Sonntag, 8. November 2015

Jonny von Allwörden, ein Leben immer dicht am Wasser



Jonny von Allwörden, Kapitän im Ruhestand ist im Alter von 89 Jahren gestorben. Jeder kennt ihn hier in Weidenfleth. Bei  jedem Wetter machte er begleitet von seinem kleinen Mischlingshund die Runde durch das Marschendorf. Die Zeitung hatte er schon lange abbestellt. Nicht, weil er die Nachrichten leid war oder sie ihm zu teuer geworden war. Nein, er liebte den Gang zum Bäcker, wo er nicht nur seine zwei Brötchen sondern auch das Stader Tageblatt bekam.
Nach dem Frühstück führte ihn sein zweiter Spaziergang an den Hafen. Hier, auf der Bank vor dem alten Speichergebäude, traf er sich regelmäßig mit von Borstel, Meyer, Hinnersen und Decken. Nicht selten saßen über 400 Jahre auf der wackeligen Bank. Hier wurden alle wichtigen Neuigkeiten ausgetauscht, egal, ob Merkel den Griechen ein paar Milliarden Euro „schenken“ wollte, „er“ (Wetterbericht) Schlechtwetter angesagt hat oder der 82jährige Edwin Heesen schon wieder „ ´ne Neue“ hat.
 Die geballte Kompetenz auf der grünen Bank wusste für jedes Problem eine Lösung. Leider interessierte sich außer ihnen niemand für ihre Lösungsansätze.
Bei Schlechtwetter traf sich die Rentnertruppe einige hundert Meter weiter bei „Deele“ Hartwig, die eigentlich Adele hieß, in der Kneipe mit Blick über den Hafen.
Jeder kannte die Termine der anderen. Erschien einer aus der Runde nicht zum Treff, war es meist ein schlechtes oder sogar sehr schlechtes Zeichen.
Bei Willem oder Heinrich zum Beispiel.
Sie kamen einfach nicht und dann kam die Nachricht von ihrem Tod.
Krischan kam nicht, weil er einen Schlaganfall hatte und nach dem Krankenhausaufenthalt in einem Pflegeheim bei seinem Sohn in Verden an der Aller verschwand. Ja, Krischan war für Jonny ein besonders herber Verlust. Die beiden Verband die Erinnerung an ihre gemeinsame Fahrenszeit auf verschiedenen Mehrzweckfrachtern des Hamburger Lloyds.
Und nun? Nun fehlte Jonny.
Als er auch nach zwanzig Minuten nicht erschien, sprach Hannes  Hinnersen aus, was alle dachten.
„Nu mööt wi woll weller no´n Karkhoff hen.“

Und so war es dann auch. Jonnys Tochter Edda hat ihn zu Hause im Bett gefunden. Da lag er friedlich in der Stube, in der er einst das Licht der Welt erblickte. Sein Hund lag vor dem Bett und wartete, dass sein Herrchen ihn endlich vor die Tür bringen würde.
Der Doktor aus Freiburg stellte dann Herztod fest.
89 Jahre hat es treu seinen Dienst getan, das Herz, und nun war´s mal gut, es hat einfach aufgehört zu schlagen.

Beerdigungen sind nie etwas Schönes, aber Jonnys Beerdigung war noch unschöner. Es goss während der gesamten Bestattungszeremonie in Strömen. Der neue Friedhof lag fast einen Kilometer von der Kirche entfernt und auch Schirme konnten bei dem von Südwest heranpeitschenden Regenböen nicht verhindern, dass die meisten Trauergäste bis auf die Knochen durchnässten. So war es kein Wunder, dass sich nur noch ein kleiner Kreis zur anschließenden Kaffeetafel bei Deele am Hafen einfand.
„Tscha“, meinte Edda zur kleinen Runde, „so hat sein Leben geendet, wie es 1925 begonnen hat und  wie es all die 89 Jahre war: Immer dicht am Wasser.“
„Wie recht sie doch hat“, ging es Hannes Hinnersen, der zwei Häuser neben den von Allwördens aufgewachsen ist und später mit Jonny gemeinsam die einklassige Dorfschule besuchte, durch den Kopf.

