Sonntag, 11. Januar 2015

Die Hexe von Groß Kummerfeld



Natürlich weiß ich, dass es keine Hexen gibt! Aber das war nicht immer so. Vielleicht 1956, damals war ich gerade 6 Jahre alt, da gab es noch eine. Sie hieß Tante Emma. Zugegeben, ein seltsamer Name für eine Hexe, änderte aber nichts daran, dass sie eine Hexe sein musste. Tante Emma bewohnte die alte Schule, eine reetgedeckte, schon etwas windschiefe Kate gegenüber unserer Hofauffahrt. Alle Indizien wiesen darauf hin, dass Tante Emma in die Reihe der Hexen und bösen Feen gehörte, die ich aus den Märchen der Gebrüder Grimm kannte. Da halfen auch die steten Beteuerungen meiner Mutter nicht, dass Tante Emma nur eine einsame, alte Frau sei, die es mit allen herzensgut meine.
Warum sollte sie Recht haben, wenn doch Tante Emma in jeder, na ja, in fast jeder Beziehung den Hexen glich, die ich aus den erzählten oder vorgelesenen Märchen kannte. Sie war uralt, schwarz gekleidet, ging mit schleppendendem Gang gebückt und auf einen Stock gestützt, trug ein schwarzes Kopftuch, einige Zähne fehlten ihr und auf der einen Backe wuchsen ihr schwarze Haare aus einer dicken Warze. Als wäre das nicht schon genug, wurde sie auf ihren Spaziergängen ums Haus von einem schwarzen Kater begleitet, mit dem sie sich wohl aus Ermangelung anderer GesprächspartnerInnen, mit einer alten, hohen und leicht krächzenden Stimme unterhielt. Es fehlte eigentlich nur noch der Rabe auf der Schulter. Sicherlich gab es den auch, er war nur immer gerade fortgeflogen, wenn ich Tante Emma von weitem sah.
Gerne begleitete ich meine Mutter zum Kaufmann. Ich mochte den Laden, es roch nach lauter Dingen, die rätselhaft waren, ich konnte mich an Auslagen sattsehen, die es bei uns selten oder nie gab. Manchmal, wenn Hedwig, die Frau des Ladenbesitzers Olejeniezcak (weil einfacher, nur „Schietsack“ genannt), einen guten Tag hatte, durfte ich auch einmal in das Bonbonglas greifen. Getrübt wurden die Erwartungen, wenn ich an der Hand der Mutter schon auf der Lindenallee, die vom Haus zur Dorfstraße führte, Tante Emma in ihrem Garten erblickte. Dann war klar, dass Mutter eben über die Straße musste, um ein paar Worte mit ihrer Nachbarin zu wechseln. Und ich, im festen Griff ihrer Hand, musste mit. Je näher wir der Hexe kamen, umso größer wurde meine Angst, dass ich vielleicht gleich als Kaninchen über die Dorfstraße hoppeln würde. Ich wusste ja, dass Hexen dazu und noch zu ganz anderen Dingen fähig waren. In meiner Angst kam ich auch nicht auf die Idee, mich zu fragen, warum die Hexe mich bis zu diesem Tag nicht schon lange einmal verhext hatte.
Außer diesen vielen äußerlichen Übereinstimmungen gab es noch einige andere überzeugende Beweise für die Richtigkeit meiner Annahme, dass es sich bei Tante Emma, die natürlich keine Tante von mir war, um eine Hexe handeln müsse. Wenn wir Kinder im möglichst weiten Bogen um das Hexenhaus gingen, wusste immer irgendein Kind eine neue Hexengeschichte zu erzählen. Warzen und wunde Stellen hatte sie fortgehext, schlimme Krankheiten geheilt und bei Klaus Hauschildt, der im Spaß zu ihr gesagt hatte: „Wo geiht di dat, du olle Hex?“ ist zwei Tage später eine tragende Kuh auf der Weide verendet.
