Sonntag, 8. November 2015

Na bitte, geiht doch!



Vor unserer Auffahrt endet die Straße für Autos. Radfahrer, Fußgänger und bisweilen motorgetriebene Zweiräder können aber einen Fußweg entlang unserer Grundstücksgrenze bis zum Fischteich nutzen. Das ist eigentlich noch gar nicht schlimm. Schlimm ist im Prinzip auch nicht, dass statt eines Zaunes eine dichte Feldahornhecke die Grundstücksgrenze bildet. Schlimm ist eigentlich nur, dass diese Hecke die Eigenschaft besitzt sich in kürzester Zeit in Richtung Himmel und Gehweg auszudehnen. Ach, was sag ich. Richtig schlimm ist das eigentlich auch nicht. Schlimm, also richtig schlimm ist nur, dass diese Hecke mindestens zweimal im Jahr geschnitten werden muss. Schlimmer als das Schneiden selber ist dann immer die Zeit, bis sie dann endlich geschnitten wird. Schon beim Frühstück fängt es an.
„Die Hecke müsste mal geschnitten werden.“
„Ja“!
„Wann glaubst du, dass du Hecke schneiden kannst?“
Pause
„Vielleicht am Freitag.“
„Freitag soll das Wetter wieder schlechter werden.“
„Mal seh´n.“

Zweimal wird bei uns geschnitten. Das erste Mal  vor Schützenfest. Irgendwie ist der Zeitpunkt von mir voll akzeptiert und bislang hat es spätestens bis zum Freitag vor dem Schützenfest  immer geklappt. Zum Scherz habe ich zu den Nachbarn gesagt, dass ich mir ja nichts nachsagen lassen will, falls einer aus der Straße Schützenkönig wird.
Eigentlich unwahrscheinlich, wir haben nur zwei Schützen in der Straße, von denen einer nie auf die Scheibe schießt, weil er nicht König werden will und der andere entweder zu schlecht schießt oder auch nicht Schützenkönig werden will. Also könnte ich mir den Termindruck beim Heckeschneiden getrost schenken.
So einfach ist das aber nun auch wieder nicht. Ganz tief in meinem Innern scheint doch irgendwie die Sorge zu sitzen: „Und, wenn nun doch einer der beiden König wird? Wie sieht das denn aus, wenn bei uns die Hecke nicht geschnitten ist?“  
Erklären kann ich mir diesen Druck eigentlich nicht. Über dreißig Jahre wohnen wir nun schon hier und die Hecke hat höchstens mal einen versprengten Schützen auf dem Heimweg vom Schützenfrühstück oder  Festplatz gesehen. Und die waren meist in einem Zustand, dass sie wohl einiges auch schon mal doppelt gesehen haben aber bestimmt nie wahrgenommen hätten, dass unsere Hecke hätte geschnitten sein müssen.
Den Schützenumzug hat unsere Straße nur direkt an ihrer Einmündung zur Feldstraße gesehen. So gesehen würde es eigentlich auch ausreichen, wenn die beiden Eckgrundstücke geschnittene Hecken hätten.
Also vor Schützenfest genügten meist zwei oder drei  mit steigender Intensität vorgetragene Mahnungen, bis ich dann zur Schere greife. Weniger wohl, weil ich von der Notwendigkeit des Heckenschnitts gerade zu diesem Zeitpunkt überzeugt bin. Eher, weil ich meine Ruhe haben möchte.

Oder doch vielleicht das Schützenfest?

Etwas anders verhält sich die Sachlage zum zweiten Schnitt, meist gegen Ende August oder Anfang  September. Ab Mitte August geht es los.
„Die Hecke müsste geschnitten werden.“
„Hmm.“
„Und wann glaubst du darangehen zu können?“
„Vielleicht übermorgen, wenn das Wetter mitspielt.“
In Jahren, wie diesem, spielt das Wetter nie mit. Und, wenn es dann mal trocken ist, steht ein anderer wichtiger Termin an.
Völlig stressfrei sind Morgen, an denen es in Strömen gießt.  Der Haussegen gerät nicht in Gefahr. Heckenschnitt  wird bei diesem Sauwetter von niemandem erwartet.
Mit jedem Tag, der verstreicht wächst die Hecke und der Durchgang zwischen meinem Nachbarn und mir wird deutlich schmaler. Mit der Hecke wächst von Tag zu Tag bei mir die Einsicht, dass die Hecke nun wirklich mal geschnitten werden müsste.
Nur in diesem Jahr wollte es einfach nicht klappen. Inzwischen waren wir uns beim Frühstück schon einig, dass nun bald etwas mit der Hecke passieren müsse.

In dieser Phase bekam ich unerwartete Hilfe von Erwin Kleinschmidt. Kleinschmidt, ein entfernter Nachbar aus der Siedlung, nutzt den Gehweg entlang der Hecke regelmäßig mit dem Fahrrad, um Nachschub für seine Giftspritze oder „Moosfrei „ und Ähnliches vom Raiffeisen Markt zu holen. Nachschub wird immer gebraucht. Bei Kleinschmidt findest du nicht ein Kraut, das da wächst, wo es nicht wachsen soll.  Man gewinnt den Eindruck, dass Kleinschmidts gesamter Lebensinhalt aus nichts anderem besteht, als zum Raiffeisen Markt zu radeln, dann zurück, die Mittelchen verbrauchen und wieder rauf aufs Rad.
Ab Mitte August fing Kleinschmidt in diesem Jahr an, mit uns durch unsere Hecke zu kommunizieren. Wir sahen ihn nicht, er sah uns nicht, konnte nicht einmal sehen, ob wir draußen waren und ihn überhaupt hören konnten.
„Muss mal was passier´n, hier!“
Ich erkenne Kleinschmidts Stimme. Mit wem er wohl redet?
Auf dem Rückweg vom Markt höre ich ihn wieder.
„Bös eng hier!“
Ich gehe zur Auffahrt, um zu sehen, mit wem er spricht. Kleinschmidt radelt vorbei.
„Guten Tag, Herr Kleinschmidt.“
„Tag!“
Es passt nicht zu dem Bild, das er von mir hat. Er möchte nicht wahrhaben, dass ich nett zu ihm bin.
Ich stehe auf der Straße und kann den ganzen Fußweg bis zum Teich einsehen.
Niemand ist zu sehen.

