Jonny von
Allwörden, Kapitän im Ruhestand ist im Alter von 89 Jahren gestorben. Jeder
kennt ihn hier in Weidenfleth. Bei jedem
Wetter machte er begleitet von seinem kleinen Mischlingshund die Runde durch
das Marschendorf. Die Zeitung hatte er schon lange abbestellt. Nicht, weil er
die Nachrichten leid war oder sie ihm zu teuer geworden war. Nein, er liebte
den Gang zum Bäcker, wo er nicht nur seine zwei Brötchen sondern auch das
Stader Tageblatt bekam.
Nach dem
Frühstück führte ihn sein zweiter Spaziergang an den Hafen. Hier, auf der Bank
vor dem alten Speichergebäude, traf er sich regelmäßig mit von Borstel, Meyer,
Hinnersen und Decken. Nicht selten saßen über 400 Jahre auf der wackeligen
Bank. Hier wurden alle wichtigen Neuigkeiten ausgetauscht, egal, ob Merkel den
Griechen ein paar Milliarden Euro „schenken“ wollte, „er“ (Wetterbericht) Schlechtwetter
angesagt hat oder der 82jährige Edwin Heesen schon wieder „ ´ne Neue“ hat.
Die geballte Kompetenz auf der grünen Bank
wusste für jedes Problem eine Lösung. Leider interessierte sich außer ihnen
niemand für ihre Lösungsansätze.
Bei
Schlechtwetter traf sich die Rentnertruppe einige hundert Meter weiter bei
„Deele“ Hartwig, die eigentlich Adele hieß, in der Kneipe mit Blick über den
Hafen.
Jeder kannte
die Termine der anderen. Erschien einer aus der Runde nicht zum Treff, war es
meist ein schlechtes oder sogar sehr schlechtes Zeichen.
Bei Willem
oder Heinrich zum Beispiel.
Sie kamen
einfach nicht und dann kam die Nachricht von ihrem Tod.
Krischan kam
nicht, weil er einen Schlaganfall hatte und nach dem Krankenhausaufenthalt in
einem Pflegeheim bei seinem Sohn in Verden an der Aller verschwand. Ja,
Krischan war für Jonny ein besonders herber Verlust. Die beiden Verband die
Erinnerung an ihre gemeinsame Fahrenszeit auf verschiedenen Mehrzweckfrachtern
des Hamburger Lloyds.
Und nun? Nun
fehlte Jonny.
Als er auch
nach zwanzig Minuten nicht erschien, sprach Hannes Hinnersen aus, was alle dachten.
„Nu mööt wi
woll weller no´n Karkhoff hen.“
Und so war
es dann auch. Jonnys Tochter Edda hat ihn zu Hause im Bett gefunden. Da lag er
friedlich in der Stube, in der er einst das Licht der Welt erblickte. Sein Hund
lag vor dem Bett und wartete, dass sein Herrchen ihn endlich vor die Tür
bringen würde.
Der Doktor
aus Freiburg stellte dann Herztod fest.
89 Jahre hat
es treu seinen Dienst getan, das Herz, und nun war´s mal gut, es hat einfach
aufgehört zu schlagen.
Beerdigungen
sind nie etwas Schönes, aber Jonnys Beerdigung war noch unschöner. Es goss
während der gesamten Bestattungszeremonie in Strömen. Der neue Friedhof lag
fast einen Kilometer von der Kirche entfernt und auch Schirme konnten bei dem
von Südwest heranpeitschenden Regenböen nicht verhindern, dass die meisten
Trauergäste bis auf die Knochen durchnässten. So war es kein Wunder, dass sich
nur noch ein kleiner Kreis zur anschließenden Kaffeetafel bei Deele am Hafen einfand.
„Tscha“,
meinte Edda zur kleinen Runde, „so hat sein Leben geendet, wie es 1925 begonnen
hat und wie es all die 89 Jahre war:
Immer dicht am Wasser.“
„Wie recht
sie doch hat“, ging es Hannes Hinnersen, der zwei Häuser neben den von
Allwördens aufgewachsen ist und später mit Jonny gemeinsam die einklassige
Dorfschule besuchte, durch den Kopf.
