„Für
Naturwissenschaften haben wir kein Talent“, pflegte meine Mutter immer zu
sagen, wenn ich wieder einmal mit einer missglückten Klassenarbeit in Chemie
oder Physik nach Hause kam. Vielleicht hatte ich wirklich kein Talent,
vielleicht glaubte ich es auch nur, weil sie es immer und immer wiederholte
seit sich bei mir die ersten Misserfolge in diesen Disziplinen eingestellt
hatten.
In der
Mittelstufe am Gymnasium hatte ich es in den Naturwissenschaften und Mathematik
mit Helmut Hauffe, einem Bauernsohn aus Wesselburen in Dithmarschen, als Lehrer
zu tun. Meine Ergebnisse waren oftmals mangelhaft; dann aber, kurz vor den
Zeugnissen, gerade noch ausreichend. Ein „Sitzenbleiben“ konnte ich immer knapp
vermeiden. So auch kurz vor dem Übergang in die 11. Klasse. Es war eine
Zitterpartie an deren Ende ich in allen drei Problemfächern ein „Ausreichend“
bekam. Heute bin ich mir nicht mehr so sicher, ob meine Leistungen tatsächlich
ausreichend waren, oder ob ich meine Versetzung in die Oberstufe des Gymnasiums
ganz anderen Umständen zu verdanken hatte.
Welche Rolle
spielte zum Beispiel die Tatsache, dass ich den Hobbyornithologen und Nachtigallen
Spezialisten Hauffe auf Sprosser Vorkommen auf der Prinzeninsel im Plöner See
aufmerksam machte und ihn dann auch noch für Tonbandaufnahmen dorthin
begleitete?
Oder war er
mir vielleicht nur wohlgesonnen, weil ich, ebenso wie er, auf einem Bauernhof
aufgewachsen bin?
Wer weiß es
schon?
Kettenreaktionen
in Chemie! Die letzte Stunde endet mit der Definition an der Wandtafel. Ich
übertrug sie in mein Heft, ohne eine wirkliche Ahnung zu haben, worum es dabei
tatsächlich ging. Zu Beginn der Stunde trug Hauffe in seiner von Dithmarschen
geprägten Sprache mit spitzem „sp“ und „st“ noch einmal die Definition vor:
„Eine Kettenreaktion ist eine physikalische
oder chemische Umwandlung, Reaktion, die aus gleichartigen, einander
bedingenden Teilreaktionen besteht. Dabei ist ein Produkt
einer Einzelreaktion, Reaktant, Ausgangsprodukt, Edukt, für eine Folgereaktion.
Die Reaktionskette kann linear oder verzweigt sein.“
Dann schlug
er sein Notenbüchlein auf und, während er seine Liste überflog, murmelte er vor
sich hin, wer denn heute wohl dran sei, die Definition zu erklären.
„Schörch, bei
dir fehlt noch´n lütt büschen für ´ne vier. Versuch´ ma´ zu erklären, kann auch
mit eigenen Worten sein.“
Das hätte
nun nicht kommen dürfen. Während der Rest der Klasse befreit weiteratmete, weil
der Kelch an ihnen vorübergegangen war, schnürte sich mir der Hals zu. Kröger
hätte wahrscheinlich schon eine 6 notiert. So aber war Hauffe nicht. Er war
Pädagoge durch und durch. So schnell gab er die Hoffnung nicht auf, selbst mir
noch so viel zu entlocken, dass es für eine 4 ausreichte.
„Na Schörch,
denk doch mal dran, was uns das Wort Kettenreaktion sagt!“
Das war der
Schlüssel, der Bann war gebrochen. Ich begann zu sprechen:
„Also das
war, als ich noch auf unserem Bauernhof lebte. Ich spielte mit einigen
Nachbarkindern auf dem Heuboden. Das war streng verboten, weil man leicht durch
die Bodenluke auf den harten Zementboden des Futterganges oder durch den
löchrigen Bretterboden in den Stall fallen konnte. Wir haben aber trotzdem da
gespielt, weil es so viel Spaß machte…“
„Nu komm mal
auf´n Punkt, Schörch, Kettenreaktion ist das Thema.“
„Ja, ich bin
von ganz oben vom Heu gerutscht. Die Rutschpartie endete ausgerechnet über einem
wurmstichigen Bodenbrett, das der plötzlichen Punktbelastung nicht mehr
standhielt und zerbrach. In einer Wolke aus Staub, Heu, Holzwurmmehl und
Bretterteilen landete ich auf dem Rücken einer Kuh.
Paula hieß
sie.
Unter der
Kuh saß mein Vater mit seinem langgestreckten steifen Bein, das ihn allzeit an
den unseligen Krieg erinnerte, auf einem kleinen Melkschemel. Den halbvollen
Milcheimer hatte er zwischen die Knie geklemmt. Als ich auf Paula landete hat sie
sich sehr erschrocken und ist mit einem Fuß in den Milcheimer getreten. Der ist dann
umgefallen und mein Vater auch. Ich bin vom Paulas Rücken heruntergefallen und lag in dem Gemisch
aus Milch und Kuhscheiße neben meinem Vater. Bevor wir beide wirklich wussten,
was hier soeben geschehen war, holte mein Vater aus und gab mir eine kräftige
Ohrfeige, wohl weniger, um mich zu bestrafen, eher vor Schreck. Dann hat er mir
hochgeholfen und gefragt, ob mir etwas fehle.“
Die
Klassenkameraden lachten schon die ganze Zeit. Ich konnte nicht einordnen, ob
sie mich auslachten oder über die Geschichte lachten.
Vielleicht
beides.
Als ich zu
Hauffe blickte, sah ich, dass auch er sich kaum halten konnte vor Lachen.
„Tscha,
Schörch, eine 4 hast du schon. Wenn du nun auch noch sagen kannst wer von Paula
und deinem Vater Reaktant oder Edukt war, dann bekommst du eine mündliche 1.
Dann können wir noch maa über ´ne 3 im Zeugnis reden.“
Das konnte
ich dann aber nicht, hatte ja schließlich kein Talent für Naturwissenschaften,
wie meine Mutter ja immer zu sagen pflegte. Aber, immerhin, ich hatte eine 4 im
Zeugnis. In Chemie!!!
Es entsprach
dem Humor von Helmut Hauffe, dass er meine Geschichte als Bildergeschichte zum
Tafelbild machte.
Ach ja, dort
stand dann auch zu lesen, was mir zur 3 in Chemie gefehlt hatte.
Ich war in
der Geschichte anfangs Reaktant, Paula, unsere großfleckige Holsteiner
Schwarzbunte, Edukt, mutierte dann zum Reaktanten (Tritt in den Milcheimer).
Mein Vater war erst Edukt, wie er so in die Kuhscheiße flog und mit seiner
Ohrfeige wurde er zum Reaktanten, der mich zum Edukt machte.
Alles klar?
Merken! Das ist eine Kettenreaktion!
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