Erheblich größer hingegen war die Gruppe, die durch ständige Regelverstöße auffiel. Auf der Beliebtheitsskala ganz unten fanden sich bei mir diejenigen, die meine Bemühungen um zwischenmenschliche Klimaveränderungen ignorierten und durch mieses Sozialverhalten gepaart mit ständige Regelverstößen auffällig wurden.
Nun sind zum Glück Menschen nicht wie verschiedene Schraubengrößen, die man einfach nach ihren Eigenschaften in unterschiedliche Schachtel einsortiert. Zwischen gut und böse, brav und ungezogen, dumm und intelligent, faul und fleißig gibt es jede Menge Schattierungen. Im Gegensatz zur Schraube, die ihre Eigenschaft nie ändert, sind besonders bei jungen Menschen durchaus Veränderungen und Entwicklungen möglich. Für die Beeinflussung menschlichen Denkens und Verhaltens in eine gewünschte, den gesellschaftlichen Werten entsprechende Richtung, haben wir uns den Begriff Erziehung geschaffen.

Ich möchte hier von Kevin erzählen. Kevin passte in keine Schachtel. Er war kein Schüler, der es seinen Lehrern leicht machte. Die Anfertigung der Hausaufgaben war Glücksache, Arbeitsmaterialien fehlten ständig, Hefte und Bücher machten schon wenige Wochen nach der Anschaffung den Eindruck, als seien sie schon Jahre im Gebrauch. Als würde das nicht schon genügen, neigte Kevin dazu, selbst kleinste Konflikte mit Gewalt zu lösen. Alles Eigenschaften, die in der Schule überhaupt nicht akzeptabel sind, Eigenschaften, die, ganz besonders bei Lehrern, dazu angetan sind, einen Menschen nicht mit sonderlich viel Sympathie zu bedenken.
Bei Kevin war es irgendwie anders.
Trotz der starken Negativbilanz hatte er etwas durchaus Liebenswertes an sich. Er zeigte sich stets höflich und hilfsbereit, fröhlich und häufig auch ausgesprochen humorvoll. Ich mochte ihn und war jedes Mal, wenn er wieder einmal bei mir wegen irgendwelcher Verfehlungen zum Gespräch in meinem Büro antreten musste, erstaunt, überrascht und enttäuscht, dass trotz des so intensiven und fruchtbaren Meinungsaustausches keine Verhaltensänderung eingetreten war.
Kevin hatte nahezu ein Abonnement auf die 2. Chance.
Ich bin nie wieder einem Menschen begegnet, dem so viel Nachsicht entgegengebracht wurde, wie ihm. Trotz vieler herber Rückschläge, gab ich die Hoffnung nicht auf, Kevin wenigstens zu gewaltfreier Konfliktlösung zu erziehen.
An einem Montagmorgen schien ich meinem Ziel für kurze Zeit schon sehr nahegekommen zu sein. Ausgeruht nach dem Wochenende kam ich am Morgen in die Schule. Neben dem Aufgang zum Lehrerzimmer lehnte Kevin mit strahlendem Lächeln am Geländer und begrüßte mich.
„Guten Morgen Herr Petersen.“
„Guten Morgen Kevin, Schönes Wochenende gehabt?“
„Ging so. Hab noch mal darüber nachgedacht.“
„Worüber?“
„Also über Gewalt und so.“
„Aha! Und, zu welchen Ergebnissen bist du gekommen?“
„Also, Herr Petersen, ich finde Gewalt echt scheiße, oh, Tschuldigung! Das soll nun anders werden.“

Also haben die vielen Gespräche so kurz vor der Schulentlassung doch etwas gebracht. In mir begann sich das wohlige Gefühl auszubreiten, das man in Verbindung mit Erfolg verspürt.
„Das ist doch eine sehr schöne Nachricht zum Wochenbeginn. Ich drücke dir die Daumen, dass alles so klappt, wie du dir das vorstellst.“
„Ja. Das Kapitel ist für mich jetzt abgeschlossen. Null Gewalt, Herr Petersen.“
„Fein“, sage ich. Und während ich die drei Stufen zum Verwaltungsflur heraufsteige, trifft mich die Realität in ganzer Härte.
„Also, Herr Petersen, (kleine Pause) nur, wenn mir einer dumm kommt, dem hau ich eins aufs Maul!“
Ach Kevin. Das war dann ja nur ein kurzer Lichtblick.