Jonny von
Allwörden kam in dem Haus zur Welt, in dem seine Tochter Edda ihn 89 Jahre
später tot in seinem Bett aufgefunden hatte. Sein Geburtstag war noch Jahre
später Dorfgespräch, weil der offensichtlich in engem Zusammenhang mit dem Tod
der Hebamme Stine Heitmann stand. Sie war alarmiert durch Jonnys Vater Barthold
in den frühen Stunden eines regnerischen und stürmischen Novembertages mit dem
Fahrrad vom Nachbardorf herbeigeeilt. Pitschnass, wie sie eintraf, musste sie
sofort tätig werden, weil Jonnys Geburt offensichtlich unmittelbar bevorstand.
Das Herdfeuer, von der in den Wehen befindlichen Frau vernachlässigt, war
erloschen und in der kalten Kate zog Stine Heitmann sich eine heftige Erkältung
zu.
Während der
kleine Johnny sich bester Gesundheit erfreute und er bereits in seinen ersten
Tagen das tägliche Bad in der kleinen Zinkwanne genoss, wuchs die Erkältung bei
Stine Heitmann zu einer handfesten Lungenentzündung heran, der sie nach wenigen
Tagen erlag.
Von
Allwördens Kate steht unmittelbar neben einer Kuhle. So nennt man in Kehdingen
die manchmal bis zu zwölf Meter tiefen Gewässer, die das hereinstützende Wasser
an einer Deichbruchstelle geschaffen hat. Überall im Land entlang des Deiches werden
Geschichten von Kindern erzählt, die in einer Kuhle ertrunken sind.
Jonny machte seine erste Erfahrung mit der Badekuhle an
einem sonnigen Apriltag in seinem ersten Lebensjahr. Seine Mutter hatte ihn im
hochrädrigen Kinderwagen vor die Kate gestellt. Beim Wäscheaufhängen sah sie,
wie Hinnersens Hund sich auf die Hinterbeine stellte, um zu sehen, was in dem
Kinderwagen lag. Dabei setzte sich der Wagen in Bewegung und rollte die leicht
abschüssige Wurt hinab in die Kuhle. Gerade noch im letzten Moment bekam die
herangeeilte Mutter den kleinen Jonny zu fassen, bevor er im dunklen Wassert
der Kuhle versunken wäre.
Ein gutes
Jahr später nur, der kleine Jonny konnte gerade laufen. Er jagte mit größtem
Vergnügen hinter den Enten her. Als die sich auf die Kuhle flüchteten machte Jonny
die Erfahrung, dass die Enten schwimmen konnten - er hingegen nicht. Sein
Glück, Nachbar Hinnersen, der gerade an
der Kuhle angelte, eilte mit seinem großen Kescher herbei und fischte Jonny aus
dem noch viel zu kalten Wasser. Jonny wachte erst auf, als seine alarmierte
Mutter auftauchte. Er empfing sie mit einem Schwall Wasser aus seinem Hals und
kündigte seine Rückkehr ins Leben mit lautem Geschrei an.
Ja, Jonny lebte
immer dicht am Wasser.
Das
unfreiwillige Bad in der Kuhle hat für einige Jahre nachhaltig abschreckend
gewirkt. Allerdings kaum acht Jahre alt, konnte Jonny dem Ruf der See nicht
widerstehen. Bodo Lemke, der Hausschlachter, hatte auf der Schottschen Karre
schon zwei Tage vor dem Schlachttage den Brühtrog angeliefert. Da lag er nun am
Ufer der Kuhle, die Bodenbretter mit Wasser bedeckt, damit die über Sommer
entstandenen Fugen zu quellen konnten. Was lag da näher, als den Trog für eine
kleine Seefahrt ins Wasser zu schieben? Nach der Schule – es war kein
Erwachsener weit und breit zu sehen – stachen Jonny von Allwörden und Hannes
Hinnersen mit dem Schweinetrog in See.
Anfangs stakten sie mit zwei Bohnenstangen bis die Kuhle so tief war,
dass die Stangen den Grund nicht mehr berührten. Hannes geriet in Panik und machte
einen Schritt in Jonnys Richtung. Für derart unkontrollierte Bewegungen war
Lemkes Schlachtetrog nicht ausgelegt und kenterte.
