Seemannsgarn!
Das ist wohl der erste Gedanke aller Menschen, die diese Geschichte gehört
haben. Scheinbar erfüllt sie auch alle Anforderungen handfesten Seemannsgarnes:
Sie ist schier unglaublich und wird von denen, die sie (angeblich) erlebt
haben, mit einer Überzeugungskraft vorgetragen, die keine Zweifel zulässt. Hein
Köhn, Kapitän auf großer Fahrt, und seine Frau Elke haben sie erlebt.
Ja, richtig!
Sie haben sie erlebt.
Spürt man
schon, dass ich glaube, was ich gehört habe?
Dass Hein
Kapitän ist, könnte für Seemannsgarn sprechen. Dagegen spricht, dass ich Elke
und Hein nun schon ganz schön lange kenne. Sie sind absolut ehrenwerte
Menschen. Zugegeben, wenn Hein einen „lütten im Tee“ hat, wird er auch schon
einmal lustig. Aber lustig sein heißt doch noch lange nicht, dass man sich
gleich eine Geschichte ausdenkt und das „Tütern“ anfängt.
Nein, so
etwas würde Hein nie machen!
Und wenn
doch?
Elke würde
nicht mitspielen!
Ja, Elke ist
der wahre Grund, warum ich meine letzten Zweifel an der Wahrheit dieser
Geschichte verloren habe. Elke hat zwar auch gerne Spaß, aber bei dieser
Geschichte wäre bei ihr die Grenze zum Spaß schon lange überschritten.
Nun wird es
langsam Zeit für die Geschichte.
Hein fuhr
auf Kümos überwiegend Ostsee, Nordsee, Irische See oder auch schon Biskaya,
Spanien oder Nordafrika. Er erlebte den rasanten Wandel in der Seeschifffahrt,
den Konkurrenzdruck dem die Reedereien ausgesetzt waren. Mit Romantik hatte der
Seemannsberuf nichts mehr zu tun. Die Liegezeiten in den Häfen wurden immer
kürzer, Landgänge waren bei den immer perfekteren Lade- und Löschtechniken
einfach nicht mehr drin. Ausladen, einladen und weiter zum nächsten Hafen! Auch
an Bord änderte sich einiges. Deutsche Matrosen wurden den Reedereien zu teuer.
Und so kam es, dass Hein Köhn ebenso, wie vor ihm schon viele andere Kapitäne,
mit einer Crew fuhr, die sich überwiegend aus Filipinos zusammensetzte. Die
Verständigung an Bord reduzierte sich auf das Notwendigste und wurde in einem
bordeigenen Englischmix geführt. Nach und nach verschwanden auch die deutschen
Offiziere und der Chief, der Maschinist, vom Schiff. Häufig wurden sie durch
wesentlich billigere und nicht unbedingt gleich gut ausgebildete Seeleute aus Osteuropa
ersetzt. Hein Köhn konnte mit der bunten Crew den Erwartungen seiner Reederei
gerecht werden. Aber das Leben an Bord wurde zunehmend einsamer für Hein. Keine
Menschen mehr an Bord, mit denen er sich in seiner Muttersprache unterhalten
konnte. Der Koch war nun auch ein Filipino. Er kochte anders, es roch anders
aus der Kombüse, Schweinefleisch, und damit auch die geliebten Bratkartoffeln
mit Speck, waren aus dem Speiseplan verschwunden.
Was für eine
Fügung des Schicksals, dass zu dieser Zeit die beiden Kinder von Elke und Hein
aus dem Haus waren und Elke immer häufiger an Bord kam. Bis zu acht Wochen im
Stück begleitete sie Hein mehrmals im Jahr. Das waren schöne Zeiten für den
Kapitän, auch, wenn er in einigen Teilbereichen die Kommandohoheit über sein
Schiff verlor. Wenn Elke an Bord war kümmerte sie sich darum, dass es in der
Kapitänskajüte behaglich war. Sie achtete auf die Wäsche und löste den Filipino
in der Küche ab. Die Mannschaft aß zwar immer noch kein Schweinefleisch, musste
sich in den Wochen mit der Kapitänsfrau an Bord aber bald an den Geruch von
gebratenen Zwiebeln und ausgelassenem Speck gewöhnen.
Meistens
schöne Zeiten! Gelegentlich gab es aber auch Autoritätsprobleme zwischen
Kapitän und sener Frau, die es ohne Elke an Bord nicht gegeben hätte. Wie die
meisten Männer hatte auch Hein seine Lieblingskleidungsstücke. Hein liebte
seine ledernen, hinten offenen Latschen über alles. Diese Latschen verband er
mit einem Höchstmaß an Behaglichkeit und auch Bequemlichkeit.
