Montag, 9. November 2015

Seemannsgarn ist das hier nicht



Seemannsgarn! Das ist wohl der erste Gedanke aller Menschen, die diese Geschichte gehört haben. Scheinbar erfüllt sie auch alle Anforderungen handfesten Seemannsgarnes: Sie ist schier unglaublich und wird von denen, die sie (angeblich) erlebt haben, mit einer Überzeugungskraft vorgetragen, die keine Zweifel zulässt. Hein Köhn, Kapitän auf großer Fahrt, und seine Frau Elke haben sie erlebt.
Ja, richtig! Sie haben sie erlebt.
Spürt man schon, dass ich glaube, was ich gehört habe?
Dass Hein Kapitän ist, könnte für Seemannsgarn sprechen. Dagegen spricht, dass ich Elke und Hein nun schon ganz schön lange kenne. Sie sind absolut ehrenwerte Menschen. Zugegeben, wenn Hein einen „lütten im Tee“ hat, wird er auch schon einmal lustig. Aber lustig sein heißt doch noch lange nicht, dass man sich gleich eine Geschichte ausdenkt und das „Tütern“ anfängt.
Nein, so etwas würde Hein nie machen!
Und wenn doch?
Elke würde nicht mitspielen!
Ja, Elke ist der wahre Grund, warum ich meine letzten Zweifel an der Wahrheit dieser Geschichte verloren habe. Elke hat zwar auch gerne Spaß, aber bei dieser Geschichte wäre bei ihr die Grenze zum Spaß schon lange überschritten.

Nun wird es langsam Zeit für die Geschichte.
Hein fuhr auf Kümos überwiegend Ostsee, Nordsee, Irische See oder auch schon Biskaya, Spanien oder Nordafrika. Er erlebte den rasanten Wandel in der Seeschifffahrt, den Konkurrenzdruck dem die Reedereien ausgesetzt waren. Mit Romantik hatte der Seemannsberuf nichts mehr zu tun. Die Liegezeiten in den Häfen wurden immer kürzer, Landgänge waren bei den immer perfekteren Lade- und Löschtechniken einfach nicht mehr drin. Ausladen, einladen und weiter zum nächsten Hafen! Auch an Bord änderte sich einiges. Deutsche Matrosen wurden den Reedereien zu teuer. Und so kam es, dass Hein Köhn ebenso, wie vor ihm schon viele andere Kapitäne, mit einer Crew fuhr, die sich überwiegend aus Filipinos zusammensetzte. Die Verständigung an Bord reduzierte sich auf das Notwendigste und wurde in einem bordeigenen Englischmix geführt. Nach und nach verschwanden auch die deutschen Offiziere und der Chief, der Maschinist, vom Schiff. Häufig wurden sie durch wesentlich billigere und nicht unbedingt gleich gut ausgebildete Seeleute aus Osteuropa ersetzt. Hein Köhn konnte mit der bunten Crew den Erwartungen seiner Reederei gerecht werden. Aber das Leben an Bord wurde zunehmend einsamer für Hein. Keine Menschen mehr an Bord, mit denen er sich in seiner Muttersprache unterhalten konnte. Der Koch war nun auch ein Filipino. Er kochte anders, es roch anders aus der Kombüse, Schweinefleisch, und damit auch die geliebten Bratkartoffeln mit Speck, waren aus dem Speiseplan verschwunden.
Was für eine Fügung des Schicksals, dass zu dieser Zeit die beiden Kinder von Elke und Hein aus dem Haus waren und Elke immer häufiger an Bord kam. Bis zu acht Wochen im Stück begleitete sie Hein mehrmals im Jahr. Das waren schöne Zeiten für den Kapitän, auch, wenn er in einigen Teilbereichen die Kommandohoheit über sein Schiff verlor. Wenn Elke an Bord war kümmerte sie sich darum, dass es in der Kapitänskajüte behaglich war. Sie achtete auf die Wäsche und löste den Filipino in der Küche ab. Die Mannschaft aß zwar immer noch kein Schweinefleisch, musste sich in den Wochen mit der Kapitänsfrau an Bord aber bald an den Geruch von gebratenen Zwiebeln und ausgelassenem Speck gewöhnen.
Meistens schöne Zeiten! Gelegentlich gab es aber auch Autoritätsprobleme zwischen Kapitän und sener Frau, die es ohne Elke an Bord nicht gegeben hätte. Wie die meisten Männer hatte auch Hein seine Lieblingskleidungsstücke. Hein liebte seine ledernen, hinten offenen Latschen über alles. Diese Latschen verband er mit einem Höchstmaß an Behaglichkeit und auch Bequemlichkeit.
So sehr Hein die Schuhe liebte, so sehr waren sie Elke ein Dorn im Auge. Das Schuhwerk stellte schon lange keinen schönen Anblick mehr dar. Viel schlimmer noch: Das Innenbett war rissig geworden und Hein lief sich sämtliche Socken in den Schuhen kaputt. Für einige Monate konnte Hein die Zwangsentsorgung der Sockenkiller herauszögern, indem er die rauen, rissigen Stellen mit Leukoplast oder einem anderen Tape abklebte. Als dann trotz dieser Rettungsmaßnahmen erneut ein Paar Socken an den einschlägigen Stellen Löcher aufwiesen, war Elkes Geduld erschöpft. Bei nächstbester Gelegenheit, es war während einer Reise im Spätsommer 1997, hatte sie passenden Ersatz für die alten Latschen organisiert.
Da standen sie nun, die neuen, glänzenden, neben den alten Schuhen in der Kapitänskajüte. Elke freut sich, dass das Kapitel mit den kaputten Socken nun ein Ende gefunden hat.
Und, was macht der Kapitän?
„Schöne Schuhe, die du da gefunden hast“, sagt er, steigt in seine alten Latschen und verschwindet auf die Brücke.
So hatte Elke sich die Geschichte nicht gedacht. Kaum, dass der Käpt´n  sich wenige Stunden später zur Ruhe begeben hatte, nahm sie seine alten Latschen und entsorgte sie mitten im Englischen Kanal in hohem Bogen über die Bordwand. Zurück in der Kajüte schaut sie mit entspanntem Blick auf die neuen Schuhe, die dort neben der Tür nun ganz alleine auf dem Boden standen. Mit einem Lächeln im Gesicht legte auch sie sich zur Ruhe.
Die Ruhe hatte ein Ende, als Heins Freiwache zuende war.
„Elke, weißt du, wo meine Schuhe geblieben sind?“
„Stehen da doch neben der Tür!“
„Nein, das sind die neuen.“