Jonny von Allwörden kam in dem Haus zur Welt, in dem seine Tochter Edda ihn 89 Jahre später tot in seinem Bett aufgefunden hatte. Sein Geburtstag war noch Jahre später Dorfgespräch, weil der offensichtlich in engem Zusammenhang mit dem Tod der Hebamme Stine Heitmann stand. Sie war alarmiert durch Jonnys Vater Barthold in den frühen Stunden eines regnerischen und stürmischen Novembertages mit dem Fahrrad vom Nachbardorf herbeigeeilt. Pitschnass, wie sie eintraf, musste sie sofort tätig werden, weil Jonnys Geburt offensichtlich unmittelbar bevorstand. Das Herdfeuer, von der in den Wehen befindlichen Frau vernachlässigt, war erloschen und in der kalten Kate zog Stine Heitmann sich eine heftige Erkältung zu.
Während der kleine Johnny sich bester Gesundheit erfreute und er bereits in seinen ersten Tagen das tägliche Bad in der kleinen Zinkwanne genoss, wuchs die Erkältung bei Stine Heitmann zu einer handfesten Lungenentzündung heran, der sie nach wenigen Tagen erlag.

Von Allwördens Kate steht unmittelbar neben einer Kuhle. So nennt man in Kehdingen die manchmal bis zu zwölf Meter tiefen Gewässer, die das hereinstützende Wasser an einer Deichbruchstelle geschaffen hat. Überall im Land entlang des Deiches werden Geschichten von Kindern erzählt, die in einer Kuhle ertrunken sind.
Jonny machte  seine erste Erfahrung mit der Badekuhle an einem sonnigen Apriltag in seinem ersten Lebensjahr. Seine Mutter hatte ihn im hochrädrigen Kinderwagen vor die Kate gestellt. Beim Wäscheaufhängen sah sie, wie Hinnersens Hund sich auf die Hinterbeine stellte, um zu sehen, was in dem Kinderwagen lag. Dabei setzte sich der Wagen in Bewegung und rollte die leicht abschüssige Wurt hinab in die Kuhle. Gerade noch im letzten Moment bekam die herangeeilte Mutter den kleinen Jonny zu fassen, bevor er im dunklen Wassert der Kuhle versunken wäre.
Ein gutes Jahr später nur, der kleine Jonny konnte gerade laufen. Er jagte mit größtem Vergnügen hinter den Enten her. Als die sich auf die Kuhle flüchteten machte Jonny die Erfahrung, dass die Enten schwimmen konnten - er hingegen nicht. Sein Glück, Nachbar Hinnersen, der gerade  an der Kuhle angelte, eilte mit seinem großen Kescher herbei und fischte Jonny aus dem noch viel zu kalten Wasser. Jonny wachte erst auf, als seine alarmierte Mutter auftauchte. Er empfing sie mit einem Schwall Wasser aus seinem Hals und kündigte seine Rückkehr ins Leben mit lautem Geschrei an.
Ja, Jonny lebte immer dicht am Wasser.
Das unfreiwillige Bad in der Kuhle hat für einige Jahre nachhaltig abschreckend gewirkt. Allerdings kaum acht Jahre alt, konnte Jonny dem Ruf der See nicht widerstehen. Bodo Lemke, der Hausschlachter, hatte auf der Schottschen Karre schon zwei Tage vor dem Schlachttage den Brühtrog angeliefert. Da lag er nun am Ufer der Kuhle, die Bodenbretter mit Wasser bedeckt, damit die über Sommer entstandenen Fugen zu quellen konnten. Was lag da näher, als den Trog für eine kleine Seefahrt ins Wasser zu schieben? Nach der Schule – es war kein Erwachsener weit und breit zu sehen – stachen Jonny von Allwörden und Hannes Hinnersen mit dem Schweinetrog in See.  Anfangs stakten sie mit zwei Bohnenstangen bis die Kuhle so tief war, dass die Stangen den Grund nicht mehr berührten. Hannes geriet in Panik und machte einen Schritt in Jonnys Richtung. Für derart unkontrollierte Bewegungen war Lemkes Schlachtetrog nicht ausgelegt und kenterte.
Ein drittes Mal war das Glück mit Jonny. Helle Heinsohn, Rettungsschwimmer aus Stade, war auf dem Weg zu seiner Oma am Elbdeich, als er die Kenterung der beiden Jungen bemerkte. Mit geschultem Blick notierte er sofort, dass weder Jonny noch Hannes schwimmen konnten.