Ein drittes
Mal war das Glück mit Jonny. Helle Heinsohn, Rettungsschwimmer aus Stade, war
auf dem Weg zu seiner Oma am Elbdeich, als er die Kenterung der beiden Jungen
bemerkte. Mit geschultem Blick notierte er sofort, dass weder Jonny noch Hannes
schwimmen konnten.
Heinsohn
wurde im Tageblatt als Retter gefeiert und die beiden Jungen, soeben dem Tod
von der Schippe gesprungen, erhielten von ihren Vätern eine kräftige Tracht
Prügel.
Nun sollte
man meinen, dass Jonnys Sehnsucht nach der See zumindest vorerst erloschen sei.
Das Gegenteil war der Fall. Wenn immer es passte fuhr er mit den Fischern raus
die Reusen zu überprüfen und nach der Schule meldete er sich freiwillig zur
Marine. Da durfte er dann aber erst hin, nachdem er seinen Arbeitsdienst bei
der Neulandgewinnung beiderseits des Hindenburgdammes absolviert hatte.
Vielleicht
hat ihm die Nordseeluft endgültig den Kopf verdreht. Er wurde Seemann und kaum
dass seine Ausbildung abgeschlossen war, wartete der Seekrieg auf ihn. Jonny,
der von großen Schlachten auf Hitlers größten Kriegsschiffen träumte, wurde zum
Dienst auf dem Hilfskreuzer „Widder“ einberufen. Kurz vor Kriegsende
schleuderte ihn die Druckwelle einer auf dem Vorschiff detonierten Fliegergranate
über Bord. Der „Widder“ fuhr ohne ihn weiter.
Jonny galt
als eines der vier beim Angriff gefallenen Besatzungsmitglieder.
Nun sind die
Gewässer vor der südnorwegischen Küste ganz anderer Natur als die Kuhle neben
dem elterlichen Haus am Deich von Weidenfleth, aber der Schutzengel, der ihm
bereits drei Male das Leben in der Kuhle gerettet hatte, schien auf dem
gleichen Schiff Dienst geschoben zu haben, wie Jonny. Schon nach wenigen
Schwimmzügen erreichte er ein
Rettungsfloß, das ebenfalls dem Druck der Explosion nicht standgehalten und den
Weg ins Meer gefunden hatte.
„Schön war
was anderes“, erzählte er Jahre später seinem Schulfreund Hannes Hinnersen.
Norwegische
Fischer haben ihn und das Floß an Land gebracht. Bevor er Gelegenheit hatte,
sich irgendwo bei der Deutschen Besatzungsmacht zu melden, war der unselige
Krieg zu ende. Norwegische Widerstandskämpfer kamen von den Bergen, nahmen
Jonny mit und übergaben ihn an die Britische Navy, die inzwischen mit mehreren
Schiffen in den Hafen von Stavanger eingelaufen war.
Nach einem
unerfreulichen Jahr in englischer Kriegsgefangenschaft kehrte Jonny zurück in
die Kate an der Kuhle hinterm Elbdeich von Weidenfleth. Hier war die Zeit
stehengeblieben und wenn Jonny auf der Innenberme des Deiches mit
zusammengekniffenen Augen den vorbetreibenden Wolken nachblickte, konnte er für
einige Minuten den Krieg vergessen.
Jonny fuhr
wieder mit den Fischern zu den Reusen, das Wasser ließ ihn nicht los. Er
musterte auf Fischkuttern und Ausflugsschiffen zu den Nordfriesischen Inseln
an. Dann zog er das große Los und durfte auf dem Lloyd Turbinenschiff
„Weserstein“ auf große Fahrt gehen. Es folgten viele weitere Schiffe und
irgendwann hatte Jonny von Allwörden sein eigenes Kommando und ein eigenes
Schiff. Die „Edda“ mit Heimathafen Weidenfleth war ein Kümo, mit dem Jonny die
gesamte Nord- und Ostsee bereiste. In der kleinen, inzwischen aber schmuck
renovierten Kate an der Kuhle in Weidenfleth,
lebten seine Frau Hermine und Töchterchen Edda, die auch Namensgeberin für
Jonnys Schiff war. Jonny kam nur noch in die Kate, wenn ein Werftaufenthalt ihn
dran hinderte zu schippern. In den Sommerferien lebten Hermine und Edda mehrere
Wochen bei Jonny an Bord.