Es gibt Dinge, die macht man einfach nicht. Dazu gehört auf jeden Fall auch, die Lieblingsschuhe des Ehemannes über Bord zu schmeißen. Der Alte, so haben ihn immer die deutschen Seeleute genannt, wenn er es nicht hörte, war ernsthaft verstimmt. Und bei einem derart schwerwiegenden Eingriff in seine Persönlichkeitsrechte dauerte die Verstimmung offiziell vom Englischen Kanal bis Kiel Kanal, der eigentlich ja Nord-Ostsee-Kanal heißt. Inoffiziell, im tiefsten Innern des Kapitäns, nagte der schwere Verlust weiter und trübte die Stimmung auch noch, als Hein und Elke im besagten Kiel Kanal ausstiegen, um nach kurzem Stopp im nahen, heimatlichen Freiburg in den wohlverdienten Urlaub nach Sylt aufzubrechen.
Während der Ablösekapitän das Schiff schon längst bis in die hintersten Buchten der Ostsee führte, ebbten bei Hein Schmerz und Groll langsam ab. Elke und Hein genossen ihren Urlaub im späten Oktober bis Anfang November bei langen Spaziergängen über die einsamen Strände der Insel.
Es war am 7. November, in der Nacht hat der erste kurze aber heftige Herbststurm die Nordsee mit hohen Wellen auf Sylts Strände getrieben. Das raue Wetter liegt den beiden Freiburgern. Anoraks an, Mütze auf den Kopf und raus geht´s  irgendwo bei Hörnum an den Strand. Elke geht barfuß, die Füße immer leicht umspült von der nun schon recht kühlen Nordsee. Das liebt sie, wie das Schwimmen in der Krummendeicher Badekuhle, wenn es allen anderen längst noch oder schon zu kalt ist. Hein geht lieber weiter oben, wo die Flut der letzten Nacht einen beachtlichen Treibgutwall aus Seetang, Treibholz und Müll aus aller Herren Länder aufgebaut hat. Beide, Elke und Hein, gehen meist mit gesenktem Kopf, immer in der Hoffnung, eine schöne oder kuriose Entdeckung zu machen.
Schiffsmüll ohne Ende.
„Vielleicht doch nicht so gut, dass sämtlicher Müll über Bord geht“, denkt Hein beim Anblick des Unrates auf dem Strand.
Dann erregt ein Schuh, halb von Sand und Seetang verdeckt sein Interesse.
Er bückt sich, zieht den Schuh hervor. Elke kommt hinzu.
„Sieht aus, wie meine alten.“
„Da gibt es aber mehr von.“
Hein spült den Schuh in einer auslaufenden Welle ab und glaubt seinen Augen nicht zu trauen.
„Elke, das ist mein Schuh!“
„Hör auf, das bildest du dir nur ein.“
„Und was sagst du zu diesem Tape? Das „eklige“ Leukoplast, über das du dich immer so aufgeregt hast!“
Tatsächlich, der Schuh war ihr plötzlich sehr vertraut. Auch sie erkannte die Klebestreifen wieder. Irre!
 Den ganzen weiteren Weg reden sie über den unglaublichen Zufall, der sie mit dem geliebten oder auch ungeliebten Schuh zusammengeführt hat.
„Es muss ja eine Strömung vom Ärmelkanal hierherführen, anders kann es nicht sein“, meinte Hein mehrmals als Antwort der nicht ausgesprochenen Frage in seinem Kopf. Elke teilt seine Meinung.
Der Schuh darf mit ins Urlaubsquartier.
Bis dahin ahnten die beiden noch nicht, dass sie am Anfang einer Zeit standen, die bestimmt sein würde von sich immer wiederholenden Beteuerungen, dass alles wahr sei. Alles! Ungelogen!
Heins Bruder war der Erste, der am Telefon die Geschichte von der wunderlichen Heimkehr des Latschens schlucken musste. Er sollte nicht der einzige bleiben.
Schon am nächsten Tag verbreitete sich die Geschichte. Der Inselbote interessierte sich und es gab ein Interview mit Elke und Hein. Ein Foto von den beiden mit dem Latschen in der Hand illustrierte den am Folgetag veröffentlichten Artikel. Nun wusste die ganze Insel Bescheid und die beiden wurden häufiger von wildfremden Menschen angesprochen.
„Seid ihr nicht die beiden mit dem Schuh?“