Heinsohn wurde im Tageblatt als Retter gefeiert und die beiden Jungen, soeben dem Tod von der Schippe gesprungen, erhielten von ihren Vätern eine kräftige Tracht Prügel.
Nun sollte man meinen, dass Jonnys Sehnsucht nach der See zumindest vorerst erloschen sei. Das Gegenteil war der Fall. Wenn immer es passte fuhr er mit den Fischern raus die Reusen zu überprüfen und nach der Schule meldete er sich freiwillig zur Marine. Da durfte er dann aber erst hin, nachdem er seinen Arbeitsdienst bei der Neulandgewinnung beiderseits des Hindenburgdammes absolviert hatte.
Vielleicht hat ihm die Nordseeluft endgültig den Kopf verdreht. Er wurde Seemann und kaum dass seine Ausbildung abgeschlossen war, wartete der Seekrieg auf ihn. Jonny, der von großen Schlachten auf Hitlers größten Kriegsschiffen träumte, wurde zum Dienst auf dem Hilfskreuzer „Widder“ einberufen. Kurz vor Kriegsende schleuderte ihn die Druckwelle einer auf dem Vorschiff detonierten Fliegergranate über Bord. Der „Widder“ fuhr ohne ihn weiter.
Jonny galt als eines der vier beim Angriff gefallenen Besatzungsmitglieder.
Nun sind die Gewässer vor der südnorwegischen Küste ganz anderer Natur als die Kuhle neben dem elterlichen Haus am Deich von Weidenfleth, aber der Schutzengel, der ihm bereits drei Male das Leben in der Kuhle gerettet hatte, schien auf dem gleichen Schiff Dienst geschoben zu haben, wie Jonny. Schon nach wenigen Schwimmzügen erreichte  er ein Rettungsfloß, das ebenfalls dem Druck der Explosion nicht standgehalten und den Weg ins Meer gefunden hatte.
„Schön war was anderes“, erzählte er Jahre später seinem Schulfreund Hannes Hinnersen.
Norwegische Fischer haben ihn und das Floß an Land gebracht. Bevor er Gelegenheit hatte, sich irgendwo bei der Deutschen Besatzungsmacht zu melden, war der unselige Krieg zu ende. Norwegische Widerstandskämpfer kamen von den Bergen, nahmen Jonny mit und übergaben ihn an die Britische Navy, die inzwischen mit mehreren Schiffen in den Hafen von Stavanger eingelaufen war.
Nach einem unerfreulichen Jahr in englischer Kriegsgefangenschaft kehrte Jonny zurück in die Kate an der Kuhle hinterm Elbdeich von Weidenfleth. Hier war die Zeit stehengeblieben und wenn Jonny auf der Innenberme des Deiches mit zusammengekniffenen Augen den vorbetreibenden Wolken nachblickte, konnte er für einige Minuten den Krieg vergessen.
Jonny fuhr wieder mit den Fischern zu den Reusen, das Wasser ließ ihn nicht los. Er musterte auf Fischkuttern und Ausflugsschiffen zu den Nordfriesischen Inseln an. Dann zog er das große Los und durfte auf dem Lloyd Turbinenschiff „Weserstein“ auf große Fahrt gehen. Es folgten viele weitere Schiffe und irgendwann hatte Jonny von Allwörden sein eigenes Kommando und ein eigenes Schiff. Die „Edda“ mit Heimathafen Weidenfleth war ein Kümo, mit dem Jonny die gesamte Nord- und Ostsee bereiste. In der kleinen, inzwischen aber schmuck renovierten Kate an der Kuhle in  Weidenfleth, lebten seine Frau Hermine und Töchterchen Edda, die auch Namensgeberin für Jonnys Schiff war. Jonny kam nur noch in die Kate, wenn ein Werftaufenthalt ihn dran hinderte zu schippern. In den Sommerferien lebten Hermine und Edda mehrere Wochen bei Jonny an Bord.
Die Jahre verstrichen, Hermine und Jonny wurden grau und Edda heiratete nach Oberndorf an der Oste. Einen Beamten, Walli Horeis, zu dem Jonny bis zu seinem Lebensende keinen Zugang fand. Wie sollte das auch klappen, wenn der Schwiegersohn schon bei ihrer ersten Begegnung ankündigte, dass er niemals den Fuß auf ein Schiff setzen und er auch bei der „Edda“ keine Ausnahme machen würde.