Der Junge hat die letzten Wochen seiner Schulzeit ohne nennenswerte Konflikte bewältigt. Zwei Wochen vor der Entlassung fragte ich ihn, was er denn nach der Schule anfangen wolle.
„Kraftfahrzeugmechatroniker!“
Das kam, wie aus der Pistole geschossen.
„Dafür brauchst du aber einen guten Schnitt. Wo hast du denn eine Lehrstelle?“
„Hab noch keine.“
„Oh, das wird aber Zeit. Wie viele Bewerbungen hast du denn schon verschickt?“
Er druckst etwas rum und bringt dann gequält raus:
„Keine.“
Ich glaubte meinen Ohren nicht zu trauen. Der Bewerbungsreigen war doch schon vor Wochen abgeschlossen.
„Wie denkst du dir das? Glaubst du, dass dich die Meister fragen kommen, ob du bei ihnen ausgebildet werden möchtest?“
„Ich habe ja schon ein paar Male angefangen. Dann konnte ich nicht weiter.“
Kevin, der Junge mit dem Abo auf die 2. Chance.
Wir haben uns am Nachmittag in der Schule getroffen und drei Bewerbungen auf den Weg gebracht. Durch meine Vermittlung hat es noch mit einer Lehrstelle geklappt.

Ein gutes Jahr später treffe ich Kevin auf der Straße.
„Und“, frage ich ihn, „wie läuft es mit der Lehre?“
„Da bin ich seit zwei Monaten weg. Der Chef war immer so komisch, nur, weil ich es manchmal nicht geschafft habe, pünktlich bei der Arbeit zu sein. Fang jetzt als Zeitsoldat bei der Bundeswehr an.“
Das war mein letzter Kontakt zu Kevin. Seit damals habe ich ihn weder wiedergesehen noch habe ich etwas von ihm gehört.

Wo er nun wohl um seine 2. Chance kämpft?
Vielleicht in Afghanistan oder Timbuktu?
Egal, Kevin!
Ich wünsche dir, dass du inzwischen deinen Weg gefunden hast, dass irgendwann die 2. Chance einmal die letzte sein wird,  weil keine 2. Chance mehr nötig ist.
Kevin ist aus meinem Leben verschwunden, nicht aus meiner Erinnerung.
Wie wird er wohl sein Leben gestaltet haben?

Mittwoch, 9. März 2016

Der Ziegelhof in Oederquart Schinkel



Ein besonderes Baudenkmal mit einer bäuerlichen Tradition, deren Ursprung möglicherweise vor über 800 Jahren lag

Folgt man mitten in Wischhafen der Ausschilderung nach  Oederquart bewegt man sich bald  auf  sehr geschichtsträchtigem Boden. Die ersten Kilometer  der Straße bis Schinkel verlaufen schnurgerade. Interessant wird es ab dem zweiten Linksknick. Ab hier folgt die Straße einer Deichlinie, die ihren Ursprung irgendwo im 12. Jahrhundert hat. Vom Deich ist heute nichts mehr zu sehen. Irgendwann einmal durch einen aktuelleren, der Elbe näher gelegenen Deich, hat er seine Funktion verloren. Seine Erde mag der Erhöhung neuerer und höherer Deiche gedient haben.
Was heute noch an die längst vergessene Deichlinie erinnert ist die Straßenbezeichnung „Hollerdeich“. Verräterisch ist die Lage der Gehöfte: Allesamt liegen sie auf der südlichen Straßenseite, häufig mit der Giebelseite der Straße zugewandt. Denken wir uns dort, wo seit 1886 die Straße zwischen Schinkelweg und Landesbrück verläuft, einen Deich, haben wir ein Bild wie in zahllosen Dörfern, die sich zum Beispiel entlang des Elbdeiches im Alten Land gebildet haben.
Obwohl von der Architektur her sehr unterschiedlich, können alle Höfe am Oederquarter Hollerdeich auf eine jahrhundertealte  Siedlungstradition zurückblicken. Fluten und Feuer haben immer Gebäude verschwinden lassen  und Anlass geboten, Wohn- und Wirtschaftsgebäude nach derzeit modernstem Stand neu erstehen zu lassen. Zu den ältesten heute noch erhaltenen Hofanlagen gehören die in Fachwerkbauweise errichteten Niedersachsenhäuser. Aber auch sie sind selten älter als 200 Jahre.