Am Abend, vor dem Einschlafen kreisten die Gedanken durch Heins Kopf.
„Du Elke, weißt du woran ich denken muss?“
„Nein.“
„Wenn der eine Schuh nach Sylt gekommen ist, muss der zweite eigentlich auch hier sein. Schließlich sind sie an der gleichen Stelle ins Meer gekommen, hatten die gleichen Wind- und Strömungsbedingungen. Wenn wir den anderen Schuh auch noch finden würden, wie wäre das wohl?“
„Schlaf jetzt“, brummelte Elke.
Hein überlegte bis zum Einschlafen, wo er anderntags die Suche aufnehmen wollte.

Die Strandwanderungen für die nächsten Tage waren vorbestimmt. Hein wollte unbedingt die Strandabschnitte vor und hinter der Fundstelle absuchen. Elke war es ziemlich egal, wo sie liefen. Hauptsache an der frischen Luft.
Wer bis jetzt noch an die Wahrhaftigkeit dieser Geschichte geglaubt hat, wird gleich das Zweifeln anfangen. Am 12. November 1997, genau fünf Tage nach dem denkwürdigen Fund an Hörnums Strand, finden Elke und Hein Köhn den zweiten Schuh nur wenige Kilometer von der ersten Fundstelle. Sensationell! Ein weiterer Termin mit der Zeitung kam nicht mehr zustande. Hein und Elke mussten nach Hause.
Mit ihnen reiste das Paar Schuhe, das Hein über viele Jahre und noch viel mehr Seemeilen an den Füßen getragen hatte. Nach einer kurzen Zeit der Trennung haben sie wieder zueinander gefunden. Zu Hause hat Hein die beiden Latschen auf einer Holztafel befestigt. Datum und Fundort auf Sylt sind neben den Schuhen vermerkt. Täglich besucht Hein die „Wiedergänger“ aus der Welt der Schuhe, wenn er  sein Fahrrad aus der Garage schiebt, um zum Hafen zu radeln. Hier, an der Wand in der Garage, haben Heins einst so geliebten Latschen ihre letzter Ruhestatt gefunden.
Seine neuen Latschen sehen inzwischen den alten sehr, sehr ähnlich. Sie sind nur noch keine Sockenkiller. Vielleicht stehen deshalb noch keine neuen neben den alten neuen in der Küche.

Wahr oder erfunden? Für mich keine Frage, alles wahr!

Zufall? Ich glaube nicht an solche Zufälle. Hier hat eine andere, eine höhere Macht die Finger im Spiel gehabt.  Eine Macht, die Verständnis hat für die tiefen Beziehungen, die sich gelegentlich zwischen Männern und den von ihnen benutzten Kleidungsstücken, Autos oder Werkzeugen etc. ergeben. Hier hat eine Macht agiert, die euch Frauen sagen will: „Finger weg von den kleinen Lieblingen eurer Männer! Der Ärger, den ihr euch durch derartige Übergriffe einhandelt, steht oft in keinem Verhältnis zu dem bisschen Ärger, den ihr verspürt, wenn ihr euren Mann schon wieder in der abgewetzten Jacke oder in den ausgelatschten Schuhen seht!“



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