Samstag, 19. Dezember 2015

Mrs. Frampton liebt das deutsche Schwarzbrot nicht



1966 hatte ich, 16jährig, nicht nur schwache Noten in Englisch sondern auch eine sehr günstige Gelegenheit bei Familie Frampton in Lower Holditch Bungalow, Grafschaft Devon meine Englischkenntnisse aufzubessern. Ron Frampton, der englische Freund der Schwester eines Freundes von mir hatte mich für die Sommerferien zu seiner Familie eingeladen. Ron war 10 Jahre älter als ich, Automechaniker und hatte gerade in einer neuerbauten „Nissenhütte“ gemeinsam mit seinem Bruder Brian eine Autoreparaturwerkstatt eröffnet.
Hier, in der absoluten Abgeschiedenheit Devons, sollten die Grundlagen für meine zukünftigen Hochleistungen im Fach Englisch gelegt werden. Die Voraussetzungen dafür waren gut und schlecht zugleich.
Schlecht war, dass die meisten Menschen um mich herum ein derart regional geprägtes Englisch sprachen, dass ich sie kaum verstehen konnte. So auch ein englisches Mädchen, das ich am Strand traf. Für sie waren Abweichungen vom „Hochenglisch“ so normal, dass sie, nachdem sie mein schlechtes Englisch hörte, wissen wollte, aus welchem Teil der Midlands, wo bekanntlich das schlampigste Englisch gesprochen wird, ich denn käme. Meine Beteuerungen, dass ich aus Deutschland  komme, tat sie als plumpe Anmache ab, bis ich ihr meinen Reisepass unter die Nase hielt. Ja, von daher waren die Bedingungen nicht so günstig.
Gut war, dass ich bis ich im Schülersonderzug nach Köln mit Kurswagen nach Hamburg saß kein Deutsch gesprochen habe. Ich habe in den fast sechs Wochen eine Menge Redewendungen und neue Vokabeln gelernt, besonders im Bereich Kfz-Technik und Werkzeuge. Da konnte mir selbst Dr. Lenz, mein Englischlehrer, nicht mehr viel vormachen. Das wichtigste allerdings, was ich gelernt und mir bis heute bewahrt habe: Ich habe meine Angst englisch zu sprechen verloren, egal, wie fehlerhaft es sein mochte. Für die Midlands hätte es allem Anschein damals schon gereicht!

Rons Eltern waren sehr liebenswerte und bescheidene Menschen, die ihr ganzes Leben als Butler und Haushaltshilfe auf dem nahen Herrensitz Fort Abbey gearbeitet haben. Für Reisen hatten sie nie die Zeit und das Geld. Jetzt, im Rentenalter, war die Zeit da, das Geld fehlte immer noch. Rons Aktivitäten über die Landesgrenzen hinaus bis nach Hamburg im fernen Deutschland beobachteten sie mit großer Skepsis. Marion, den Grund für seine Reisen, kannten sie. Marion hatte ein Jahr in der Nachbarschaft als Au-pair gearbeitet.
Mir haben die beiden von Anbeginn größte Freundlichkeit und Gastfreundschaft entgegengebracht. Mit Mrs. Frampton konnte ich mich am besten unterhalten. Sie sprach einwandfreies Englisch und war sehr interessiert, alles über mein Leben und meine Familie zu erfahren. Mr. Frampton war genauso schwer zu verstehen wie er liebenswert war. Er hatte eine sehr tiefe, schnarrende Stimme und zog leicht mal zwei drei Worte zusammen. Ron nannte ihn „the old man“. Er stand gerne mit den Händen in den Hosentaschen und der Pfeife im Mund und schaute dabei den Hühnern oder seinen Söhnen beim Autoschrauben zu.
Abends habe ich mit dem alten Mann Nachrichten geguckt. Gut, dass es auch Bilder gab. Irgendwie haben die Sprecher immer etwas zu schnell gesprochen. Die Familie hatte mich davor gewarnt in der Stube zu bleiben, wenn „Wrestling“ (Catchen) übertragen würde. Dann würde der Alte alles um sich herum vergessen. Er greift selber in die Kämpfe ein, rudert mit den Armen und schlägt in die Luft. Niemand ist in seiner Umgebung sicher.  Mom hatte er, als sie noch mit ihm zusammen auf dem Sofa saß, ein blaues Auge verpasst. Ein anders Mal hat er im Kampfesrausch das neue Sofa zerlegt. Es gab damals eine Art Wrestling Liga und fast jeden Tag irgendwelche Wettkampf Übertragungen. Ich wollte die Warnungen der Familie nicht glauben. Dieser ruhige, alte Mann. Und dann erlebte ich ihn während der Wrestlingkämpfe. Gut, dass ich hinten an der Tür saß, auf einem Stuhl, und nicht wie bei den Nachrichten neben Mr. Frampton auf dem Sofa.
Mrs. Frampton bemerkte ziemlich bald meine Zurückhaltung beim Essen. Sie vermisste bei mir den Heißhunger, den sie von ihren Söhnen kannte, als sie in meinem Alter waren. Es gab eine einfache Erklärung: Es schmeckte eben alles so britisch!  Ich habe gegessen, um nicht zu verhungern, und habe dabei schnell erkannt, was ich gut und was ich weniger gut essen konnte. Mrs. Frampton fragte nicht, ob es mir schmecke oder nicht. Sie hatte längst schon gespürt, was los war. Stattdessen fragte sie mich eines Tages, was wir denn so in Deutschland essen würden. Wir saßen wohl  noch eine Stunde am Küchentisch, nachdem alle anderen längst die kleine Küche verlassen hatten. Als ich bei den Vorzügen von Schwarzbrot im Vergleich zu dem Weizentoastbrot, das es in England als einzige Brotsorte gab, angekommen war, schüttelte die weißhaarige Frau mit großem Erstaunen ihren Kopf. Von schwarzem Brot hatte sie noch nie etwas gehört.
„Und das ist wirklich Brot?“
„Klar, es wird aus Roggenmehl gebacken und enthält Sirup.“
Einmal mehr in ihrem Leben freute sich Mrs. Frampton in England geboren zu sein. Ein Leben ohne Brot konnte sie sich nicht vorstellen und für sie war ein Leben ohne die weiße Weizenpappe ein Leben ohne Brot.