Mehrere Ereignisse veränderten Jonnys Leben im Sommer 2000. Die Frachtraten wurden immer ungünstiger, Behördenauflagen schier unerfüllbar und Jonny fühlte sich mit 75 Jahren nicht mehr fit genug für den Job als See- und Kaufmann. Er verkaufte die „Edda“ zu einigermaßen günstigen Bedingungen und begab sich in der Kate an der Kuhle auf „Reede“.
Hermine war nun sein einziger Matrose und musste sich dem Diktat des Kapitäns bedingungslos unterordnen. Das war nicht leicht nach den vielen Jahren, in denen sie das Kommando im Haus hatte. Als wollte sie Jonny unmissverständlich klar machen, dass im Haus an der Kuhle kein Platz für zwei Kapitäne sei, verabschiedete sie sich noch kurz vor Weihnachten in den unerwarteten, viel zu frühen Tod.
Nun hatte Jonny das alleinige Kommando in seinem Haus aber keinen einzigen Matrosen mehr. Er musste viele Dinge lernen, die er schon Jahre nicht mehr oder sogar noch nie in seinem Leben verrichtet hatte. Einmal in der Woche kam Edda rüber von Oberndorf, nahm die Wäsche mit, putzte ein wenig durchs Haus und erledigte kleine Gartenarbeiten, für die der Kapitän kein Auge und zu denen er auch keine Lust hatte. Meistens kochte Edda etwas und nach der gemeinsamen Abendmahlzeit verschwand sie wieder in ihr eigenes Zuhause, zu ihrem Walli, der auch nicht ganz einfach aber noch mal anders als Jonny ist.
Jonny von Allwörden hat sich sein Leben an Land im Laufe der Jahre perfekt eingerichtet. Jeder Tag verlief nach gleichem Muster. Einzige Abweichungen bestanden darin, ob Jonny auf dem Nachmittagsspaziergang seinen kleinen Mischlingsrüden an der Gartenpforte nach Backbord oder Steuerbord den Deich entlang dirigierte. Jonny ging nicht zu Bett sondern in die Koje und gefrühstückt wurde in der Kombüse. Das Wort Richtung verschwand aus seinem Wortschatz. Egal ob im Auto oder mit Hund Hansi, immer hieß es „Kurs Stade“ oder Hansi bekam an der Haustür die Information „Kurs Hoob´n“, also zum Hafen. Plattdeutsch war ihm längst schon zur ersten Sprache geworden, so wie damals, bevor er zur Schule gekommen war.