Die Jahre
verstrichen, Hermine und Jonny wurden grau und Edda heiratete nach Oberndorf an
der Oste. Einen Beamten, Walli Horeis, zu dem Jonny bis zu seinem Lebensende
keinen Zugang fand. Wie sollte das auch klappen, wenn der Schwiegersohn schon
bei ihrer ersten Begegnung ankündigte, dass er niemals den Fuß auf ein Schiff
setzen und er auch bei der „Edda“ keine Ausnahme machen würde.
Mehrere
Ereignisse veränderten Jonnys Leben im Sommer 2000. Die Frachtraten wurden
immer ungünstiger, Behördenauflagen schier unerfüllbar und Jonny fühlte sich
mit 75 Jahren nicht mehr fit genug für den Job als See- und Kaufmann. Er
verkaufte die „Edda“ zu einigermaßen günstigen Bedingungen und begab sich in
der Kate an der Kuhle auf „Reede“.
Hermine war
nun sein einziger Matrose und musste sich dem Diktat des Kapitäns bedingungslos
unterordnen. Das war nicht leicht nach den vielen Jahren, in denen sie das
Kommando im Haus hatte. Als wollte sie Jonny unmissverständlich klar machen,
dass im Haus an der Kuhle kein Platz für zwei Kapitäne sei, verabschiedete sie
sich noch kurz vor Weihnachten in den unerwarteten, viel zu frühen Tod.
Nun hatte
Jonny das alleinige Kommando in seinem Haus aber keinen einzigen Matrosen mehr.
Er musste viele Dinge lernen, die er schon Jahre nicht mehr oder sogar noch nie
in seinem Leben verrichtet hatte. Einmal in der Woche kam Edda rüber von
Oberndorf, nahm die Wäsche mit, putzte ein wenig durchs Haus und erledigte
kleine Gartenarbeiten, für die der Kapitän kein Auge und zu denen er auch keine
Lust hatte. Meistens kochte Edda etwas und nach der gemeinsamen Abendmahlzeit
verschwand sie wieder in ihr eigenes Zuhause, zu ihrem Walli, der auch nicht
ganz einfach aber noch mal anders als Jonny ist.
Jonny von
Allwörden hat sich sein Leben an Land im Laufe der Jahre perfekt eingerichtet.
Jeder Tag verlief nach gleichem Muster. Einzige Abweichungen bestanden darin,
ob Jonny auf dem Nachmittagsspaziergang seinen kleinen Mischlingsrüden an der
Gartenpforte nach Backbord oder Steuerbord den Deich entlang dirigierte. Jonny
ging nicht zu Bett sondern in die Koje und gefrühstückt wurde in der Kombüse.
Das Wort Richtung verschwand aus seinem Wortschatz. Egal ob im Auto oder mit
Hund Hansi, immer hieß es „Kurs Stade“ oder Hansi bekam an der Haustür die
Information „Kurs Hoob´n“, also zum Hafen. Plattdeutsch war ihm längst schon
zur ersten Sprache geworden, so wie damals, bevor er zur Schule gekommen war.
Bisweilen
konnte auch der Blick über den Hafen oder die benachbarte Kuhle nicht
verhindern, dass Jonny von Allwörden in eine gewisse Melancholie verfiel. Wenn
Edda das bei ihren Besuchen bemerkte, versuchte sie den alten Kapitän mit einem
Ausflug ans oder übers Wasser wieder ins Leben zurückzuholen. Bisher hatte das
immer vorzüglich geklappt. Manchmal genügte auch nur eine Fahrt mit der
Elbfähre einmal rüber nach Glückstadt und wieder zurück. Edda kannte schon fast
alle Fährkapitäne und fast alle kannten Edda und ihren inzwischen leicht
gebückten Vater, der immer in seinem schwarzen, zweireihigen Caban und mit seiner
Kapitänsmütze aus dem Haus ging. Oft wurde Jonny schon beim Betreten der „Ernst
Sturm“, „Glückstadt“, „Wilhelm Kroos“ oder „Wischhafen“ vom autoeinweisenden
Personal begrüßt.
