Ich fahre in
der S-Bahn in Berlin. Mir gegenüber sitzt eine Frau, sie kann 50, 60 oder
vielleicht auch 70 sein. Ihr Gesicht ist
grau und außer den tiefen, braunen Augenhöhlen
gibt es keine andere Farbe. Ihr Blick
ist teilnahmslos, scheint durch mich hindurch zu gehen. Ihre Kleidung ist
abgetragen, farb- und freudlos wie ihr Gesicht, und die Schuhe passen nicht zur
kalten Jahreszeit.
„Armut hat
ein Gesicht“, denke ich wieder einmal, hier in der Großstadt noch einmal mehr
als bei uns auf dem Dorf.
Armut zeigt
sich auf mannigfaltige Weise und nicht immer sind Menschen, die offensichtliche
Merkmale von Armut aufweisen, tatsächlich arm. Ebenso, wie es arme Menschen
gibt, denen Armut auf den ersten Blick nicht anzusehen ist.
Warum beschäftigt
mich dieses Thema?
Soll ich
weiterschreiben, Lena? Du sprichst von Stigmatisierung.
Das liegt
mir fern, das will ich auf gar keinen Fall.
Ich
beobachte meine Umwelt, beobachte, was sie mit mir macht.
Wenn ich nun
weiter schreibe, glaube ich, dass es
damit zu tun hat, dass Armut mir in den letzten Jahren vermehrt begegnet. Und
das beileibe nicht nur in der Großstadt Berlin, wo armselige Gestalten
verdreckt und verwahrlost betteln, wo Obdachlose in jedem Zug und an markanten
Punkten in der Innenstadt ihre Magazine zum Verkauf anbieten und wo Menschen im
Februar am helllichten Tage im Windschutz eines Verteilerkastens auf dem
Bürgersteig oder in einem Hauseingang schlafen.
Armut
begegnet mir auch hier, bei mir auf dem Dorf. Sie sieht etwas anders aus, als
in der Großstadt. Hier nächtigt niemand auf dem Bürgersteig.
Armut, die
ich meine, begegnet mir an der Kasse im Supermarkt. Ihr Gesicht wird deutlich
an den Waren auf dem Laufband. Verräterisch ist die Kombination von preiswertem
Korn und Coca Cola oder anderen Limonaden, die sich zum Strecken des Alkohols
eignen. Billiges Dosenbier, Zigaretten gehören zu den immer wiederkehrenden
Artikeln ebenso wie billigste eingeschweißte Lebensmittel. Gemüse, Obst und
Nahrungsmittel, die zum Kochen von Mahlzeiten benötigt werden, fehlen fast
gänzlich. Meistens wird nur in kleinen Mengen eingekauft und beim Bezahlen
müssen der Leergutzettel und Kleingeld aus der Hosentasche herhalten. Einkäufe
werden in Plastiktüten fortgetragen, die schon mehrfach den Weg zum
Einkaufsmarkt gemacht haben, oder sie werden einfach so im Arm gehalten.
Diese Armut
geht häufig einher mit einem ungepflegten äußeren Erscheinungsbild:
Vernachlässigte Körperpflege, unreine und schadhafte Kleidung. Die Kleidung ist
oftmals nicht der Jahreszeit angepasst aber sie reicht den TrägerInnen für den
Weg zum Einkauf und zurück.
Diese Armut
zeigt sich mir nicht selten in Übergewicht oder Untergewicht, beides in ungesundem Maße. Sie
erzeugt Krankheiten und erschwert deren Heilung, Körper und Gesichter verraten
Krankheit und / oder ungesunde Lebensweise.
Diese Armut,
die ich hier beschreibe, hat einen
Geruch. Ich nehme ihn wahr, wenn sie mir zwischen den engen Gängen im Einkaufsmarkt
oder in Warteschlangen vor der Kasse begegnet. Es ist der Geruch von Tabak
gemischt mit langgetragener Kleidung, Körperausdünstungen, muffigen,
ungelüfteten Räumen und manchmal an Ofenheizung erinnernd, obwohl heute
wahrscheinlich kaum noch jemand Ofenheizung hat. Es ist der Geruch alter
Häuser, billigen Wohnraumes, von dem es hier mehr gibt, als anderswo.
Diese Armut
geht nicht selten einher mit einem niedrigen Bildungsstand, der sich durch eine
einfache, bisweilen vulgäre Sprache
zeigt. Zeitungen oder Bücher gehören nicht zur Erfahrungswelt jener Menschen,
die ich hier beschreibe.
Meist schließt
sie, die Armut von der ich spreche, aus von der Teilhabe am gesellschaftlichen
Leben sowie dem Kultur- und Vereinsbetrieb. Im schlimmsten Fall fehlt es den Menschen an
Sozialkontakten. Wenn sie zustande kommen, dann oftmals nur im gleichen Milieu.
Arme Menschen verfügen über sehr geringe
oder keine Mobilität. Sie besitzen meist kein Auto, oft nicht einmal ein
Fahrrad.
Was macht es
mit mir, wenn ich all das um mich wahrnehme, was ich gerade beschrieben habe?
Ich bin
froh, dass ich ein anderes Leben leben kann. Es wächst in mir eine Dankbarkeit
für das allzu lange selbstverständlich gelebte Leben im Wohlstand und
gelegentlich, aber immer häufiger, beschleicht mich ein Gefühl von Scham.
Scham, weil ich sehe, wie unsere Gesellschaft diese Verhältnisse produziert
und sich nicht ernsthaft bemüht, diesen
Zustand zu beheben. Scham, weil ich realisiere, dass ich als Teil dieser
Gesellschaft wegschaue statt Initiative zu ergreifen. Es macht mich nachdenklich, traurig, rat- und
hilflos und zunehmend wütend – allemal, wenn ich sehe, wie Kinder in diese
Armut hineinwachsen und abzusehen ist, dass ihnen vermutlich meist kein anderes
Schicksal, als das der Eltern bevorsteht.
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