Also, nur, dass das schon mal gleich klar ist. Hier geht es
um Verkettung! Hat nichts mit Kettenreaktion zu tun. Ihr wisst ja,
Kettenreaktion, das war die Geschichte mit der Kuh Paula, meinem Vater in der
Kuhsch… und der Ohrfeige, die ich - natürlich völlig zu Unrecht - von ihm
bekam.
Ich sollte
in der Nacht eine Gruppe von Schulkindern auf der Reise zum Schilaufen im
Bregenzer Wald begleiten. Wie der Teufel es will, kündigt sich einen Tag vor
der Abreise eine Grippe an mit Halsschmerzen und Schnupfen. Am Reisetag kam
dann noch Fieber hinzu. Ich besorgte mir diverse Mittelchen, um die Beschwerden
zu lindern, das Fieber zu senken, und beschloss, die Reise trotz Krankheit
anzutreten.
Am Abend des
Reisetages stiegen wir in Hemmoor in den Metronom, um dann in Hamburg in den
Nachtzug nach Lindau umzusteigen. Auf dem Hauptbahnhof hatten wir dreißig
Minuten Wartezeit. Es war sehr kalt und zugig und ich beschloss die Wartezeit
in einem der kleinen aber warmen Bistros oben auf der Fußgängerbrücke zu
verbringen. Das Fieber machte sich schon wieder unangenehm bemerkbar. Ein
heißes Getränk sollte Linderung verschaffen.
Ein Blick
auf meine Uhr, noch 12 Minuten.
Langsame
schlürfe ich den heißen Kaffee in mich hinein. Der Pappbecher ist geleert, ich
blicke auf die Uhr, es sind noch 12 Minuten bis zur Abfahrt des Zuges.
12
Minuten?!! Es waren doch schon bei der letzten Kontrolle 12 Minuten.
Ein Blick
auf die Bahnhofsuhr brachte die Lösung. Was höchstens alle zwei Jahre
geschieht, war eben eingetreten: Die Batterie meiner Armbanduhr hatte ihren
Geist aufgegeben!
Die Uhr
zeigte genau die Abfahrtzeit des Zuges
nach Lindau an. Wie von der Tarantel gestochen hastete ich die Treppe hinab,
stolpere bei fast jeder dritten Stufe. Alle Mühe vergebens. Gerade als ich auf
dem Bahnsteig anlangte, setzte sich mein Zug in Bewegung. An mir vorüber
gleiten die fassungslosen Gesichter meiner Kollegen, die es nicht glauben
können, dass ich nicht im Zug sitze.
Im Gegensatz
zu mir ist mein Gepäck mit der Gruppe gereist.
Die roten Schlussleuchten des „Night Riders“, so nennt sich dieser
Nachtzug mit PKW – Beförderung über Bremen, Hannover und Frankfurt an den
Bodensee, verschwinden hinter der Kurve am Bahnhofsende in der dunklen Nacht.
Viele Dinge
gingen mir durch den Kopf. Zurück nach Freiburg? Übernachten in Hamburg? Oder
mit dem nächstmöglichen Zug nach Bregenz hinterherreisen?
Eine
pfiffige Frau in der Auskunft wollte selbst nicht glauben, dass kein Zug mehr
nach Süden abgehen sollte und überprüfte noch einmal die Fahrpläne. Als ich
schon wieder vor der Tür ihres kleinen Dienstraumes stand, holte sie mich ein.
„Wenn Sie
sich beeilen, erreichen Sie den Intercity nach Hannover, der steht wegen einer
Verspätung noch auf Gleis 6. Laufen Sie, ich stoppe ihn und dann können Sie den
Night - Rider in Hannover noch erwischen.“
Richtig
kapiert habe ich das alles nicht mit meinem Fieberkopf; aber ich bin noch
einmal gerannt in dieser Nacht und saß mit dem Pfiff des Fahrdienstleiters im
Zug nach Hannover.
Irgendwo bei
Lüneburg sollte ich meine Fahrkarte vorzeigen. Ich erzählte meine Geschichte,
die Schaffnerin lachte schadenfroh und verschwand mit den Worten:
„Ich kümmere
mich mal um Sie.“
Ein paar
Minuten später kehrte sie zurück.
„Ich habe
Ihren Fall durchgegeben. Mein Kollege in Ihrem richtigen Zug will Ihren
Kollegen Bescheid geben. Gute Reise und viel Glück!“
Oh, mein
fehlendes Ticket war gar kein Thema!
