Freitag, 3. April 2015

Old warn is nix!



Old warn is nix! Das hat Maria mir bei unserem letzten Besuch gesagt. Maria und Heinrich sind nicht nur sehr alt sondern auch meine Schwiegereltern. Er fast Mitte neunzig und sie knapp unter neunzig, bewältigen ihren Alltag unter Einsatz von viel fremder Hilfe „man grad soeben“. Das Alter hat ihnen, die  viele Jahrzehnte  nie krank waren, die nie erlaubten, dass Krankheiten sich in ihren Körpern breit machten, deutliche Grenzen aufgezeigt. Maria kann sich kaum auf den Beinen halten vor Schmerz in ihren Beinen und Knien. Sie zwingt sich gegen den Schmerz  aus dem Sessel hoch und taumelt trotz Stockes die ersten Schritte von Möbel zu Möbel, so dass ich immer aufspringen möchte, um sie auffangen zu können. Irgendwie hat sie es immer noch gerade so geschafft von der Stube zur Küche und wieder zurück.
Heinrich hat keine Schmerzen. Er ist nur immer müde, schläft fast den ganzen Tag in seinem Bett. Die größte Anstrengung besteht darin, aufzustehen und sich anzukleiden. Erschöpft von dieser Arbeit und dem kurzen Weg vom Schlafzimmer in die Küche sinkt er auf einen Stuhl. Sein Herz hat ihn in den letzten Jahren immer mehr im Stich gelassen. Mir kommt es unwirklich vor, dass dieser ehemalige Flieger, den ich kennenlernte, als er fast fünfzig Jahre alt und voller Vitalität war, dass dieser Mann irgendwann einmal alt werden würde.  
Gemeinsam mit Maria hat er vier Töchter und einen Sohn großgezogen. Beide, Maria und Heinrich haben ihr Leben lang gearbeitet und verzichtet für die Familie und den Betrieb, der sie alle ernähren musste. Alle fünf Kinder haben das Gymnasium besucht und erfolgreich ein Studium abgeschlossen. Sie lebten ein Leben, das so ganz anders war, als das, das ihnen ihre Kinder und Enkel vorlebten. Ich erlebte ihre Bescheidenheit, Großherzigkeit, Klugheit, Warmherzigkeit und Toleranz und verehrte und verehre sie dafür. Man merkte ihnen den Stolz auf ihre erfolgreiche Nachkommenschaft an und sie machten nie einen unglücklichen Eindruck auf mich.
Nun sitze ich hier bei ihnen am Küchentisch. Das Zeitfenster, in dem ein Besuch bei Heini und Maria Sinn macht, ist klein geworden. Wir reisen so an, dass sie möglichst beide auf den Beinen sind.  Das ist in der Regel kurz vor Mittag. Wir kommen meistens unangemeldet. Andernfalls würde Maria sich stundenlang den Kopf zermartern, weil sie in ihrer Gebrechlichkeit nicht weiß, wie sie uns ein Essen kochen soll. Nicht selten bringen wir jetzt etwas mit zum Essen.
Heute waren wir angemeldet. Für ein Essen reichten die Kräfte nicht und auch der Kaffeetisch für das zweite, ausführliche Frühstück, das wir gemeinsam einnehmen wollten, war nur halb gedeckt. Widerstrebend lässt Maria zu, dass ihre älteste Tochter sanft die Regie in der Küche übernimmt. Trauer über ihre Unzulänglichkeit spricht aus ihren Augen, wie sie so auf den Stock gestützt und gegen ihre Küchenzeile gelehnt das Treiben um sie herum beobachtet. Dann gibt sie sich einen sichtbaren Ruck. Sie muss ins Schlafzimmer und Heini hochhelfen. Sonst bleibt er ja einfach liegen und niemand hilft ihm. Sie wankt zum Schlafzimmer und ich denke, dass ich hier der Zeuge bin, wie zwei Menschen am Ende ihres Lebens die letzten Kräfte mobilisieren, um ein letztes bisschen Unabhängigkeit zu bewahren.