Bisweilen konnte auch der Blick über den Hafen oder die benachbarte Kuhle nicht verhindern, dass Jonny von Allwörden in eine gewisse Melancholie verfiel. Wenn Edda das bei ihren Besuchen bemerkte, versuchte sie den alten Kapitän mit einem Ausflug ans oder übers Wasser wieder ins Leben zurückzuholen. Bisher hatte das immer vorzüglich geklappt. Manchmal genügte auch nur eine Fahrt mit der Elbfähre einmal rüber nach Glückstadt und wieder zurück. Edda kannte schon fast alle Fährkapitäne und fast alle kannten Edda und ihren inzwischen leicht gebückten Vater, der immer in seinem schwarzen, zweireihigen Caban und mit seiner Kapitänsmütze aus dem Haus ging. Oft wurde Jonny schon beim Betreten der „Ernst Sturm“, „Glückstadt“, „Wilhelm Kroos“ oder „Wischhafen“ vom autoeinweisenden Personal begrüßt.
„Na, Jonny wullst du uus mool weller röberstüern?“
Alle wussten, welch´ Freude Kapitän von Allwörden empfand, wenn er vom Fährkapitän auf die Brücke eingeladen wurde.
Oben auf der Brücke mussten sie sich dann sagen lassen, „dat dat mit all den nümodschen Kroom op de Brüch nix mehr mit Seefohrt tau doon hett.“
Nein, Seefahrt ist etwas anderes. Hier gab es ja noch ein Steuerrad aber Steuern taten Blanck, Heinsohn, Pliefke und all die anderen Kapitäne eigentlich nur noch mit einem kleinen Steuerhebel.
Egal!
Wichtiger war eigentlich, dass Jonny nach so einem Ausflug immer wieder zu seiner sonst durchweg optimistisch, positiven Stimmung zurückfand.
Waren die Depressionen  heftigerer Natur, musste Edda sich schon einmal etwas mehr einfallen lassen. Dann fuhr sie Jonny mit seinem Auto zur Alten Liebe nach Cuxhaven oder an den Strand von Duhnen. Hier konnte ihr Vater den Schiffen auf der Außenelbe nachblicken und Edda hörte sich mit Engelsgeduld die immer gleichen Geschichten von seiner wunderlichen Rettung vor Norwegens Küste, der verrutschten Ladung im Meerbusen oder zwei Wochen Zwangsurlaub wegen Maschinenschadens in der Südsee anhören. Während Edda geduldig zuhörte und Jonny mit jeder Minute in bessere Stimmung geriet, wuchsen unter Eddas Stricknadeln Socken, Schals und manchmal sogar Pullover von so gewaltigem Ausmaß, dass sogar Walli Horeis über Jahre gut gepflegter Beamtenbauch darin Platz fand.
Ja, solche Ausflüge wirkten Wunder bei Jonny. Wichtig nur, dass das Ziel immer irgendwo am Wasser lag und das konnte dann auch ruhig mal die Binnenalster oder der Bederkesaer See sein.
Richtig schön waren die größeren Reisen, die Jonny von Edda geschenkt bekam. Zum 80. Geburtstag eine Woche nach Helgoland. Schon nach dem ersten Tag hat Edda den Alten nur noch abends gesehen, wenn die Ausflugsdampfer sich wieder von der Insel Richtung Festland bewegten. Jonny hatte schon beim Ausbooten mit Peter Krüss, dem Führer des Börtebootes vereinbart, dass er, Jonny, als gelernter Kapitän doch eine gute Verstärkung der sonst nur aus gastronomischem Saisonpersonal bestehenden Bootsbesatzung abgeben würde. Am letzten Tag ließ Peter den Kapitän bis kurz vorm Bäderschiff an der Pinne. Edda hat ihren Vater kaum wiedererkannt.
Zurück in Weidenfleth erfuhr jeder, der es wollte oder auch nicht wollte, dass ohne Jonnys unermüdlichen Einsatz fast der gesamte Bäderverkehr auf Helgoland zum Erliegen gekommen wäre.