Der Ziegelhof, eine der ältesten und schönsten Hofanlagen am Hollerdeich,  soll auf den folgenden Seiten ein wenig ausführlicher  beschrieben werden.
Er  liegt im Oederqarter Ortsteil Schinkel, schräg gegenüber der Abzweigung, die vom Hollerdeich im spitzen Winkel nordöstlich zur historischen Thingstätte, dem Schinkelplatz, führt.
Vier Gebäude der Hofanlage sind heute in sehr gutem Zustand erhalten. Der Hofplatz wird östlich von einer großen Kornscheune begrenzt. Schaut man von der Straße an ihr entlang, fällt der Blick auf drei unterschiedlich große Gebäude in Fachwerkbauweise und mit Reet gedeckt. Links befindet sich das kombinierte Wohn- und Wirtschaftsgebäude mit dem Wirtschaftsteil und seiner Grootdör zum Hofplatz. Dieses Gebäude mit seinem weit überhängenden Walmdach überm Wohnteil und den „Fledermausgauben“ ist wegen einer Balkeninschrift über der Grootdör dem Jahr 1839 zuzuordnen. Die nebenstehende Kruppscheune mit Kuh- und Pferdestall wurde bereits zum Ende des 18. Jahrhunderts errichtet. Deutlich jünger ist das kleinste und letzte Gebäude des Ensembles, der Schweinestall. Er fand zuletzt eine Nutzung als Kälberstall. Trotz des harmonischen Gesamtanblicks entdeckt der Betrachter nach etwas längerem Studium der Fassaden, dass sich die Gefache von Haupthaus und Kruppscheune leicht in der Größe unterscheiden. Außerdem ist an der Kruppscheune am Ständerwerk in der Giebelfront die für das Niedersächsische Hallenhaus typische Zweiständerbauweise abzulesen. Fußbänder im Giebeltrapez geben dem Fachwerk der Kruppscheune zusätzliche Stabilität. Sie fehlen beim jüngeren Haupthaus.
Noch vor einigen Jahrzehnten  stand im westlichen Gartenbereich ein Backhaus. Ilse Brümmer, die 1909 auf dem Hof geboren wurde und dort aufwuchs, berichtet außerdem noch von einem Wagenschauer, der mit einem Schafstall kombiniert war, und von einer Remise für die Kutschen. In ihrer Jugend gab es noch mehrere Brücken über den Hofgraben und der Hofplatz war mit einem für die Kehdinger Hofanlagen typischen weißen Lattenzaun umgeben.




Der Südgiebel des Wohntraktes
Typisch für die Bauweise im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts ist der das weit überkragende Walmdach.  Foto: Petersen 