Wie lange mag das noch gut gehen, denke ich bei diesem Anblick.
Heinrich kommt mit dem Gehstock hastig in die Küche und lässt sich auf seinen Stuhl fallen. Es erinnert mich ein wenig an die Bilder, die ich von Leichtathleten kenne, die sich mit letzter Kraft über die Ziellinie stürzen.  Was ist aus diesem ewigjungen Kerl geworden, denke ich beim Anblick meines hageren Schwiegervaters.
Dann sehe ich in seine Augen. Es sind immer noch die Augen die ich als junger Mann bei ihm kennengelernt habe. Neugierig, aufmerksam und lebendig. Er freut sich und lacht will sich sofort ins Gespräch mit seinem Besuch begeben. Das ist nicht so leicht, weil es ihm immer schwerer fällt, seine Gedanken in Worte zu fassen. Man kann sich gut mit ihm unterhalten, wenn man allein mit ihm ist, ihm Zeit lässt, Gedanken und Worte zu ordnen. Maria, mit zunehmendem Alter nicht nur ungeduldig mit sich selbst, lässt ihm die Zeit meist nicht, antwortet für ihn, spürt nicht, dass da etwas aus dem Kopf ihres Mannes heraus möchte. Meistens resigniert er bald und verfolgt das Geschehen um sich herum schweigend.
Heini hört ja so schlecht erklärt sie uns sein Schweigen.
Es geht ihm vermutlich ebenso, wie den meisten alten Menschen, die bei mehreren Stimmen zugleich nichts mehr verstehen. Seit nunmehr schon fast zwei Jahren achten wir darauf, dass wir alleine sind mit den Eltern und die junge Familie von Kerstin sich in ihr Haus zurückzieht, wenn wir kommen. Besonders intensive Gespräche führen wir, wenn wir allein mit einem von beiden sprechen. Heini blüht auf und kann erstaunlich gut seine Gedanken vortragen. Maria kann in Ruhe mit Ulla über die Dinge reden, die sie bewegen.
Jetzt am Esstisch beobachte ich, wie schnell Heinrich sich zurückzieht.
Hei hört jo so schlecht!
Maria verfällt immer häufiger in die Sprache ihrer Kindheit. Ja, mit dem Hören ist es wirklich ein Problem. Auch bei Maria, obwohl sie es wegen eines im letzten Jahr angeschafften Hörgerätes besser haben könnte. Aber wozu soll sie „de Dinger“ ins Ohr packen, wenn sie doch auch so ganz gut hören kann.
Wenn Heini man ein bisschen besser hören würde.
 Manchmal streiten sich die beiden sogar, weil sie sich gegenseitig vorwerfen, nicht anständig hören zu können.
Ja, wenn er doch ein bisschen besser hören täte.
Heini schiebt mir den Zuckerpott rüber und fragt wie all die 40 Jahre, die ich ihn nun schon kenne, ob ich Zucker nehmen würde.
Nein, nur Milch. Obwohl ich sonst immer gerne für Süßes zu haben bin, sage ich, zum Beispiel Schokolade.
Maria hört zu und erzählt von der Marmelade bei ALDI, die wohl mehr Zucker hat als Früchte.
Habt ihr auch Marmelade von ALDI?
Nein, wir kochen sie selber oder kaufen mal bei EDEKA.
Heini will etwas sagen, kommt erst nach allgemeinem Redestopp zu Wort und spricht mich an:
Hast du Schokolade oder Marmelade gesagt?
Schokolade!
Ich dachte schon, ich hätte etwas Verkehrtes verstanden, weil Mama immer von Marmelade spricht.
Ja, schaltet Maria sich ein, ich habe erzählt, dass wir die ALDI Marmelade auch nicht nehmen, weil die so süß ist. Papa hört nicht richtig zu!
Sie hat nicht gemerkt, dass sie nicht richtig verstanden hat, was ich Heini geantwortet hatte. Er hatte aber alles verstanden, auch Marias Auslassungen über Aldi Marmelade.
Weil er ganz richtig von mir „Schokolade“ gehört hatte, begann er an sich zu zweifeln.