Schön auch der Ausflug nach Büsum. Es war Ebbe und Jonny bat seine Tochter, ein wenig mit ihm ins Watt zu fahren, damit sie aus dem geschützten Auto heraus den Sonnenuntergang betrachten konnten. Das darf man nur in Büsum oder in  Dänemark. Man hätte den Sonnenuntergang natürlich auch vom sicheren Ufer aus ansehen können. Aber Jonny wäre nicht Jonny, hätte er nicht versucht, so nah wie möglich der Sonne zu kommen. Als Edda zur Rückkehr aus dem Watt mahnte, setzte er sich wie ein kleines Kind bettelnd durch, dass sie noch eine halbe Stunde bleiben sollten.
Später dachte Edda: „Hätte ich doch bloß nicht nachgegeben.“
Sie standen ein wenig erhöht und hatten nicht bemerkt, dass das Wasser von hinten unter dem Auto durchlief. Im Nu war der Grund unter den Reifen zu weich und Edda konnte Jonnys alten Golf nicht mehr von der Stelle bewegen.
Das war die große Stunde eines Kleinlandwirtes, der schon die ganze Zeit seitdem das Wasser auflief, den Golf im Auge hatte. Als er dann eine Frau aussteigen sah, die aufgeregt zu winken begann, schmiss er seinen alten Ferguson an – der neue Trecker durfte nicht ins Salzwasser – und fuhr raus zu Jonny und Edda. 100 Euro bringt ihm so ein Einsatz und es hatte noch nie jemand Nein Danke zu seinem Angebot gesagt.
Jonny fand das natürlich zu teuer. Er hielt aber den Mund, weil das Wasser schon zwei Handbreit unter der Schwelle der Fahrertür stand.
Jonny hielt den Mund bis vor die Haustür. Als Edda sich von ihm verabschiedete fand er seine Sprache wieder.
„Hunnert Euro, dat weer tau düür, oober weer´n scheun´n Dach, min Deern. Bit Freedach denn.“
Jonny drehte sich um und verschwand in seinem Häuschen, ohne abzuwarten bis seine Tochter mit ihrem Auto davonfuhr.
Edda nimmt das schon lange nicht mehr krumm. So ist er eben, ihr Vater.

Für den 85. Geburtstag hatte Edda dann eine ganz besondere Überraschung für ihren Vater. In einem Umschlag fand er einen schönen Gutschein für eine Rundreise über die Dänischen Inseln. Das war einst Jonnys Revier und als er den Gutschein las konnte der „olle Knarzkopp“, wie sein Schwiegersohn ihn immer nannte, seine Freude nicht verbergen.
Im Juni ging es los, Jonny bestand darauf, dass sein alter Golf sich auch über die Dänischen Inseln freuen würde. So brachen Jonny und Edda dann mit Jonnys altem Schlurren auf.
Eine gute Entscheidung, wie sich einige Tage später herausstellen sollte.
In der Kleinstadt Svendbyen auf einer der Inseln zwischen Jütland und der Insel Seeland, sollte sich ein weiteres Mal erweisen, wie verbunden Jonny von Allwörden mit dem Wasser war.
Edda hatte das Auto auf dem kleinen Platz am Hafen abgestellt.
„Vati, ich geh nur mal eben in die Apotheke. Warte hier, bin gleich wieder zurück.“
Jonny guckte auf die kleinen Häuschen, die alle giebelständig zum Hafen standen.
„Worüm hett se eegentlich verkehrt rüm parkt? Ik kann gor nich op´n Hoob´n kieken“, ging es Jonny durch den Kopf. Der Schlüssel steckte und Jonny rutschte umständlich rüber auf den Fahrersitz. Wie schön, dass er immer noch seinen Führerschein hatte.
Was dann passierte, konnte Jonny später nicht mehr zusammenbekommen. Irgendwie muss er einige Pedale verwechselt haben. Augenzeugen berichteten, das Auto sei mit Vollgas rückwärts über die Kaimauer verschwunden. Als es nach einem ziemlichen Knall und einem heftigen Stoß stillstand, sah Jonny Backbord- und Steuerbordseite lauter Segel- und Motoryachten. Bevor er sich richtig an den Anblick gewöhnt hatte, riss ein großer Kerl die Fahrertür auf und zerrte den total verwirrten Jonny aus dem Wagen auf den Steg. Der Mann redete auf Jonny in dänischer und dann in englische Sprache ein und versuchte es zu guter Letzt  auf Deutsch. Bevor es ihm gelang, sich mit Jonny zu verständigen, rissen die Leinen der Motoryacht, auf dessen Deck der Golf von Jonny von Allwörden aus Weidenfleth parkte. Langsam neigte sich das Boot und keine Minute später versanken Boot und Auto vor den staunenden Augen eines guten Dutzend Zuschauer im Hafenbecken von Svendbyen.
Als Edda aus der Apotheke kam, sah sie weder das Auto noch Jonny.
„Wird wohl mal wieder eine kleine Runde drehen“, dachte sie leicht genervt und setzte sich auf eine Bank am Rande des Platzes. Sirenen waren zu hören. Eine Feuerwehr und ein Krankenwagen fuhren bis an die Kaimauer. Es folgten ein Auto mit Politi Aufschrift und ein Notarztwagen. Inzwischen hatte sich eine für  dieses verschlafene Nest ganz beträchtliche Menschenansammlung neben den blau blinkenden Einsatzfahrzeugen eingefunden.
Es kam der Moment, dass sich Edda dem Drang nachzuschauen, was dort wohl los sei, nicht mehr widersetzen konnte. Etwas verhalten setzte sie sich in Richtung Kaimauer in Bewegung. Das Letzte, was sie wollte, war den Eindruck erwecken, dass sie neugierig sei.
Obwohl, so ganz unrichtig wäre der Eindruck ja nicht.
Unten auf dem Steg vor einem freien Liegeplatz bewegten sich zahlreiche uniformierte Männer und immer wieder zeigte einer auf die freie Wasserfläche zwischen den Sportbooten. Plötzlich erkannte sie in dem leicht gebeugten Mann mit Kapitänsmütze, der ihrem Vater so ähnlich sah, ihren „Vati“ wieder.
„Vati, was machst du da unten?“
Kaum zuende gesprochen kletterte sie schon die Eisenleiter hinab auf den Steg. Jonny fasste sich immer an die Brust, da wo die Innentasche seines Cabans ist, und brachte immer nur heraus:
„Meine Brieftasche, Edda meine Brieftasche.“
„Und, wo ist deine Brieftasche?“
„Im Auto!“
„Und, wo ist das Auto?“
„Da“, sagte Jonny und zeigte auf die Stelle, wo noch vor wenigen Minuten der ganze Stolz eines Motoryachtbesitzers vertäut gelegen hatte.

