Freitag, 29. Mai 2015

Die Fahrausweise bitte



Wir sind auf dem Weg nach Berlin. Ostermontag, die S-Bahn in Stade ist nur wenig besetzt. Vor uns ein Ehepaar. Sie trägt ein Kopftuch. Vielleicht sind sie 50 oder auch 60 Jahre. Genau lässt es sich nicht sagen. Es sind Südländer. Araber vielleicht oder auch Türken oder Roma irgendwo vom Balkan. Der Mann sprach am Handy eine Sprache, die ich keiner Nationalität zuordnen konnte.
Agathenburg, erste Station nach Stade. Die Tür geht auf und drei junge Männer steigen ein. Kaum, dass die Türen geschlossen waren, setzen sich die neuen Fahrgäste  zu uns in Bewegung.
„Die Fahrausweise bitte!“
Das sind keine Bahnbediensteten, die die Karten kontrollieren. Ihnen genügt der Ausdruck des Onlinetickets. Es sind Spürhunde des HVV in Zivil. Es gibt nichts zu beanstanden bei uns. Das Ehepaar mit dem fremdländischen Teint vor uns ist dran. Es scheint dort Probleme zu geben. Einer der Kontrolleure nimmt irgendwelche Daten auf, scannt Strichcodes ein und druckt Belege aus. Mann und Frau bekommen jeder einen Beleg mit einem Überweisungsträger in die Hand.
„Hhm, Schwarzfahrer,“ denke ich.
Sie sitzen nur 50 cm von mir, ich höre sie nicht sprechen. Die ihnen zugereichten Belege nehmen sie kommentarlos hin. Der Kontrolleur verabschiedet sich mit den Worten: „Nächste Station aussteigen, Karte kaufen. Sonst bin ich wieder hier.“
Nächste Station ist Dollern. Hatte ich etwas verkehrt verstanden? Hatten die beiden etwas nicht verstanden? Sie blieben jedenfalls seelenruhig sitzen. Ihre Gesichter konnte ich nicht sehen, sie saßen mit dem Rücken zu mir.
Der Zug setzt sich wieder in Bewegung. Die drei Kontrolleure schienen nur darauf gewartet zu haben. Kaum, dass der Zug rollte, druckte einer von ihnen erneut einen Beleg aus. Sein Kollege bewegte sich auf die beiden Schwarzfahrer zu, überreichte die Papiere und wiederholte: „Nächste Station Fahrkarte kaufen, aussteigen!“
Was soll das nun?
Nächste Station ist Horneburg. Unsere Begleiter bleiben immer noch sitzen. Ich beobachte die Kontrolleure. Sie beobachten die Schwarzfahrer. Hinter Horneburg wiederholt sich die Prozedur. Neue Belege werden ausgedruckt.
Entweder sind die beiden vor uns total abgebrüht oder sie sind ohne jegliche Sprachkenntnisse, verstehen nicht, was man von ihnen erwartet. Ich nehme die zweite Variante an, versetze mich in deren Lage. Könnte mir auch irgendwo in der Fremde so ergehen, dass ich ohne schlechte Absichten zu haben, etwas falsch mache. Der Kontrolleur erscheint erneut beim Ehepaar, drückt ihm kommentarlos die Bons mit Überweisungsträger in die Hand. Ich erhebe mich und sage zum Kontrolleur: „Warum machen Sie das, wie soll das so weiter gehen?“
Keine Antwort. Er geht zurück zu seinen Kollegen.
Jede Station 80 Euro, also 2 X 40 Euro, geht mir durch den Kopf. Bis zum Hamburger Hauptbahnhof sind es dann schnell mal 1000 Euro überschlage ich. Ich stehe auf. Gehe zu den drei Männern, die erbarmungslos das tun, was sie für ihre Pflicht halten.
„Warum machen Sie das? Wissen Sie, ob die beiden überhaupt Deutsch verstehen?“
„Die verstehen genug Deutsch, das wissen wir genau.“
„Woher wollen Sie das wissen? Kennen Sie die beiden?“
„Nein, aber das wissen wir. Wollen Sie immer höhere Fahrpreise zahlen, weil die da nie bezahlen wollen?“
„Ich verstehe ja, was Sie meinen. Aber, wenn die kein Deutsch verstehen, können Sie ihnen hundert Mal erzählen, dass sie aussteigen müssen, um sich eine Karte zu kaufen. Es wird nichts nützen.“
Station Neukloster Hedendorf liegt gerade hinter uns. Die „Schwarzfahrer“ bekommen keinen neuen Zettel. Ich gehe zu den beiden und frage: „Verstehen Sie Deutsch?“ Keine Regung, kein Zeichen des Verstehens.
„Sie verstehen kein Deutsch, “ sage ich laut. Ein Junge zwei Sitzbänke weiter teilt meine Vermutung mit gebrochenem Deutsch.
Ich setze mich wieder. Die Kontrolleure beobachten mich aus dem Augenwinkel. Nächste Station Buxtehude. Sie verlassen das Abteil. Die „Schwarzfahrer“ bleiben sitzen, als hätten sie nur Werbezettel für ein Kino oder eine Schnellrestaurantkette bekommen.
Fischbek, Neugraben, Neuwiedenthal, Heimfeld. Sie sitzen immer noch dort. Einmal unterbricht das Telefon ihr Schweigen, der Mann spricht wieder in einer mir unbekannten Sprache. Harburg Rathaus. Ich blicke über den Bahnsteig. Als ich den Blick wieder zurück ins Abteil wandte, waren sie weg. Ich habe ihren Abgang nicht bemerkt.
„Oh, sie sind weg!“
„Hast du das nicht gesehen? Weiß nicht, so frech wie die Frau gelacht hat, man konnte fast meinen, dass sie sich über die Situation lustig gemacht hat. Vielleicht war das eine Masche von ihnen. Das könnte ich überhaupt nicht leiden.“
„Kann schon sein, aber so, wie die drei Kerle sich aufgeführt haben, schien es ja fast schon so, als bekämen sie für jeden Überweisungsträger, den sie ausgeben, ein Kopfgeld.“
Nein, dachte ich, ich möchte niemals, dass mir so etwas passiert in einer Situation, in der ich weder die Sprache noch die Regeln meiner Umgebung beherrsche.

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