„Na, Jonny
wullst du uus mool weller röberstüern?“
Alle
wussten, welch´ Freude Kapitän von Allwörden empfand, wenn er vom Fährkapitän auf
die Brücke eingeladen wurde.
Oben auf der
Brücke mussten sie sich dann sagen lassen, „dat dat mit all den nümodschen
Kroom op de Brüch nix mehr mit Seefohrt tau doon hett.“
Nein,
Seefahrt ist etwas anderes. Hier gab es ja noch ein Steuerrad aber Steuern
taten Blanck, Heinsohn, Pliefke und all die anderen Kapitäne eigentlich nur
noch mit einem kleinen Steuerhebel.
Egal!
Wichtiger
war eigentlich, dass Jonny nach so einem Ausflug immer wieder zu seiner sonst
durchweg optimistisch, positiven Stimmung zurückfand.
Waren die
Depressionen heftigerer Natur, musste
Edda sich schon einmal etwas mehr einfallen lassen. Dann fuhr sie Jonny mit
seinem Auto zur Alten Liebe nach Cuxhaven oder an den Strand von Duhnen. Hier
konnte ihr Vater den Schiffen auf der Außenelbe nachblicken und Edda hörte sich
mit Engelsgeduld die immer gleichen Geschichten von seiner wunderlichen Rettung
vor Norwegens Küste, der verrutschten Ladung im Meerbusen oder zwei Wochen
Zwangsurlaub wegen Maschinenschadens in der Südsee anhören. Während Edda
geduldig zuhörte und Jonny mit jeder Minute in bessere Stimmung geriet, wuchsen
unter Eddas Stricknadeln Socken, Schals und manchmal sogar Pullover von so
gewaltigem Ausmaß, dass sogar Walli Horeis über Jahre gut gepflegter
Beamtenbauch darin Platz fand.
Ja, solche
Ausflüge wirkten Wunder bei Jonny. Wichtig nur, dass das Ziel immer irgendwo am
Wasser lag und das konnte dann auch ruhig mal die Binnenalster oder der
Bederkesaer See sein.
Richtig
schön waren die größeren Reisen, die Jonny von Edda geschenkt bekam. Zum 80.
Geburtstag eine Woche nach Helgoland. Schon nach dem ersten Tag hat Edda den
Alten nur noch abends gesehen, wenn die Ausflugsdampfer sich wieder von der
Insel Richtung Festland bewegten. Jonny hatte schon beim Ausbooten mit Peter
Krüss, dem Führer des Börtebootes vereinbart, dass er, Jonny, als gelernter
Kapitän doch eine gute Verstärkung der sonst nur aus gastronomischem Saisonpersonal
bestehenden Bootsbesatzung abgeben würde. Am letzten Tag ließ Peter den Kapitän
bis kurz vorm Bäderschiff an der Pinne. Edda hat ihren Vater kaum
wiedererkannt.
Zurück in
Weidenfleth erfuhr jeder, der es wollte oder auch nicht wollte, dass ohne Jonnys
unermüdlichen Einsatz fast der gesamte Bäderverkehr auf Helgoland zum Erliegen
gekommen wäre.
Schön auch
der Ausflug nach Büsum. Es war Ebbe und Jonny bat seine Tochter, ein wenig mit
ihm ins Watt zu fahren, damit sie aus dem geschützten Auto heraus den
Sonnenuntergang betrachten konnten. Das darf man nur in Büsum oder in Dänemark. Man hätte den Sonnenuntergang
natürlich auch vom sicheren Ufer aus ansehen können. Aber Jonny wäre nicht
Jonny, hätte er nicht versucht, so nah wie möglich der Sonne zu kommen. Als
Edda zur Rückkehr aus dem Watt mahnte, setzte er sich wie ein kleines Kind
bettelnd durch, dass sie noch eine halbe Stunde bleiben sollten.
Später
dachte Edda: „Hätte ich doch bloß nicht nachgegeben.“
Sie standen
ein wenig erhöht und hatten nicht bemerkt, dass das Wasser von hinten unter dem
Auto durchlief. Im Nu war der Grund unter den Reifen zu weich und Edda konnte
Jonnys alten Golf nicht mehr von der Stelle bewegen.