So sehr Hein
die Schuhe liebte, so sehr waren sie Elke ein Dorn im Auge. Das Schuhwerk stellte
schon lange keinen schönen Anblick mehr dar. Viel schlimmer noch: Das Innenbett
war rissig geworden und Hein lief sich sämtliche Socken in den Schuhen kaputt.
Für einige Monate konnte Hein die Zwangsentsorgung der Sockenkiller
herauszögern, indem er die rauen, rissigen Stellen mit Leukoplast oder einem
anderen Tape abklebte. Als dann trotz dieser Rettungsmaßnahmen erneut ein Paar
Socken an den einschlägigen Stellen Löcher aufwiesen, war Elkes Geduld
erschöpft. Bei nächstbester Gelegenheit, es war während einer Reise im
Spätsommer 1997, hatte sie passenden Ersatz für die alten Latschen organisiert.
Da standen
sie nun, die neuen, glänzenden, neben den alten Schuhen in der Kapitänskajüte.
Elke freut sich, dass das Kapitel mit den kaputten Socken nun ein Ende gefunden
hat.
Und, was
macht der Kapitän?
„Schöne
Schuhe, die du da gefunden hast“, sagt er, steigt in seine alten Latschen und
verschwindet auf die Brücke.
So hatte
Elke sich die Geschichte nicht gedacht. Kaum, dass der Käpt´n sich wenige Stunden später zur Ruhe begeben
hatte, nahm sie seine alten Latschen und entsorgte sie mitten im Englischen
Kanal in hohem Bogen über die Bordwand. Zurück in der Kajüte schaut sie mit
entspanntem Blick auf die neuen Schuhe, die dort neben der Tür nun ganz alleine
auf dem Boden standen. Mit einem Lächeln im Gesicht legte auch sie sich zur
Ruhe.
Die Ruhe
hatte ein Ende, als Heins Freiwache zuende war.
„Elke, weißt
du, wo meine Schuhe geblieben sind?“
„Stehen da
doch neben der Tür!“
„Nein, das
sind die neuen.“
Es gibt
Dinge, die macht man einfach nicht. Dazu gehört auf jeden Fall auch, die
Lieblingsschuhe des Ehemannes über Bord zu schmeißen. Der Alte, so haben ihn
immer die deutschen Seeleute genannt, wenn er es nicht hörte, war ernsthaft
verstimmt. Und bei einem derart schwerwiegenden Eingriff in seine
Persönlichkeitsrechte dauerte die Verstimmung offiziell vom Englischen Kanal
bis Kiel Kanal, der eigentlich ja Nord-Ostsee-Kanal heißt. Inoffiziell, im
tiefsten Innern des Kapitäns, nagte der schwere Verlust weiter und trübte die
Stimmung auch noch, als Hein und Elke im besagten Kiel Kanal ausstiegen, um
nach kurzem Stopp im nahen, heimatlichen Freiburg in den wohlverdienten Urlaub
nach Sylt aufzubrechen.
Während der
Ablösekapitän das Schiff schon längst bis in die hintersten Buchten der Ostsee
führte, ebbten bei Hein Schmerz und Groll langsam ab. Elke und Hein genossen
ihren Urlaub im späten Oktober bis Anfang November bei langen Spaziergängen
über die einsamen Strände der Insel.
Es war am 7.
November, in der Nacht hat der erste kurze aber heftige Herbststurm die Nordsee
mit hohen Wellen auf Sylts Strände getrieben. Das raue Wetter liegt den beiden
Freiburgern. Anoraks an, Mütze auf den Kopf und raus geht´s irgendwo bei Hörnum an den Strand. Elke geht
barfuß, die Füße immer leicht umspült von der nun schon recht kühlen Nordsee.
Das liebt sie, wie das Schwimmen in der Krummendeicher Badekuhle, wenn es allen
anderen längst noch oder schon zu kalt ist. Hein geht lieber weiter oben, wo
die Flut der letzten Nacht einen beachtlichen Treibgutwall aus Seetang,
Treibholz und Müll aus aller Herren Länder aufgebaut hat. Beide, Elke und Hein,
gehen meist mit gesenktem Kopf, immer in der Hoffnung, eine schöne oder kuriose
Entdeckung zu machen.
Schiffsmüll
ohne Ende.
„Vielleicht
doch nicht so gut, dass sämtlicher Müll über Bord geht“, denkt Hein beim
Anblick des Unrates auf dem Strand.
Dann erregt
ein Schuh, halb von Sand und Seetang verdeckt sein Interesse.
Er bückt
sich, zieht den Schuh hervor. Elke kommt hinzu.
„Sieht aus,
wie meine alten.“
„Da gibt es
aber mehr von.“
Hein spült
den Schuh in einer auslaufenden Welle ab und glaubt seinen Augen nicht zu
trauen.
