Freitag, 29. Mai 2015

Verkettung von Umständen



Also, nur, dass das schon mal gleich klar ist. Hier geht es um Verkettung! Hat nichts mit Kettenreaktion zu tun. Ihr wisst ja, Kettenreaktion, das war die Geschichte mit der Kuh Paula, meinem Vater in der Kuhsch… und der Ohrfeige, die ich - natürlich völlig zu Unrecht - von ihm bekam.
Ich sollte in der Nacht eine Gruppe von Schulkindern auf der Reise zum Schilaufen im Bregenzer Wald begleiten. Wie der Teufel es will, kündigt sich einen Tag vor der Abreise eine Grippe an mit Halsschmerzen und Schnupfen. Am Reisetag kam dann noch Fieber hinzu. Ich besorgte mir diverse Mittelchen, um die Beschwerden zu lindern, das Fieber zu senken, und beschloss, die Reise trotz Krankheit anzutreten.  
Am Abend des Reisetages stiegen wir in Hemmoor in den Metronom, um dann in Hamburg in den Nachtzug nach Lindau umzusteigen. Auf dem Hauptbahnhof hatten wir dreißig Minuten Wartezeit. Es war sehr kalt und zugig und ich beschloss die Wartezeit in einem der kleinen aber warmen Bistros oben auf der Fußgängerbrücke zu verbringen. Das Fieber machte sich schon wieder unangenehm bemerkbar. Ein heißes Getränk sollte Linderung verschaffen.
Ein Blick auf meine Uhr, noch 12 Minuten.
Langsame schlürfe ich den heißen Kaffee in mich hinein. Der Pappbecher ist geleert, ich blicke auf die Uhr, es sind noch 12 Minuten bis zur Abfahrt des Zuges.
12 Minuten?!! Es waren doch schon bei der letzten Kontrolle 12 Minuten.
Ein Blick auf die Bahnhofsuhr brachte die Lösung. Was höchstens alle zwei Jahre geschieht, war eben eingetreten: Die Batterie meiner Armbanduhr hatte ihren Geist aufgegeben!
Die Uhr zeigte genau die Abfahrtzeit  des Zuges nach Lindau an. Wie von der Tarantel gestochen hastete ich die Treppe hinab, stolpere bei fast jeder dritten Stufe. Alle Mühe vergebens. Gerade als ich auf dem Bahnsteig anlangte, setzte sich mein Zug in Bewegung. An mir vorüber gleiten die fassungslosen Gesichter meiner Kollegen, die es nicht glauben können, dass ich nicht im Zug sitze.
Im Gegensatz zu mir ist mein Gepäck mit der Gruppe gereist.  Die roten Schlussleuchten des „Night Riders“, so nennt sich dieser Nachtzug mit PKW – Beförderung über Bremen, Hannover und Frankfurt an den Bodensee, verschwinden hinter der Kurve am Bahnhofsende in der dunklen Nacht.
Viele Dinge gingen mir durch den Kopf. Zurück nach Freiburg? Übernachten in Hamburg? Oder mit dem nächstmöglichen Zug nach Bregenz hinterherreisen?
Eine pfiffige Frau in der Auskunft wollte selbst nicht glauben, dass kein Zug mehr nach Süden abgehen sollte und überprüfte noch einmal die Fahrpläne. Als ich schon wieder vor der Tür ihres kleinen Dienstraumes stand, holte sie mich ein.
„Wenn Sie sich beeilen, erreichen Sie den Intercity nach Hannover, der steht wegen einer Verspätung noch auf Gleis 6. Laufen Sie, ich stoppe ihn und dann können Sie den Night - Rider in Hannover noch erwischen.“
Richtig kapiert habe ich das alles nicht mit meinem Fieberkopf; aber ich bin noch einmal gerannt in dieser Nacht und saß mit dem Pfiff des Fahrdienstleiters im Zug nach Hannover.
Irgendwo bei Lüneburg sollte ich meine Fahrkarte vorzeigen. Ich erzählte meine Geschichte, die Schaffnerin lachte schadenfroh und verschwand mit den Worten:
„Ich kümmere mich mal um Sie.“
Ein paar Minuten später kehrte sie zurück.
„Ich habe Ihren Fall durchgegeben. Mein Kollege in Ihrem richtigen Zug will Ihren Kollegen Bescheid geben. Gute Reise und viel Glück!“
Oh, mein fehlendes Ticket war gar kein Thema!