Das war die
große Stunde eines Kleinlandwirtes, der schon die ganze Zeit seitdem das Wasser
auflief, den Golf im Auge hatte. Als er dann eine Frau aussteigen sah, die
aufgeregt zu winken begann, schmiss er seinen alten Ferguson an – der neue
Trecker durfte nicht ins Salzwasser – und fuhr raus zu Jonny und Edda. 100 Euro
bringt ihm so ein Einsatz und es hatte noch nie jemand Nein Danke zu seinem
Angebot gesagt.
Jonny fand
das natürlich zu teuer. Er hielt aber den Mund, weil das Wasser schon zwei
Handbreit unter der Schwelle der Fahrertür stand.
Jonny hielt
den Mund bis vor die Haustür. Als Edda sich von ihm verabschiedete fand er
seine Sprache wieder.
„Hunnert
Euro, dat weer tau düür, oober weer´n scheun´n Dach, min Deern. Bit Freedach
denn.“
Jonny drehte
sich um und verschwand in seinem Häuschen, ohne abzuwarten bis seine Tochter
mit ihrem Auto davonfuhr.
Edda nimmt
das schon lange nicht mehr krumm. So ist er eben, ihr Vater.
Für den 85.
Geburtstag hatte Edda dann eine ganz besondere Überraschung für ihren Vater. In
einem Umschlag fand er einen schönen Gutschein für eine Rundreise über die
Dänischen Inseln. Das war einst Jonnys Revier und als er den Gutschein las
konnte der „olle Knarzkopp“, wie sein Schwiegersohn ihn immer nannte, seine
Freude nicht verbergen.
Im Juni ging
es los, Jonny bestand darauf, dass sein alter Golf sich auch über die Dänischen
Inseln freuen würde. So brachen Jonny und Edda dann mit Jonnys altem Schlurren
auf.
Eine gute
Entscheidung, wie sich einige Tage später herausstellen sollte.
In der
Kleinstadt Svendbyen auf einer der Inseln zwischen Jütland und der Insel
Seeland, sollte sich ein weiteres Mal erweisen, wie verbunden Jonny von
Allwörden mit dem Wasser war.
Edda hatte
das Auto auf dem kleinen Platz am Hafen abgestellt.
„Vati, ich
geh nur mal eben in die Apotheke. Warte hier, bin gleich wieder zurück.“
Jonny guckte
auf die kleinen Häuschen, die alle giebelständig zum Hafen standen.
„Worüm hett
se eegentlich verkehrt rüm parkt? Ik kann gor nich op´n Hoob´n kieken“, ging es
Jonny durch den Kopf. Der Schlüssel steckte und Jonny rutschte umständlich
rüber auf den Fahrersitz. Wie schön, dass er immer noch seinen Führerschein
hatte.
Was dann
passierte, konnte Jonny später nicht mehr zusammenbekommen. Irgendwie muss er einige
Pedale verwechselt haben. Augenzeugen berichteten, das Auto sei mit Vollgas
rückwärts über die Kaimauer verschwunden. Als es nach einem ziemlichen Knall
und einem heftigen Stoß stillstand, sah Jonny Backbord- und Steuerbordseite
lauter Segel- und Motoryachten. Bevor er sich richtig an den Anblick gewöhnt
hatte, riss ein großer Kerl die Fahrertür auf und zerrte den total verwirrten
Jonny aus dem Wagen auf den Steg. Der Mann redete auf Jonny in dänischer und
dann in englische Sprache ein und versuchte es zu guter Letzt auf Deutsch. Bevor es ihm gelang, sich mit
Jonny zu verständigen, rissen die Leinen der Motoryacht, auf dessen Deck der
Golf von Jonny von Allwörden aus Weidenfleth parkte. Langsam neigte sich das
Boot und keine Minute später versanken Boot und Auto vor den staunenden Augen
eines guten Dutzend Zuschauer im Hafenbecken von Svendbyen.
Als Edda aus
der Apotheke kam, sah sie weder das Auto noch Jonny.