„Elke, das
ist mein Schuh!“
„Hör auf,
das bildest du dir nur ein.“
„Und was
sagst du zu diesem Tape? Das „eklige“ Leukoplast, über das du dich immer so
aufgeregt hast!“
Tatsächlich,
der Schuh war ihr plötzlich sehr vertraut. Auch sie erkannte die Klebestreifen
wieder. Irre!
Den ganzen weiteren Weg reden sie über den
unglaublichen Zufall, der sie mit dem geliebten oder auch ungeliebten Schuh
zusammengeführt hat.
„Es muss ja
eine Strömung vom Ärmelkanal hierherführen, anders kann es nicht sein“, meinte
Hein mehrmals als Antwort der nicht ausgesprochenen Frage in seinem Kopf. Elke
teilt seine Meinung.
Der Schuh
darf mit ins Urlaubsquartier.
Bis dahin
ahnten die beiden noch nicht, dass sie am Anfang einer Zeit standen, die
bestimmt sein würde von sich immer wiederholenden Beteuerungen, dass alles wahr
sei. Alles! Ungelogen!
Heins Bruder
war der Erste, der am Telefon die Geschichte von der wunderlichen Heimkehr des
Latschens schlucken musste. Er sollte nicht der einzige bleiben.
Schon am
nächsten Tag verbreitete sich die Geschichte. Der Inselbote interessierte sich
und es gab ein Interview mit Elke und Hein. Ein Foto von den beiden mit dem
Latschen in der Hand illustrierte den am Folgetag veröffentlichten Artikel. Nun
wusste die ganze Insel Bescheid und die beiden wurden häufiger von wildfremden
Menschen angesprochen.
„Seid ihr
nicht die beiden mit dem Schuh?“
Am Abend,
vor dem Einschlafen kreisten die Gedanken durch Heins Kopf.
„Du Elke,
weißt du woran ich denken muss?“
„Nein.“
„Wenn der
eine Schuh nach Sylt gekommen ist, muss der zweite eigentlich auch hier sein.
Schließlich sind sie an der gleichen Stelle ins Meer gekommen, hatten die
gleichen Wind- und Strömungsbedingungen. Wenn wir den anderen Schuh auch noch
finden würden, wie wäre das wohl?“
„Schlaf
jetzt“, brummelte Elke.
Hein überlegte
bis zum Einschlafen, wo er anderntags die Suche aufnehmen wollte.
Die
Strandwanderungen für die nächsten Tage waren vorbestimmt. Hein wollte
unbedingt die Strandabschnitte vor und hinter der Fundstelle absuchen. Elke war
es ziemlich egal, wo sie liefen. Hauptsache an der frischen Luft.
Wer bis
jetzt noch an die Wahrhaftigkeit dieser Geschichte geglaubt hat, wird gleich
das Zweifeln anfangen. Am 12. November 1997, genau fünf Tage nach dem
denkwürdigen Fund an Hörnums Strand, finden Elke und Hein Köhn den zweiten
Schuh nur wenige Kilometer von der ersten Fundstelle. Sensationell! Ein
weiterer Termin mit der Zeitung kam nicht mehr zustande. Hein und Elke mussten
nach Hause.
Mit ihnen
reiste das Paar Schuhe, das Hein über viele Jahre und noch viel mehr Seemeilen
an den Füßen getragen hatte. Nach einer kurzen Zeit der Trennung haben sie
wieder zueinander gefunden. Zu Hause hat Hein die beiden Latschen auf einer
Holztafel befestigt. Datum und Fundort auf Sylt sind neben den Schuhen vermerkt.
Täglich besucht Hein die „Wiedergänger“ aus der Welt der Schuhe, wenn er sein Fahrrad aus der Garage schiebt, um zum
Hafen zu radeln. Hier, an der Wand in der Garage, haben Heins einst so
geliebten Latschen ihre letzter Ruhestatt gefunden.
Seine neuen
Latschen sehen inzwischen den alten sehr, sehr ähnlich. Sie sind nur noch keine
Sockenkiller. Vielleicht stehen deshalb noch keine neuen neben den alten neuen
in der Küche.
Wahr oder
erfunden? Für mich keine Frage, alles wahr!
Zufall? Ich
glaube nicht an solche Zufälle. Hier hat eine andere, eine höhere Macht die
Finger im Spiel gehabt. Eine Macht, die
Verständnis hat für die tiefen Beziehungen, die sich gelegentlich zwischen
Männern und den von ihnen benutzten Kleidungsstücken, Autos oder Werkzeugen
etc. ergeben. Hier hat eine Macht agiert, die euch Frauen sagen will: „Finger
weg von den kleinen Lieblingen eurer Männer! Der Ärger, den ihr euch durch derartige
Übergriffe einhandelt, steht oft in keinem Verhältnis zu dem bisschen Ärger,
den ihr verspürt, wenn ihr euren Mann schon wieder in der abgewetzten Jacke
oder in den ausgelatschten Schuhen seht!“
Kenn ich. Stimmt genau!
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