Professor H. Ziegert hat mit seinen Grabungen entlang des Hollerdeiches und auf dem Hofgelände des Ziegelhofes einige Vermutungen älterer Chronisten bestätigen können. Die von ihm südlich und nördlich der vermuteten Deichlinie vorgenommenen Bodenuntersuchungen haben den eindeutigen Nachweis erbracht, dass eine erste Nordkehdinger Deichlinie sich von Hohenlucht kommend durch Oederquart auf der Trasse des Hollerdeiches und dann weiter dem Verlauf des Schinkelweges nach Hamelwörden folgend existierte. Nachzulesen sind seine diesbezüglichen Forschungen im Buch „Nordkehdingen – Tradition und Geschichte“ herausgegeben vom Flecken Freiburg im Jahr 1998.
Für den Ziegelhof hat er herausgefunden, dass dort erst nach Errichtung des ersten Deiches gesiedelt wurde. Heimatkundler hatten diese Vermutung schon immer geäußert, weil keine der Hofanlagen entlang der ehemaligen Deichlinie des Hollerdeiches auf einer Wurt liegen. Außerdem hat Ziegert durch die Grabungen auf dem Ziegelhof herausgefunden, dass unter dem Baugrund keine Pflugspuren zu finden waren. Daraus schließt er, dass die erste Bebauung erst kurz nach dem Deichbau stattgefunden haben kann.
Die große offene Frage ist nun: Wann wurde der Deich gebaut? Es gibt weder Quellen über den Deichbau noch über seinen wesentlich späteren Rückbau.
Hier helfen Hinweise aus heute noch gebräuchlichen Flurbezeichnungen weiter. „Hollerdeich“, „Holenwisch“.  Diese Namen verraten ebenso wie „Hollern“ im Alten Land, dass hier eine Holländer Kolonisation  stattgefunden hat. Holländer hatten bereits in ihrer Heimat erhebliche Erfahrungen in der Urbarmachung öder und moorastiger Niederungen. Sie kamen häufig auf Aufforderung geistlicher oder weltlicher Fürsten. Als Anreiz wurde ihnen das urbar gemachte Land übereignet und eine befristete Abgabenfreiheit zugesagt. Dass die Holländer eine besondere Rolle in der Nordkehdinger Marschenbesiedlung gespielt haben, hat August von Wersebe  in seinem Werk „Über die Niederländischen Colonien  …“ von 1815 mit einigen weiteren Namens- und Begriffsanlysen zu belegen versucht. Wersebe: „Die holländischen Namen van der Does, Douza, u.s.w. lassen mich wenigstens vermuten, dass dieses Does oder Doese mit den deutschen Namen: Doren, Dorum, Düring u.s.w., welche einen dürren oder trockenen, erhöhten Platz bezeichnen, gleichbedeutend sei. Auch das deutsche Wort Dorf scheint aus dieser Quelle abgeleitet werden zu müssen; wie denn auch der Torf einen gedörrten Moorsoden bedeutet.“
Einen weiteren Hinweis auf das Wirken der Holländer liefert das für den Dösebereich früher übliche friesische Deichrecht im Gegensatz zum sächsischen Deichrecht, das später Anwendung in Freiburg und Krummendeich fand.
Die Holländer kamen zu Anfang des 12. Jahrhunderts in die Elbmarsch. Damit dürfte zu diesem Zeitpunkt auch der früheste mögliche Ursprung des Ziegelhofes liegen.
Über die Anfänge des Ziegelhofes gibt es weiter keine Belege. Es ist allerdings anzunehmen, dass schon gleich nach der Eindeichung mit dem Ackerbau begonnen wurde. Zusätzlich bildete bis weit in die Neuzeit hinein die Viehzucht und Weidemast ein weiteres wirtschaftliches Standbein für die Bauern am Hollerdeich.
Auffallend ist, dass Kehdingen eine sehr hohe „Adelsdichte“ hat. Viele große Kehdinger Höfe waren Adelssitze. Eine Erklärung dafür liefern möglicherweise die tragischen Ereignisse während des Stader  Turnieres  zu Beginn des 14. Jahrhunderts. Erzbischof Gieselbert ließ die zum Turnier geladenen freien Bauern Kehdingens heimtückisch ermorden. Die Höfe der ermordeten Bauern wurden angeblich adligen Gefolgsleuten des Erzbischofs übergeben. Alte Kehdinger Adelsgeschlechter wie die Blancken, Brummer, Drewes, Gerdes, Göben, Gruben, Lackmann, Lütken, Offen, Schwarten, Segemann und Warner sind erst nach der Kehdinger Eroberung ins Land gekommen. Sie waren alle schon vor 1300 als rittermäßig und in anderen Gegenden des Erzstiftes wohnend genannt.
Ich hätte den vorangegangenen Absatz nicht erwähnt, wenn nicht unter den „Neubürgern“ der Name „Brummer“ aufgetaucht wäre. Brummer, an anderer Stelle auch von Brummer oder Brümmer genannt, ist also eine der alten Kehdinger Adelsfamilien. Hier könnte sich ein weiterer Bezug zum Ziegelhof ergeben.  Es gibt Tagebuchaufzeichnungen des Landwirtes Diedrich Brümmer, geb. 2.2.1783, über Beobachtungen, die er in der Zeit von 1811 bis 1852 als Bauer auf dem Siegelhof gemacht hat. Sie haben richtig gelesen, vorübergehend schreibe ich den Ziegelhof  als Siegelhof.  Diedrich Brümmer ein Nachkomme des Brummerschen Adelsgeschlechtes?  Der Siegelhof ein Adelssitz?
Der Familienname spricht ebenso dafür wie auch die Tatsache, dass der Hof in früheren Zeiten für Wert erachtet wurde, das Kehdinger Landessiegel zu verwahren.
Diedrich Brümmer nennt seinen Hof in seinen Aufzeichnungen mehrfach Siegelhof. Es ist nicht davon auszugehen, dass er sich verschrieben hat. Bleibt die Frage, wie der Siegelhof zum Ziegelhof wurde?
Möglicherweise hatte man irgendwann die Beziehung zum Kehdinger Landessiegel vergessen und als im 19. Jahrhundert die Ziegelproduktion  in der Kehdinger Elbmarsch boomte die Namenspatenschaft des Ziegels für sinnvoller erachtet?