„Wird wohl
mal wieder eine kleine Runde drehen“, dachte sie leicht genervt und setzte sich
auf eine Bank am Rande des Platzes. Sirenen waren zu hören. Eine Feuerwehr und ein
Krankenwagen fuhren bis an die Kaimauer. Es folgten ein Auto mit Politi
Aufschrift und ein Notarztwagen. Inzwischen hatte sich eine für dieses verschlafene Nest ganz beträchtliche
Menschenansammlung neben den blau blinkenden Einsatzfahrzeugen eingefunden.
Es kam der
Moment, dass sich Edda dem Drang nachzuschauen, was dort wohl los sei, nicht
mehr widersetzen konnte. Etwas verhalten setzte sie sich in Richtung Kaimauer
in Bewegung. Das Letzte, was sie wollte, war den Eindruck erwecken, dass sie
neugierig sei.
Obwohl, so
ganz unrichtig wäre der Eindruck ja nicht.
Unten auf
dem Steg vor einem freien Liegeplatz bewegten sich zahlreiche uniformierte
Männer und immer wieder zeigte einer auf die freie Wasserfläche zwischen den
Sportbooten. Plötzlich erkannte sie in dem leicht gebeugten Mann mit
Kapitänsmütze, der ihrem Vater so ähnlich sah, ihren „Vati“ wieder.
„Vati, was
machst du da unten?“
Kaum zuende
gesprochen kletterte sie schon die Eisenleiter hinab auf den Steg. Jonny fasste
sich immer an die Brust, da wo die Innentasche seines Cabans ist, und brachte
immer nur heraus:
„Meine
Brieftasche, Edda meine Brieftasche.“
„Und, wo ist
deine Brieftasche?“
„Im Auto!“
„Und, wo ist
das Auto?“
„Da“, sagte
Jonny und zeigte auf die Stelle, wo noch vor wenigen Minuten der ganze Stolz
eines Motoryachtbesitzers vertäut gelegen hatte.
Es gab dann
noch sehr viel Papierkram zu erledigen bis Edda und Jonny endlich ohne den Golf
und ohne den grauen Führerschein aus dem Jahre 1953 aber mit seiner Brieftasche
und der Reisewäsche in einem Leihwagen aus Svendbyen herausfuhren.
Auf der
Fährfahrt von Glückstadt rüber nach
Wischhafen fand Jonny seine Sprache wieder.
„Schönes
Auto, dieser neue Golf, fährt sich wohl gut?“
„Ja“
„Sollte ich
mir vielleicht auch kaufen, was meinst du, mien Deern?“
„Vati, du
kaufst kein Auto mehr, du hast auch keinen Führerschein mehr. Den haben die
Dänen kassiert und die Versicherung hat mir gesagt, dass sie den Schaden nur in
ganzer Höhe übernimmt, wenn du deinen Führerschein abgibst.“
„Ach so!“
Und so war
es dann. Jonnys Rückwärtsfahrt über die Kaimauer in Svendbyen blieb definitiv
seine letzte Autofahrt.
„Und“,
fragte Hinnersen am nächsten Tag bei Deele, „war´s schön in Dänemark?“
„Ach jaa!“
„Und dein
Auto?“
„Is in
Dänemark verreckt!“
Warum Jonny
von Allwörden bis zu seinem Tode nicht mehr Auto fuhr hat nie jemand in Weidenfleth
erfahren. Erst bei Deele am Kaffeetisch nach Jonnys Beisetzung, als nur noch
Edda, Walli und ich zusammensaßen, schmunzelte Edda plötzlich über irgendetwas,
wofür ich keine Erklärung hatte.
„Warum
lachst du?“ fragte ich sie.
„Hast du
vorhin gehört, wie ich zu Hinnersen sagte, dass Jonny ein Leben immer dicht am
Wasser geführt hat?“
„Ja, aber so
ganz verstanden habe ich es nicht“, gab ich ihr zur Antwort.
Und dann
erzählte sie mir von all den Katastrophen aus Jonnys Leben. Iimmer dicht am
Wasser, oftmals dicht am Tod.
Jonnys
letzte Fahrt mit seinem Golf ins Hafenbecken von Svendbyen sorgte für so viel
Heiterkeit bei uns, dass Deele mehrmals den Kopf zum Saal hereinsteckte, um zu
überprüfen, ob sie wirklich richtig durch die fast geschlossene Schiebetür
gehört hat.
War ja
schließlich ´ne Beerdigung!
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