Sonntag, 8. November 2015

Ein schöner Tag


Der Juli hatte gerade angefangen und mit ihm auch endlich der Sommer. Der Morgen war noch sehr frisch und es zeichnete sich trotzdem schon ein sehr schöner Tag ab.
Ich stehe auf dem kleinen Balkon, genieße die erste Wärme der Sonne und lasse meinen Blick über die Nachbargärten bis hin zum Bodden schweifen. Die Tochter des Nachbarn mit der Trompete ist vor zwei Tagen angereist. Zu sehen ist von ihr um diese Zeit noch nichts. Dafür ist sie einfach noch zu jung. Die anderen Nachbarn, die Rostocker, sind zwar viel älter aber auch für sie ist es noch zu früh. Sie werden vielleicht in einer Stunde in ihren roten bzw. hellblauen Bademänteln durch die morgentaunassen Wiesen an den Bodden zum täglichen Morgenbad spazieren.
Von fern über den Bodden schallt das Motorengeräusch eines Außenborders. Der Fischer kommt  zurück von seinen Stellnetzen und Reusen. Die Schwalben sind schon auf Insektenjagd und von der Boddenwiese höre ich das heisere Gebrüll einer Wasserbüffelkuh, die, kaum, dass sie ihr Kalb zur Welt gebracht hat, dem Bullen in der Herde Zeichen gibt, dass sie bereit ist, es mit einem weiteren Kälbchen für den Biofleischladen auf dem Gut Darss zu versuchen.
Ich blicke zum Kirschbaum, der im Winkel der Garagen des Trompeters und der Rostocker zu einem stattlichen, bereits mehrere Meter hohen Baum herangewachsen ist. Die ersten Früchte beginnen sich rot zu färben. Auf einem Zwetschgenbaum, gleich nebenan,  landen nacheinander zwei Stare. Sie scheinen ein Paar zu sein.  Ohne Mühe gelingt es ihnen auf dem für sie fast zu dünnen, heftig schwingenden Zweig das Gleichgewicht zu halten.
Was für ein schöner Morgen!
 Die beiden Vögel scheinen meine Meinung zu teilen, sie beginnen lebhaft miteinander zu kommunizieren. Ich beobachte sie und stelle fest, dass sie sich immer wieder die Köpfe während ihres Dialoges zuwenden.
Habe ich das soeben richtig gehört?
War da nicht immer wieder das Wort Kirschbaum oder Kirsche herauszuhören?
Das Kann nicht sein!
Schon, dass Tiere miteinander kommunizieren; aber nicht in einer, nicht in meiner Sprache.
Und doch! Je aufmerksamer ich den Vögeln zuhöre, desto mehr Worte beginne ich zu verstehen. Von der Sprachmelodie her klingt es ein bisschen so, wie sich die Frauen Siebenbürgens anhören, wenn sie sich in ihrem Heimatdialekt unterhalten.
Das gibt es doch nicht!
Immer mehr verstehe ich von dem Gespräch der beiden Vögel.
„Ich fliege jetzt rüber, …. probieren.“
„Das machst du nicht! Noch nicht!“
„Warum nicht?“
„Warte, ob sie auch in diesem Jahr wieder den Baum schmücken, dann ist es doch viel schöner.“
„Ja, Recht hast du.“

Ich muss es Ulla erzählen.
Oder doch lieber nicht?
Sie wird wahrscheinlich einmal mehr den Kopf schütteln, vielleicht „Spinner“ murmeln und meine Mithilfe beim Vorbereiten des Frühstückes einfordern.
Ich behalte mein Wissen für mich!