Diedrich Brümmers Tagebuchaufzeichnungen sollen hier in Auszügen erwähnt werden soweit sie  Auskunft über den Hof geben. Kern seiner Berichte sind Wetterbeobachtungen, Aussaat- und Erntebedingungen und die aktuellen Preise, die für seine Produkte zu erzielen waren. Auf dem Acker baute er Weizen, Roggen, Gerste und Hafer an. Raps, Bohnen, Erbsen und Flachs erwähnt er ebenfalls. Kartoffeln und Obst drohten manches Mal zu erfrieren. Die Witterung beeinflusste nicht nur die Ernteerträge. Notwendige Arbeitsabläufe verzögerten sich wie die Feldbestellung, Grabenkleien, Kuhlen, Ernte, etc. In Zusammenhang mit der Witterung verweist Brümmer mehrfach auf die Unpassierbarkeit der Wege. Unter den erwähnten Tieren finden die Pferde, Kühe und Ochsen seine besondere Aufmerksamkeit. Ein echtes Problem stellen immer wieder Mäuseplagen dar. Was nicht von Katzen und Eulen aufgefressen wurde, bildete immer wieder eine ernstzunehmende Gefahr. In Massen auftretende Mäuse vernichteten große Mengen gelagertes Saat-, Futter- und Brotgetreide.
Brümmers Berichtszeit fällt in die französische Besatzungszeit. Immer wieder schreibt er von den hohen Abgaben. Mal ist es Geld, ein Ochse oder Wagenladungen Getreide, die sogar einmal bis Magdeburg geliefert werden mussten. Gelegentlich beschreibt er, wie er sich von irgendwelchen Verpflichtungen freikaufen kann. Trotz aller Belastungen und der häufigen witterungsbedingten Rückschläge  scheint er immer genug für seine Familie und den Hof gehabt zu haben.
Interessant ist, dass er die Wirtschaftsabläufe auf dem Hof und zahlreiche aktuellen politische Ereignisse ausführlich kommentiert. Seine Familie, Krankheiten, Tod, Geburten finden keine Erwähnung. In die Zeit seiner Aufzeichnungen fällt auch der Neu- bzw. Umbau seines Wohnhauses, damals wie heute ein einschneidendes Ereignis. Brümmer erwähnt es nicht.
Diedrich Brümmers Tagebuch ist ein sehr ergiebiges Zeitdokument und verdient es bei anderer Gelegenheit noch einmal ausführlicher dargestellt zu werden.



Der Ziegelhof 1942 vom Hollerdeich aus fotografiert. Hier ist noch die weiße, für Kehdinger Höfe typische Einzäunung des Hofplatzes zu sehen.
Quelle: Archiv Petersen, Fotograf unbekannt




