Freitag, 29. Mai 2015

Armut hat ein Gesicht


Ich fahre in der S-Bahn in Berlin. Mir gegenüber sitzt eine Frau, sie kann 50, 60 oder vielleicht auch 70 sein.  Ihr Gesicht ist grau und außer den tiefen, braunen Augenhöhlen  gibt es keine andere Farbe. Ihr  Blick ist teilnahmslos, scheint durch mich hindurch zu gehen. Ihre Kleidung ist abgetragen, farb- und freudlos wie ihr Gesicht, und die Schuhe passen nicht zur kalten Jahreszeit.
„Armut hat ein Gesicht“, denke ich wieder einmal, hier in der Großstadt noch einmal mehr als bei uns auf dem Dorf.
Armut zeigt sich auf mannigfaltige Weise und nicht immer sind Menschen, die offensichtliche Merkmale von Armut aufweisen, tatsächlich arm. Ebenso, wie es arme Menschen gibt, denen Armut auf den ersten Blick nicht anzusehen ist.
Warum beschäftigt mich dieses Thema?
Soll ich weiterschreiben, Lena? Du sprichst von Stigmatisierung.
Das liegt mir fern, das will ich auf gar keinen Fall.
Ich beobachte meine Umwelt, beobachte, was sie mit mir macht.

Wenn ich nun weiter schreibe,  glaube ich, dass es damit zu tun hat, dass Armut mir in den letzten Jahren vermehrt begegnet. Und das beileibe nicht nur in der Großstadt Berlin, wo armselige Gestalten verdreckt und verwahrlost betteln, wo Obdachlose in jedem Zug und an markanten Punkten in der Innenstadt ihre Magazine zum Verkauf anbieten und wo Menschen im Februar am helllichten Tage im Windschutz eines Verteilerkastens auf dem Bürgersteig oder in einem Hauseingang schlafen.
Armut begegnet mir auch hier, bei mir auf dem Dorf. Sie sieht etwas anders aus, als in der Großstadt. Hier nächtigt niemand auf dem Bürgersteig.
Armut, die ich meine, begegnet mir an der Kasse im Supermarkt. Ihr Gesicht wird deutlich an den Waren auf dem Laufband. Verräterisch ist die Kombination von preiswertem Korn und Coca Cola oder anderen Limonaden, die sich zum Strecken des Alkohols eignen. Billiges Dosenbier, Zigaretten gehören zu den immer wiederkehrenden Artikeln ebenso wie billigste eingeschweißte Lebensmittel. Gemüse, Obst und Nahrungsmittel, die zum Kochen von Mahlzeiten benötigt werden, fehlen fast gänzlich. Meistens wird nur in kleinen Mengen eingekauft und beim Bezahlen müssen der Leergutzettel und Kleingeld aus der Hosentasche herhalten. Einkäufe werden in Plastiktüten fortgetragen, die schon mehrfach den Weg zum Einkaufsmarkt gemacht haben, oder sie werden einfach so im Arm gehalten.
Diese Armut geht häufig einher mit einem ungepflegten äußeren Erscheinungsbild: Vernachlässigte Körperpflege, unreine und schadhafte Kleidung. Die Kleidung ist oftmals nicht der Jahreszeit angepasst aber sie reicht den TrägerInnen für den Weg zum Einkauf und zurück.
Diese Armut zeigt sich mir nicht selten in Übergewicht oder  Untergewicht, beides in ungesundem Maße. Sie erzeugt Krankheiten und erschwert deren Heilung, Körper und Gesichter verraten Krankheit und / oder ungesunde Lebensweise.
Diese Armut, die ich hier beschreibe,  hat einen Geruch. Ich nehme ihn wahr, wenn sie mir zwischen den engen Gängen im Einkaufsmarkt oder in Warteschlangen vor der Kasse begegnet. Es ist der Geruch von Tabak gemischt mit langgetragener Kleidung, Körperausdünstungen, muffigen, ungelüfteten Räumen und manchmal an Ofenheizung erinnernd, obwohl heute wahrscheinlich kaum noch jemand Ofenheizung hat. Es ist der Geruch alter Häuser, billigen Wohnraumes, von dem es hier mehr gibt, als anderswo.
Diese Armut geht nicht selten einher mit einem niedrigen Bildungsstand, der sich durch eine einfache, bisweilen vulgäre  Sprache zeigt. Zeitungen oder Bücher gehören nicht zur Erfahrungswelt jener Menschen, die ich hier beschreibe.
Meist schließt sie, die Armut von der ich spreche, aus von der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben sowie dem Kultur- und Vereinsbetrieb.  Im schlimmsten Fall fehlt es den Menschen an Sozialkontakten. Wenn sie zustande kommen, dann oftmals nur im gleichen Milieu.  Arme Menschen verfügen über sehr geringe oder keine Mobilität. Sie besitzen meist kein Auto, oft nicht einmal ein Fahrrad.

Was macht es mit mir, wenn ich all das um mich wahrnehme, was ich gerade beschrieben habe?
Ich bin froh, dass ich ein anderes Leben leben kann. Es wächst in mir eine Dankbarkeit für das allzu lange selbstverständlich gelebte Leben im Wohlstand und gelegentlich, aber immer häufiger, beschleicht mich ein Gefühl von Scham. Scham, weil ich sehe, wie unsere Gesellschaft diese Verhältnisse produziert und  sich nicht ernsthaft bemüht, diesen Zustand zu beheben. Scham, weil ich realisiere, dass ich als Teil dieser Gesellschaft wegschaue statt Initiative zu ergreifen.  Es macht mich nachdenklich, traurig, rat- und hilflos und zunehmend wütend – allemal, wenn ich sehe, wie Kinder in diese Armut hineinwachsen und abzusehen ist, dass ihnen vermutlich meist kein anderes Schicksal, als das der Eltern bevorsteht.

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