Ich bekomme eine Handyverbindung zu meiner Gruppe und kündige an, dass ich vermutlich 7 Minuten vor ihr am Hauptbahnhof in Hannover eintreffen werde. Sie wussten es bereits und waren gerade dabei, Bremen zu verlassen.
 Inzwischen waren schon die ersten 40 Minuten des neuen Tages verstrichen.
Mein Hals kratzte unangenehm, das Fieber war dank eines fiebersenkenden Mittels gefallen und war nicht mehr das große Problem. Uelzen, Celle und dann die Durchsage, dass wir in wenigen Minuten den Hauptbahnhof Hannover erreichen würden.
Alles wird gut!
Der Zug verlangsamt bereits spürbar seine Geschwindigkeit. Da werden die wenigen Menschen im Großraumwagen von einem Knall und anschließendem lauten Geratter aus ihren Gedanken oder sogar Dämmerschlaf hochgeschreckt. Nach weniger als einer Minute steht der Zug. Totenstille tritt ein. Langsam kehrt wieder Leben in die verschreckten Fahrgäste zurück, erste Stimmen sind zu hören.  Wildfremde Menschen treten in einen lebhaften Dialog über die Ursache des gerade verklungenen Getöses mit drauffolgendem  Zug Stopp.
Endlich, die erlösende Durchsage.
„Verehrte Fahrgäste, der Zug ist aus dem Gleis gesprungen! Bitte bleiben Sie an ihren Plätzen und warten Sie auf weitere Anweisungen des Zugpersonals.“
Ich rufe meine Leute im Night-Rider an. Peter wirkt etwas aus dem Schlaf gerissen. Als ich ihm erzählte, dass mein Zug soeben entgleist war, tat er es ab, als hätte ich mal wieder einen Flachwitz rausgelassen.
„Ja, ja, wir stehen auch gerade, weiß nicht warum, sehen uns in Hannover.“
„Sehe ich noch nicht so“, gab ich zur Antwort.
Angekommen sind meine Worte wohl nicht mehr, die Verbindung war bereits unterbrochen.
Eine Durchsage kündigte sich durch Knacken aus dem Lautsprecher und anschließendes Geräusper an.
„Sehr verehrte Fahrgäste der Deutschen Bahn. Bitte nehmen Sie ihr Gepäck und gehen Sie durch den Zug bis in den ersten Wagen. Dort befolgen Sie dann bitte die Anweisungen des Zugpersonals.“
Gepäck hatte ich nicht. Vorne im Zug gab es einen Stau. Einer nach dem anderen verließ den Zug und als ich an der Reihe war, musste ich mit Hilfe des Personals herabsteigen ins Gleisbett.
„Bitte folgen sie den anderen im Gleisbett bis zum Bahnsteig!“
Nun sah ich es auch schon. Vielleicht 500 Meter vor mir begannen die beleuchteten Bahnsteige des Bahnhofes Hannover.
Es war nicht so bequem auf dem Schotter der Bahn zu laufen. Dennoch war der Bahnsteig schnell erreicht. Ich wechselte auf den Bahnsteig 7 und, oh Wunder, der Night-Rider aus Bremen kommend lief soeben ein.
Ich musste mir schon den einen oder anderen blöden Spruch von  meinen  Kolleginnen und Kollegen anhören. Wo gibt es denn auch so etwas? Lehrer verpasst Zug und lässt seine SchülerInnen ohne ihn abfahren!?
Thekla, eine Schülerin aus der 6. Klasse, öffnet die Augen und glaubt zu träumen.
„Herr Petersen, was machen Sie denn hier? Sie sind doch in Hamburg!“
Ohne eine Antwort abzuwarten, schloss sie wieder die Augen und schlief weiter.
Auch mein zweiter Versuch, meinen Freunden von der Zugentgleisung zu berichten, scheiterte kläglich.
So ist das eben. Wer einmal …
Was wollte ich eigentlich noch sagen? Ach ja, es ging um Verkettung von Umständen. Keine Kettenreaktion! Dass ich den Zug verpasst hatte, hatte ich ebenso einer Verkettung mehrerer Umstände zu verdanken, wie das Erreichen des verpassten Zuges in Hannover.
Und nun noch einmal zu meiner Ehrenrettung. Ein kleiner Artikel auf der Norddeutschland Seite des Tageblattes über die Zugentgleisung vor dem Bahnhof Hannover rehabilitierte mich dann doch noch vor meinen Freunden.

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