Nun war er glücklich, hatte er doch alles richtig verstanden.
Maria redet weiter von der süßen Marmelade, hat auch die Antwort auf Heinis Frage nicht richtig verstanden.
Es wird Zeit für Mittagsruhe. Maria, Heinrich und ich begeben uns ins Wohnzimmer. Ich werde nahtlos in das tägliche Ritual einbezogen. Heini legt sich auf das Sofa und wird von Maria, die sich kaum auf den Beinen halten kann, mit einer Decke zugedeckt.
Er friert ja immer so schnell.
Und das, obwohl mein Hemd im hoffnungslos überheizten Wohnzimmer schon am Rücken zu kleben beginnt. Maria setzt sich auf einen Sessel und legt die Füße hoch auf einen gepolsterten Hocker. Ich mache es mir auf dem letzten Sessel bequem.
Heini schläft auf dem Rücken liegend nach wenigen Augenblicken ein.
Nu schlöppt hei all wedder!
Maria blättert etwas in der Sonntagszeitung.
Ulla steckt den Kopf zur Tür rein. Sie ist fertig mit der Küche.
Kerstin (gemeint Ulla), kannst mi mool eben miene Dinger, miene Hörgeräte ut de Schloopstuv holen?
Ich denke, dass ich etwas nicht richtig verstanden habe. Dann aber kommt Ulla mit einem Etui und Maria beginnt damit, sich die Hörapparate in die Ohren zu fummeln.
Maria, warum machst du die Teile ins Ohr, wenn du nun schlafen willst?
Wat hest du secht, Jörch?
Warum machst du die Teile ins Ohr, wenn du nun schlafen willst?
Inzwischen sitzen „de Dinger“ richtig.
Sonst hör ick doch nich, wenn een koomt!
Ulla hat sich oben im Haus zur Ruhe begeben und ich zeige mich mit meinen Schwiegereltern solidarisch und genehmige mir ein Mittagsschläfchen.
Nach zwei Stunden sind alle wieder da. Maria ist wackeliger denn je. Die kaputten Glieder schmerzen und sie muss große Schmerzen überwinden, um sich aus dem Sessel erheben und die ersten Schritte machen zu können. Dankbar lässt sie sich das Decken des Kaffeetisches von uns aus der Hand nehmen. Kuchen isst Heini gerne und mit Freude nehme ich wahr, dass seine Liebe für Schlagsahne durch sein Alter nicht gelitten hat. Sahne darf es immer noch einmal etwas mehr sein. Wir sitzen eine Stunde am Kaffeetisch, es wird bereits dunkel. Wir bereiten unseren Aufbruch vor und es wird kein Versuch unternommen, uns zu längerem Bleiben zu bewegen. Kerstin, Bernd und Anton kommen in die Stube. Anton mit seinem sechsjährigen Temperament bestimmt das Geschehen von der ersten Minute an. Er möchte nicht unbeachtet sein und tut alles für volle Aufmerksamkeit. Heini schaut in die Runde, er versteht nichts.
Die beiden Alten sind erschöpft und sie haben noch zwei schwierige Aufgaben vor sich: Abendessen und zu Bett gehen!

Ulla und ich sitzen im Auto auf dem Heimweg nach Freiburg. 2 Stunden Autofahrt, wenn alles glatt läuft. Wir reden nicht, jeder ist in Gedanken bei den Eltern. Ratlos, hilflos. Man möchte den beiden so gerne helfen; aber das, was sie am dringendsten brauchen, Kraft und Mobilität, können wir ihnen nicht geben. Wir können ihnen auch nicht die Angst nehmen, vor dem, was da noch auf sie zukommt. Wir können sie aber besuchen und ein klein wenig Abwechslung in ihren  so anregungsarmen Alltag bringen. Wir sollten einfach in kürzeren Abständen zu ihnen fahren.
Was meinst du, Ulla?
Old warn is nix, denke ich.
Heinrich und Maria, ich wünsche euch von ganzem Herzen für die letzte Zeit ein Leben in Würde.
Bis bald, ich hab euch gern!

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