Inzwischen sind zwei Stunden vergangen. Hinter mir liegen unser morgendliches Bad im Bodden und ein schönes Frühstück auf dem kleinen Balkon mit Bodden- und Gartenblick. Die Sonne steht höher und gibt schon einen kleinen Vorgeschmack auf die zu erwartende Hitze. Mit dem Kaffeepott in der Hand lehne ich mich aufs Geländer des Balkons und blicke auf den Kirschbaum der Rostocker.
Ach nein, die beiden Stare sind wieder da. Auch sie haben Kirschbaum und Garten der Rostocker im Blick. Es tut sich etwas dort unten im Garten.
Der Rostocker legt eine Leiter ins Gras und ich höre sie, die Rostockerin, sagen:
„Wenn wir jetzt nichts machen, werden wir keine Kirsche am Baum behalten.“
„Du siehst doch, dass ich alles vorbereite.“
Von rechts höre ich die verhaltene Stimme des Starenweibchens sagen:
„Er hat die Leiter geholt. Ich glaube, dass er heute noch mit dem Schmücken beginnen wird.“
„Kann schon sein“, antwortet das Männchen.
Es wirkt etwas unruhig, als wollte es am liebsten schon einmal einen kleinen Ausflug zum Kirschbaum machen.

Der Rostocker zerschneidet eine Rettungsfolie in Streifen. Auf der einen Seite sind die Streifen silbern auf der anderen goldfarben. Einen nach dem anderen hängt er sie in den Kirschbaum. Seine Frau gibt gelegentlich Anweisungen.
„Weiter rechts“ oder „höher Helmut! Gut so!“
Dann ist es so weit, das Werk ist vollbracht. Sichtlich glücklich und zufrieden steht das Paar vor dem Baum mit den im Wind raschelnden Alufolienstreifen und seinen kurz vor der Reife stehenden Früchten. Ein schöner Tag – auch für die Rostocker.
Erst der Blick aus dem Fenster: Strahlender Sonnenschein! Dann das Boddenbad und anschließendes Frühstück im Garten. Nun ist auch schon der Kirschbaum vorbereitet. Es ist Zeit, für eine weitere Tasse Kaffee und die Ostseezeitung. Freude bei jedem Blick in den Garten, besonders beim Anblick de Kirschbaumes.
Ja, es ist ein schöner Tag!

Freude auch beim Starenpärchen.
Kaum, dass sich die Rostocker auf ihre Gartenstühle zurückgezogen haben, gibt das Starenweibchen den geschmückten Baum frei.
„Wir können jetzt. Mir kommt er bald schöner vor, als im vergangenen Jahr.“
Die letzten Worte hört das Männchen nicht mehr, weil es die Anspannung nicht länger ertragend schon zum Kirschbaum gestartet ist. Das Weibchen folgte ihm und beide eröffnen die Kirschsaison 2015. Genussvoll verschwinden die halbreifen Früchte in den Vogelmägen.
„Warum die Menschen mit dem Kirschessen immer erst beginnen, wenn die Früchte kurz vor dem Verderben sind?“ denkt die Starenfrau als sie ihre achte oder neunte Kirsche anpickt.
Ein paar Minuten kann ich das Männchen nicht mehr sehen. Kurze Zeit später das Fluggeräusch eines kleinen Starenschwarmes, der sich aufgeregt schnatternd im Zwetschgenbaum niederlässt. Dann die vertraute Stimme, die, die nach den Frauen Siebenbürgens klingt:
„Seht nur, wie schön sie ihn geschmückt haben. Hab´ ich euch zu viel versprochen? Fliegt bitte von hier hinten in den Baum. Wir wollen die beiden netten Menschen nicht stören, nun, wo sie sich nach getaner Arbeit auf ihren Gartenmöbeln erholen.“
Etwa fünfzehn bis zwanzig Stare fallen in den Baum ein und beginnen mit der Kirschenernte.
Was für ein schöner Tag - auch für die Vögel!

Und, wie sieht es bei mir aus?
Dass der Tag auch für mich einen schönen Anfang hatte, habe ich ja bereits anfangs beschrieben. Nun aber noch diese Steigerung: Das unbeschreibliche Erlebnis, die Stare verstehen zu können! Ich kann es immer noch nicht fassen. Ich werde gleich noch einmal auf den Balkon gehen und prüfen, ob es nicht doch nur Einbildung war.
Ob sie mich wohl auch verstehen?
Ich werde es ausprobieren.

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