Ziegelhof 2010, Ansicht vom Hollerdeich.  Foto: Petersen

Brümmers bewirtschafteten den Hof auch noch über die Jahrhundertwende. Im Jahre 1909 erblickte Ilse Brümmer auf dem Ziegelhof als drittes Mädchen das Licht der Welt. Sie hat für ihre Nachkommen einen lebendigen Bericht über das Leben auf dem Ziegelhofes gegeben. Was diesen Bericht so interessant macht ist die Tatsache, dass sich Vieles von dem, was sie berichtet, in den Gebäuden abspielte, die heute noch vorhanden sind.
Sie beginnt  mit der Beschreibung der Raumnutzung. Im „Vorderend“ des Haupthauses befand sich die Diele mit dem gestampften Lehmboden, auf dem im Winter das Getreide  mit Dreschflegeln ausgedroschen wurde. Auf der einen Dielenseite standen die großen Ochsen und gegenüber befanden sich die Stuten mit den Fohlen. Im „Achterend“ befanden sich die Wohnräume, die große Eingangsdiele mit  den schwarz-weißen Fliesen (die dort heute noch liegen) und die Küche. Von der Küche gab es einen Gang zur „Leutestube“ und der dahinter liegenden „Kökschenkammer“.  Wasser zum Waschen musste aus dem Brunnen  gepumpt werden. Für alle Leute hing ein großes Handtuch in der Leutestube über einer Rolle.
Das nebenliegende Gebäude war die „Kruppscheune“. Sie hatte ebenfalls eine Diele mit Lehmboden und Ställen für die Kühe auf der einen und die Pferde auf der anderen Seite. Ein von Pferden angetriebenes Kammrad wurde zum Häckseln und Buttern eingesetzt. Zum Buttern musste immer dasselbe Pferd, die alte Lise, ran. Sie kannte den Vorgang so genau, dass sie am Geräusch im Butterfass erkannte, dass die Butter fertig war. Dann blieb sie geduldig stehen und wartete bis jemand kam. Über den Ställen befanden sich die Hillen und die Diele war vom Heuboden überdacht.
Im kleinsten der drei giebelständigen Hofgebäude waren die Kälber und das Jungvieh untergebracht. Auf dem Dachboden war Platz genug für Torf.
Etwas abseits zum westlichen Hofrand hatte es zu Ilse Brümmers Zeiten noch einen Wagenschuppen  mit angebautem Schafstall gegeben.
Besondere Aufmerksamkeit widmet sie dem Backhaus. Wegen der Feuergefahr, die vom Funkenflug ausging, stand es so weit wie möglich von den übrigen Gebäuden entfernt. Brümmer: „Als meine Mutter als junge Frau um die Jahrhundertwende auf den Ziegelhof kam, wurde noch selbst gebacken.“ Die Tagelöhnerfrauen mussten helfen und durften dafür ihr eigenes Brot mitbacken. Was hier aus dem Backofen kam war recht vielfältig: Schwarzbrot aus Roggenmehl, Mischbrot, Semmel, Butterkuchen, Zwieback und  Kaffeebrot.
Als Kind hat Ilse Brümmer das Backhaus nur noch als Werkstatt, Obstlager, Waschküche und „Badezimmer“ erlebt. Dort gab es nämlich eine Pumpe über einer Zisterne und das Badewasser konnte in den großen Waschgrapen  warm gemacht werden.
Von noch früheren Zeiten weiß Ilse Brümmer zu erzählen, dass auch Bier auf dem Hof gebraut wurde. Aus eigenem Erleben kann sie noch von täglichem Schnapsausschank  an die Arbeiter  berichten. Das war früher auf allen Höfen besonders während der Zeit des Kuhlens und Gräbenkleiens üblich.
In der großen Kornscheune wurde das Getreide gelagert bis es im Herbst und Winter gedroschen wurde. Außerdem beherbergte die Kornscheune auch noch einige Pferdeboxen. In der seitlichen Remise befanden sich zwei Ausfahrwagen, ein Einspänner und ein Zweispänner. Am Pferdegeschirr des Zweispänners befanden sich Silberbeschläge mit den Initialen von Richard Brümmer.




Diese Aufnahme stammt vermutlich aus den Jahren 1914-1916. Sie zeigt links die drei Brümmertöchter Erna, Herta und Ilse (die Kleine). Die Frauen mit den weißen Schürzen gehören zum Personal. Das Wohn-Wirtschaftsgebäude ist von der östlichen Hofgrenze aufgenommen.
Quelle: Hofarchiv Jens Nordlohne, Katharina Kohlmayr, Fotograf unbekannt
 

 
Am Hof hing vor 100 Jahren außer der Bauernfamilie noch eine ganze Traube von mehr oder weniger abhängigen Personen. Der Oberknecht war unter dem Bauern die zweite unangefochtene Autorität gegenüber den Leuten. Ihm unterstanden der Zweitknecht, der Großjunge, ein Mitteljunge und ein 14-jähriger „Swienjunge“. Ein Tagelöhner wohnte in einem hofzugehörigen Haus vorne am Elbdeich. Seine Aufgabe war es, auf das Vieh im Außendeich zu achten. Der Oberknecht wohnte neben dem Hof in einem Haus, das ebenfalls zum Hof gehörte. Auf dem Hochmoor wohnten drei weitere Familien im eigenen Haus, das allerdings auf Grund und Boden stand, der zum Ziegelhof gehörte. Die „Moorleute“ verdingten sich immer, wenn auf dem Hof besondere Arbeiten anfielen wie das Dreschen mit der großen dampfgetriebenen Dreschmaschine oder das Grabenkleien. Als Pacht für den Grund , auf dem sie wohnten, brachten die Moorleute im Herbst Torf und Kartoffeln.
Insgesamt gehörten 100ha zum Hof und er erstreckte sich einmal in einem schmalen Streifen vom Moor bis an den Elbdeich in Allwörden.