Es gab dann noch sehr viel Papierkram zu erledigen bis Edda und Jonny endlich ohne den Golf und ohne den grauen Führerschein aus dem Jahre 1953 aber mit seiner Brieftasche und der Reisewäsche in einem Leihwagen aus Svendbyen herausfuhren. 
Auf der Fährfahrt  von Glückstadt rüber nach Wischhafen fand Jonny seine Sprache wieder.
„Schönes Auto, dieser neue Golf, fährt sich wohl gut?“
„Ja“
„Sollte ich mir vielleicht auch kaufen, was meinst du, mien Deern?“
„Vati, du kaufst kein Auto mehr, du hast auch keinen Führerschein mehr. Den haben die Dänen kassiert und die Versicherung hat mir gesagt, dass sie den Schaden nur in ganzer Höhe übernimmt, wenn du deinen Führerschein abgibst.“
„Ach so!“

Und so war es dann. Jonnys Rückwärtsfahrt über die Kaimauer in Svendbyen blieb definitiv seine letzte Autofahrt.
„Und“, fragte Hinnersen am nächsten Tag bei Deele, „war´s schön in Dänemark?“
„Ach jaa!“
„Und dein Auto?“
„Is in Dänemark verreckt!“

Warum Jonny von Allwörden bis zu seinem Tode nicht mehr Auto fuhr hat nie jemand in Weidenfleth erfahren. Erst bei Deele am Kaffeetisch nach Jonnys Beisetzung, als nur noch Edda, Walli und ich zusammensaßen, schmunzelte Edda plötzlich über irgendetwas, wofür ich keine Erklärung hatte.
„Warum lachst du?“ fragte ich sie.
„Hast du vorhin gehört, wie ich zu Hinnersen sagte, dass Jonny ein Leben immer dicht am Wasser geführt hat?“
„Ja, aber so ganz verstanden habe ich es nicht“, gab ich ihr zur Antwort.
Und dann erzählte sie mir von all den Katastrophen aus Jonnys Leben. Iimmer dicht am Wasser, oftmals dicht am Tod.  
Jonnys letzte Fahrt mit seinem Golf ins Hafenbecken von Svendbyen sorgte für so viel Heiterkeit bei uns, dass Deele mehrmals den Kopf zum Saal hereinsteckte, um zu überprüfen, ob sie wirklich richtig durch die fast geschlossene Schiebetür gehört hat.
War ja schließlich ´ne Beerdigung!

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