Ich hatte eine Idee. Noch war Zeit. Es gab damals kein Handy und auch das Telefonieren war unverhältnismäßig teuer. Also schickte ich eine Postkarte an meine Eltern in Hamburg mit der Bitte, mir per Express (wegen der Verderblichkeit) ein Schwarzbrot zu schicken. Ich hatte nicht geschrieben, dass ich es brauchte, um meine Gastgeberin mit einer anderen Brotsorte bekannt zu machen. Mein Vater, der während der englischen Kriegsgefangenschaft in Ägypten die Sehnsucht nach Schwarzbrot kennengelernt hatte, hatte volles Verständnis für seinen Sohn und machte sofort den Versand des Brotes zur Chefsache. Keine 14 Tage nachdem ich meinen Hilferuf abgesandt hatte, fand ich ein so korrekt gepacktes Päckchen auf dem Küchentisch, wie nur mein Vater es hinbekam. Ich packte es aus, das erwartete Schwarzbrot lag vor mir, unverdorben. Eine Scheibe aß ich sofort ohne Butter und Aufstrich.
Im Begleitbrief stand:
„Mein lieber Junge, das soll dir erst einmal helfen. Halte die letzten zwei Wochen durch. Denke immer daran, dein Vater musste das englische Brot bis zu seiner Auswechselung über 6 Monate essen. Herzliche Grüße an Ron und deine Gastgeber!“
Ich ließ das Brot auf dem Küchentisch liegen und freute mich schon auf die Gesichter meiner Gastgeber, wenn sie das erste Mal in ihrem Leben richtiges Brot essen.
Als wir am Abend alle um den Küchentisch saßen, fragte ich Mrs. Frampton, ob sie das Brot auf dem Tisch gefunden hätte.
„Oh“, sagte sie, „kann man das essen? Das wusste ich nicht. I gave it to the chickens.“
Sie hat es an die Hühner verfüttert!
Ich muss wohl genauso verdutzt ausgesehen haben, wie sie. Als Ron und sein Vater schallend lachten, mussten auch wir mitlachen.
Die britischen Hühner haben das deutsche Brot überlebt. Vielleicht haben die Framptons später noch einen leicht unbekannten Beigeschmack von deutschem Schwarzbrot im Frühstücksei wahrgenommen.
Wieder in Hamburg angekommen, fragte mein Vater schon bald, ob das Brot gut angekommen wäre und wie lange es denn gereicht hätte.
„Das Brot war gut, ich habe eine Scheibe gegessen, es war köstlich.“
„Und was war mit dem anderen Brot?“
„She gave to the chickens.“
Das war eine kleine Kostprobe von meinem aktuellen englischen Sprachstand.

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