Remontenschau (hier in Hamelwörden) diente dem Heer zum Einkauf von Pferden für die Kavallerie. Für die Pferdezüchter einer der wichtigsten Termine im Jahr. Das Foto stammt aus der Zeit von 1933 – 1935.
Quelle: Archiv Petersen, Fotograf unbekannt


Ein besonderes Ereignis in Kehdingen war in jedem Frühjahr der Remontenmarkt, wenn die Offiziere der kaiserlichen Armee und später die Wehrmachtsoffiziere junge Pferde fürs Heer kauften. Pferde, die nicht militärtauglich waren, wurden als Arbeitspferde auf dem Hof eingesetzt. Allein sechs Pferde gingen beim Tiefpflügen vor dem Pflug und jeder Wagen wurde von Pferden gezogen. 
 






Ilse Brümmer beschreibt in ihren Aufzeichnungen ausführlich die Arbeitsabläufe auf dem Hof zur Zeit ihrer Kindheit. Pferde, die nicht ans Militär verkauft werden konnten, wurden Arbeitspferde. Allein zum Ziehen des Einschaarpfluges wurden schon 6 Pferde benötigt. 12 – 16 Arbeitspferde auf einem Kehdinger Hof waren in der Zeit vor den Traktoren keine Seltenheit.
Quelle: Archiv Petersen, Fotograf unbekannt


Von Ilse Brümmers Vater wechselte der Hof  1925 auf ihre Schwester Erna und deren Mann Franz. Mit dem Generationswechsel hatte der Name Brümmer sich vom Ziegelhof verabschiedet. Fortan trugen die beiden letzten Familien, die den Hof bewirtschafteten, den Namen Elfers. Richard Elfers, der letzte Bauer auf dem Ziegelhof, hatte wie schon zuvor sein Vater, unter den Folgen hoher Erbteilsauszahlungen zu leiden. Hinzu kamen rasante Veränderungen in der Landwirtschaft seit den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Sie stellten völlig neue Anforderungen an die Landwirte.  Wirtschaftsformen, Maschinen, Personaleinsatz und auch die Gebäudesubstanz  mussten den Anforderungen zeitgemäßer Bewirtschaftung angepasst werden. Zeitgleich entwickelte sich in der Gesellschaft das zunehmende Bedürfnis nach Erhalt  historischer Bauten. Ständig strengere Vorgaben des Denkmalschutzes verhinderten eine Anpassung der denkmalgeschützten alten Niedersachsenhöfe an die Bedürfnisse einer modernen Bewirtschaftung. Die Folge war der Verfall vieler schöner alter Höfe, weil das Geld für die aufwendige Unterhaltung und die teuren Versicherungen fehlte. Landwirte mit denkmalgeschützter Bausubstanz hatten einen erheblichen Wettbewerbsnachteil und konnten ihren Betrieb oftmals nicht mehr erfolgreich  weiter bewirtschaften.



Franz (links) und Richard Elfers mit ihren Frauen  Erna, geb. Brümmer (vorne sitzend) und Christa (hinten rechts). Die Jungen sind Richard Elfers (vorne stehend) und Georg, Söhne von Richard und Christa Elfers. Mit der Hofaufgabe endete 1983 die Jahrhunderte währende bäuerliche Tradition des Ziegelhofes.
Quelle: Die Aufnahme entstammt dem Privatarchiv von Georg Elfers und entstand 1957. Fotograf: Heuschmann, Freiburg
 
Als Georg Elfers als dritter Elfers vor der Frage stand, ob er den Hof weiterführen solle, ergaben alle Wirtschaftlichkeitsüberprüfungen, dass eine erfolgreiche Weiterführung des Betriebes aussichtslos sei. Finanzielle Altlasten und notwendige Modernisierungen überschritten bei weitem das Volumen dessen, was mit den am Hof verbliebenen Flächen zu erwirtschaften wäre.
Familie Richard Elfers trennten sich 1983 schweren Herzens vom traditionellen Familiensitz. Mit ihrem Abschied vom Ziegelhof endete auf dieser historischen Siedlungsstätte eine Jahrhunderte währende bäuerliche Tradition.