Ich verstehe, Kleinschmidt hat zu uns gesprochen. Sozusagen durch die Blume, wenn auch in diesem Fall die Blume eine Hecke ist.
Kleinschmidts Bedarf an Krautvernichtern scheint  gewaltig.
Vielleicht tue ich ihm auch Unrecht und er radelt zwischendurch auch einmal anderswohin.
 Aber eines ist sicher: Witterungsbedingt hat er das gleiche Zeitfenster zum Radeln wie wir fürs  Kaffeepäuschen auf der Terrasse.
Fast täglich spricht Kleinschmidt mit uns durch die Hecke.
„Unmöglich, unmöglich!“
„Lehrer und dann noch nicht einmal Hecke schneiden!“
Wir nehmen seine Botschaften an und freuen uns über seine Kreativität.
„Ne, wat´n Schludderkroom!“
Hier ist Kleinschmidt zu weit gegangen!
Bis jetzt hat meine Frau ihm vielleicht noch insgeheim zugestimmt. Aber „Schludderkroom“ das geht nun wirklich zu weit. Schließlich konnten wir die Hecke nicht schneiden – wegen des Wetters und, weil wir ja auch noch etwas  anderes zu tun haben.
„Der spinnt wohl, Kleinschmidt! Die Giftspritze, wann wir die Hecke schneiden bestimmen immer noch wir und nicht Kleinschmidt!“
„Oh, das kam aber so richtig von Herzen, meine Ulla“, ging es mir durch den Kopf. „Danke Herr Kleinschmidt, danke. Das tut so richtig gut. Sie haben uns in Sachen Gartenhecke wieder auf einen Nenner gebracht. Machen Sie weiter so, das tut unserer Beziehung gut!“ 
So oder ähnlich würde ich es ihm auch gerne durch die Hecke zurufen, bin aber ehrlich gesagt zu feige, es zu tun.
Und dann, Mitte September, die Sonne scheint auf den Frühstückstisch, der Terminkalender hat keine Eintragungen und „er“ [1] hat bis Mittag Trockenheit vorhergesagt. Vielleicht noch eine weitere Tasse Kaffee und dann gibt es keine Entschuldigung mehr. Rein in die Arbeitsklamotten und ran an die Hecke!

Eigentlich war es dann gar nicht so schlimm. Zu zweit haben wir die Arbeit bis Mittag geschafft. Das Geschirr ist wieder im Schuppen und „er“ hat, was in den letzten Jahren wirklich selten ist, für heute Unrecht gehabt. Es ist schon deutlich über Mittag und immer noch scheint die Sonne. Zufrieden mit unserer Leistung sitzen wir mit dem  Kaffeebecher in der Hand auf der Terrasse.
Ist es schön in der Sonne bei geschlossenen Augen zu dösen!

„Na bitte, geiht doch!“
Ich öffne die Augen und sehe über die Oberkante unserer akkurat geschnittenen Hecke eine Prinz Heinrich Mütze in Richtung Fischteich gleiten.

Ja, so ist sie, die Welt der Kleinschmidts. Nur, wenn sie den Leuten nicht immer wieder die Meinung sagen, passiert auch etwas.

Seit dem Tag ist es still geworden jenseits unserer Hecke. Kleinschmidt radelt nicht weniger: Unkraut kennt keinen Urlaub! 
Am Frühstückstisch ist es auch stiller geworden. Zumindest was die Hecke betrifft.
Die Welt ist wieder in Ordnung. Für Kleinschmidt und auch für uns.  Es könnte alles so schön sein, wenn, wenn …
Also, jedes Mal, wenn Kleinschmidts Prinz Heinrich Mütze wie von Geisterhand bewegt an unserem Grundstück vorüberschwebt, will ich ihr hinterherrufen, dass wir die Hecke auch ohne seine Stänkereien geschnitten hätten. Was bildet sich der Kleinschmidt eigentlich ein.

An vier aufeinanderfolgenden Tagen fahre ich mit dem Fahrrad an Erwin Kleinschmidts Vorgarten vorbei. Ein einsames Gänseblümchen steht auf dem Rasen. Bei uns wäre es zwischen hunderten anderer Gänseblümchen gar nicht aufgefallen. Aber hier!
„Schludderkoom!“ denke ich am dritten Tag und schmunzle  in mich hinein.
Am vierten Tag ist es weg, das Gänseblümchen. Erwin Kleinschmidt wird es entdeckt und ausgestochen haben.
„Na bitte, geiht doch!“ geht mir durch den Kopf.
Erschreckt stoppe ich meine Gedanken. Geht natürlich gar nicht, Erwin Kleinschmidt. Nicht mit mir!




[1] „er“ meint nach lokalem Sprachgebrauch nichts anderes als „Kachelmann“ , irgendein anderer Metreologe oder weniger personifiziert „der Wetterbericht“. Diese Fußnote nur für diejenigen, die sich mit den wunderschönen Feinheiten der norddeutschen Ausdrucksformen nicht so gut auskennen.

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