Ich bekomme
eine Handyverbindung zu meiner Gruppe und kündige an, dass ich vermutlich 7
Minuten vor ihr am Hauptbahnhof in Hannover eintreffen werde. Sie wussten es
bereits und waren gerade dabei, Bremen zu verlassen.
Inzwischen waren schon die ersten 40 Minuten
des neuen Tages verstrichen.
Mein Hals
kratzte unangenehm, das Fieber war dank eines fiebersenkenden Mittels gefallen
und war nicht mehr das große Problem. Uelzen, Celle und dann die Durchsage,
dass wir in wenigen Minuten den Hauptbahnhof Hannover erreichen würden.
Alles wird
gut!
Der Zug
verlangsamt bereits spürbar seine Geschwindigkeit. Da werden die wenigen
Menschen im Großraumwagen von einem Knall und anschließendem lauten Geratter aus
ihren Gedanken oder sogar Dämmerschlaf hochgeschreckt. Nach weniger als einer
Minute steht der Zug. Totenstille tritt ein. Langsam kehrt wieder Leben in die
verschreckten Fahrgäste zurück, erste Stimmen sind zu hören. Wildfremde Menschen treten in einen lebhaften
Dialog über die Ursache des gerade verklungenen Getöses mit drauffolgendem Zug Stopp.
Endlich, die
erlösende Durchsage.
„Verehrte
Fahrgäste, der Zug ist aus dem Gleis gesprungen! Bitte bleiben Sie an ihren
Plätzen und warten Sie auf weitere Anweisungen des Zugpersonals.“
Ich rufe
meine Leute im Night-Rider an. Peter wirkt etwas aus dem Schlaf gerissen. Als
ich ihm erzählte, dass mein Zug soeben entgleist war, tat er es ab, als hätte
ich mal wieder einen Flachwitz rausgelassen.
„Ja, ja, wir
stehen auch gerade, weiß nicht warum, sehen uns in Hannover.“
„Sehe ich
noch nicht so“, gab ich zur Antwort.
Angekommen
sind meine Worte wohl nicht mehr, die Verbindung war bereits unterbrochen.
Eine
Durchsage kündigte sich durch Knacken aus dem Lautsprecher und anschließendes
Geräusper an.
„Sehr
verehrte Fahrgäste der Deutschen Bahn. Bitte nehmen Sie ihr Gepäck und gehen Sie
durch den Zug bis in den ersten Wagen. Dort befolgen Sie dann bitte die
Anweisungen des Zugpersonals.“
Gepäck hatte
ich nicht. Vorne im Zug gab es einen Stau. Einer nach dem anderen verließ den
Zug und als ich an der Reihe war, musste ich mit Hilfe des Personals
herabsteigen ins Gleisbett.
„Bitte
folgen sie den anderen im Gleisbett bis zum Bahnsteig!“
Nun sah ich
es auch schon. Vielleicht 500 Meter vor mir begannen die beleuchteten
Bahnsteige des Bahnhofes Hannover.
Es war nicht
so bequem auf dem Schotter der Bahn zu laufen. Dennoch war der Bahnsteig
schnell erreicht. Ich wechselte auf den Bahnsteig 7 und, oh Wunder, der
Night-Rider aus Bremen kommend lief soeben ein.
Ich musste
mir schon den einen oder anderen blöden Spruch von meinen
Kolleginnen und Kollegen anhören. Wo gibt es denn auch so etwas? Lehrer
verpasst Zug und lässt seine SchülerInnen ohne ihn abfahren!?
Thekla, eine
Schülerin aus der 6. Klasse, öffnet die Augen und glaubt zu träumen.
„Herr
Petersen, was machen Sie denn hier? Sie sind doch in Hamburg!“
Ohne eine
Antwort abzuwarten, schloss sie wieder die Augen und schlief weiter.
Auch mein
zweiter Versuch, meinen Freunden von der Zugentgleisung zu berichten,
scheiterte kläglich.
So ist das
eben. Wer einmal …
Was wollte
ich eigentlich noch sagen? Ach ja, es ging um Verkettung von Umständen. Keine
Kettenreaktion! Dass ich den Zug verpasst hatte, hatte ich ebenso einer
Verkettung mehrerer Umstände zu verdanken, wie das Erreichen des verpassten
Zuges in Hannover.
Und nun noch
einmal zu meiner Ehrenrettung. Ein kleiner Artikel auf der Norddeutschland Seite
des Tageblattes über die Zugentgleisung vor dem Bahnhof Hannover rehabilitierte
mich dann doch noch vor meinen Freunden.
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