Wenn wir uns heute über die großen und wunderschön erhaltenen Hofanlagen in Nordkehdingen freuen, dann ist das dem Umstand zu verdanken, dass die Besitzer nicht gezwungen sind, allein vom Hof zu leben. Zur Gruppe der Hofeigentümer, die sich beruflich umorientierten, kam die Gruppe der „Stadtflüchter“.  Fasziniert vom Reiz der alten Hofanlagen und getrieben von dem Wunsch nach Ruhe und Natur haben sie mit hohem Kraft- und Finanzaufwand die Herausforderungen ihres neuen Besitzes angenommen.
Einer von ihnen ist der freie Filmemacher und Journalist Christian Sterley, der den Ziegelhof 1983  von der Familie Richard Elfers übernahm. Mit viel Liebe hat er den Ziegelhof in seinen heutigen Zustand versetzt. Alle Gebäude und die umgebenden Flächen befinden sich in einem gepflegten Zustand. Als Dokumentarfilmer setzte Sterley sich in aller Welt großen Strapazen aus. Auf dem Ziegelhof in Oederquart hat er sich seine Rückzugsoase geschaffen. Hier hat er sich die Kraft für neue Projekte geholt. Wenn wir heute ehrfürchtig und fasziniert vor diesem Denkmal bäuerlicher Wohn- und Wirtschaftskultur stehen, haben wir unsere Freude am Ziegelhof Christian Sterley und seinen Helfern und Beratern zu verdanken.








Katharina Kohlmayr und ihr Mann Jens Nordlohne sind die neuen Besitzer des Ziegelhofes. Hündin Callas sorgt dafür, dass niemand unbemerkt auf den Hof kommt.
 Foto: Petersen 

Der letzte Abschnitt meiner Arbeit über den Ziegelhof soll den aktuellen Besitzern Katharina Kohlmayr und Jens Nordlohne gewidmet sein. Sie gehören der zweiten Generationder„Stadtflüchter“ an und haben den Hof 2009  in einem sofort bewohnbarenZustandübernommen. Für beide war es wie die Liebe auf den ersten Blick. Jens Nordlohne ist gebürtiger Norddeutscher aus der Gegend von Lohne. Er ist also bestens vertraut mit dem, was ihn hier in Norddeutschland erwartet. Katharina Kohlmayr kommt aus den österreichischen Alpen. Sie hat sich schon häufiger anhören müssen, warum sie denn ausgerechnet hier zu Hause sein wolle. Neben dem schönen Anwesen hat sie sich in die weite der Landschaft, den großen Himmel und andere norddeutsche Besonderheiten verguckt.
 Inzwischen haben sie nicht nur ihren Wohn- sondern auch ihren Firmensitz auf den Ziegelhof verlegt. Nordlohnes haben im weiteren Sinne eine Unternehmensberatung. Das Unternehmen lässt sich zu großen Teilen von Oederquart aus führen.
Katharina Kohlmayr und Jens Nordlohne sind immer noch dabei „anzukommen“. Täglich entdecken sie Neues auf ihrem Hof. Sie sprechen mit Zeitzeugen, die auf dem Hof gelebt und gearbeitet haben und stöbern mit großer Freude in Quellen, die ihnen irgendetwas über die Geschichte ihres neuen Zuhauses preisgeben. Als Besucher kann man sich der Begeisterung der neuen Ziegelhofbesitzer nicht entziehen, man wird von der Freude der Gastgeber über ihren neuen Besitz förmlich infiziert.
Katharina Kohlmayr und Jens Nordlohne wollen ihre Freude am Ziegelhof gerne mit anderen Menschen teilen und stecken voller Ideen, wie der Hof vielleicht noch genutzt werden könnte. Sie sind am Anfang ihrer Suche. „Was wir auf jeden Fall anstreben“, meint Jens Nordlohne, „ist irgendeine Form der Bewirtschaftung. Dieser Hof soll wieder leben über das reine Wohnen hinaus.“