Freitag, 3. April 2015

Kettenreaktion




„Für Naturwissenschaften haben wir kein Talent“, pflegte meine Mutter immer zu sagen, wenn ich wieder einmal mit einer missglückten Klassenarbeit in Chemie oder Physik nach Hause kam. Vielleicht hatte ich wirklich kein Talent, vielleicht glaubte ich es auch nur, weil sie es immer und immer wiederholte seit sich bei mir die ersten Misserfolge in diesen Disziplinen eingestellt hatten.
In der Mittelstufe am Gymnasium hatte ich es in den Naturwissenschaften und Mathematik mit Helmut Hauffe, einem Bauernsohn aus Wesselburen in Dithmarschen, als Lehrer zu tun. Meine Ergebnisse waren oftmals mangelhaft; dann aber, kurz vor den Zeugnissen, gerade noch ausreichend. Ein „Sitzenbleiben“ konnte ich immer knapp vermeiden. So auch kurz vor dem Übergang in die 11. Klasse. Es war eine Zitterpartie an deren Ende ich in allen drei Problemfächern ein „Ausreichend“ bekam. Heute bin ich mir nicht mehr so sicher, ob meine Leistungen tatsächlich ausreichend waren, oder ob ich meine Versetzung in die Oberstufe des Gymnasiums ganz anderen Umständen zu verdanken hatte.
Welche Rolle spielte zum Beispiel die Tatsache, dass ich den Hobbyornithologen und Nachtigallen Spezialisten Hauffe auf Sprosser Vorkommen auf der Prinzeninsel im Plöner See aufmerksam machte und ihn dann auch noch für Tonbandaufnahmen dorthin begleitete?
Oder war er mir vielleicht nur wohlgesonnen, weil ich, ebenso wie er, auf einem Bauernhof aufgewachsen bin?
Wer weiß es schon?
Kettenreaktionen in Chemie! Die letzte Stunde endet mit der Definition an der Wandtafel. Ich übertrug sie in mein Heft, ohne eine wirkliche Ahnung zu haben, worum es dabei tatsächlich ging. Zu Beginn der Stunde trug Hauffe in seiner von Dithmarschen geprägten Sprache mit spitzem „sp“ und „st“ noch einmal die Definition vor:
„Eine Kettenreaktion ist eine physikalische oder chemische Umwandlung, Reaktion, die aus gleichartigen, einander bedingenden Teilreaktionen besteht. Dabei ist ein Produkt einer Einzelreaktion, Reaktant, Ausgangsprodukt,  Edukt, für eine Folgereaktion. Die Reaktionskette kann linear oder verzweigt sein.“
Dann schlug er sein Notenbüchlein auf und, während er seine Liste überflog, murmelte er vor sich hin, wer denn heute wohl dran sei, die Definition zu erklären.
„Schörch, bei dir fehlt noch´n lütt büschen für ´ne vier. Versuch´ ma´ zu erklären, kann auch mit eigenen Worten sein.“
Das hätte nun nicht kommen dürfen. Während der Rest der Klasse befreit weiteratmete, weil der Kelch an ihnen vorübergegangen war, schnürte sich mir der Hals zu. Kröger hätte wahrscheinlich schon eine 6 notiert. So aber war Hauffe nicht. Er war Pädagoge durch und durch. So schnell gab er die Hoffnung nicht auf, selbst mir noch so viel zu entlocken, dass es für eine 4 ausreichte.
„Na Schörch, denk doch mal dran, was uns das Wort Kettenreaktion sagt!“
Das war der Schlüssel, der Bann war gebrochen. Ich begann zu sprechen:
„Also das war, als ich noch auf unserem Bauernhof lebte. Ich spielte mit einigen Nachbarkindern auf dem Heuboden. Das war streng verboten, weil man leicht durch die Bodenluke auf den harten Zementboden des Futterganges oder durch den löchrigen Bretterboden in den Stall fallen konnte. Wir haben aber trotzdem da gespielt, weil es so viel Spaß machte…“
„Nu komm mal auf´n Punkt, Schörch, Kettenreaktion ist das Thema.“
„Ja, ich bin von ganz oben vom Heu gerutscht. Die Rutschpartie endete ausgerechnet über einem wurmstichigen Bodenbrett, das der plötzlichen Punktbelastung nicht mehr standhielt und zerbrach. In einer Wolke aus Staub, Heu, Holzwurmmehl und Bretterteilen landete ich auf dem Rücken einer Kuh.
 Paula hieß  sie.
Unter der Kuh saß mein Vater mit seinem langgestreckten steifen Bein, das ihn allzeit an den unseligen Krieg erinnerte, auf einem kleinen Melkschemel. Den halbvollen Milcheimer hatte er zwischen die Knie geklemmt. Als ich auf Paula landete hat sie sich sehr erschrocken und ist mit einem Fuß  in den Milcheimer getreten. Der ist dann umgefallen und mein Vater auch. Ich bin vom  Paulas Rücken heruntergefallen und lag in dem Gemisch aus Milch und Kuhscheiße neben meinem Vater. Bevor wir beide wirklich wussten, was hier soeben geschehen war, holte mein Vater aus und gab mir eine kräftige Ohrfeige, wohl weniger, um mich zu bestrafen, eher vor Schreck. Dann hat er mir hochgeholfen und gefragt, ob mir etwas fehle.“
Die Klassenkameraden lachten schon die ganze Zeit. Ich konnte nicht einordnen, ob sie mich auslachten oder über die Geschichte lachten.
Vielleicht beides.
Als ich zu Hauffe blickte, sah ich, dass auch er sich kaum halten konnte vor Lachen.
„Tscha, Schörch, eine 4 hast du schon. Wenn du nun auch noch sagen kannst wer von Paula und deinem Vater Reaktant oder Edukt war, dann bekommst du eine mündliche 1. Dann können wir noch maa über ´ne 3 im Zeugnis reden.“
Das konnte ich dann aber nicht, hatte ja schließlich kein Talent für Naturwissenschaften, wie meine Mutter ja immer zu sagen pflegte. Aber, immerhin, ich hatte eine 4 im Zeugnis. In Chemie!!!
Es entsprach dem Humor von Helmut Hauffe, dass er meine Geschichte als Bildergeschichte zum Tafelbild machte.
Ach ja, dort stand dann auch zu lesen, was mir zur 3 in Chemie gefehlt hatte.
Ich war in der Geschichte anfangs Reaktant, Paula, unsere großfleckige Holsteiner Schwarzbunte, Edukt, mutierte dann zum Reaktanten (Tritt in den Milcheimer). Mein Vater war erst Edukt, wie er so in die Kuhscheiße flog und mit seiner Ohrfeige wurde er zum Reaktanten, der mich zum Edukt machte.
Alles klar? Merken! Das ist eine Kettenreaktion!

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