Ja mit Hexen war nicht zu spaßen. Hier und da nützen sie ja vielleicht; aber wehe, wenn sie es auf einen abgesehen haben. Siehst ja bei Klaus Hauschildt!
Und dann war da noch die Geschichte von unserem Nachbarn Bernhard Busch. Die Männer erzählten sie sich zu gerne, wenn sie schon einige Steinhäger im Dorfkrug bei Inge Hildebrandt am Küchentisch getrunken hatten. Ich habe sie selbst einmal gehört, als Mutter mich in den Krug geschickt hatte, um unseren Vater nach Hause zu holen. Da saßen die Väter meiner Spielkameraden und erzählten sich eine unheimliche Hexengeschichte über Tante Emma und Bernie Busch, die sie vor lautem Gelächter kaum zuende bringen konnten. Ich konnte nicht begreifen, was daran so lustig sein sollte, ging es doch um echte Hexerei und das in unserem Dorf und noch dazu in direkter Nachbarschaft unseres Hofes. Weil eben auch diese Geschichte ein eindeutiger Beweis für die Hexenkunst von Tante Emma darstellt, muss ich sie hier erzählen.
Bernie Busch, unser Nachbar, lebte unverheiratet mit einer oder zwei ebenfalls ledigen Schwestern auf unserem Nachbarhof. Ich kannte den Hof nur vom Vorbeigehen. Weil es keine Kinder dort gab und anscheinend auch keine nachbarschaftlichen Berührungspunkte, habe ich keine Erinnerungen daran, jemals bei Busch auf dem Hof gewesen zu sein. Die Buschs waren Sonderlinge und man erzählte sich im Dorf, dass es bei „denen“ ziemlich schlimm aussehen sollte, was immer das heißen sollte. Viel besser als die Bewohner kannte ich den Schäferhund des Hofes, der die Angewohnheit hatte, ganz oben im Giebel der Scheune mit heraushängenden Vorderpfoten in einem geöffneten Fenster zu liegen. Von seinem Platz aus hatte er die gesamte Dorfstraße bis zur ersten Kurve nach rechts oder links unter Kontrolle. Kam ich an dem Haus vorbei, setzte sofort ein heftiges Gekläffe ein, das mir Angst machte. Schön, dass der Hund nie auf der Dorfstraße  rumstromerte.
Dieser Nachbar, Bernhard Busch, litt immer heftiger unter zwei Warzen an der Fingerwurzel seiner rechten Hand. Zu jener Zeit wurden noch die meisten Arbeiten auf dem Hof mit Schaufel, Forke oder Hacke verrichtet. Immer wieder bluteten und schmerzten die Warzen. Da half auch kein Pflaster und zum Doktor ging man erst, wenn man kurz vor dem Sterben war. Als Bernie seiner Warzen irgendwann überdrüssig war, besann er sich auf die besonderen Fähigkeiten von Tante Emma. Die hat ihm dann verraten, wie er seine Warzen loswerden würde.  Bernie bekam von ihr den Auftrag, den nächsten Vollmond abzuwarten. Dann sollte er zwei Erbsen weich kochen und damit bei Mitternacht an das Stör Ufer gehen. Dort an der Stör -  bei unserem Dorf, kurz hinter der Quelle, nur ein Bach - sollte er sich mit dem Rücken zum Wasser hinstellen und genau um Mitternacht über jede Schulter eine von den weichgekochten Erbsen in den Fluss werfen.
Als es so weit war, der Vollmond schon hoch über der Lindenallee unseres Hofes stand, kochte Bernhard Busch seine Erbsen. Und, weil Erbsen keinen großen Wert darstellten und Bernie ein skeptischer Mensch war, hatte er eigenmächtig  die Dosierung erhöht. Nach dem Spruch: „Doppelt hält besser!“ kochte er sich vier Erbsen weich und begab sich damit auf unsere Störweide weit draußen vor dem Dorf. Bernie Busch befolgte alle Anweisungen der Hexe peinlich genau. Er machte trotz der kühlen Nachttemperaturen sogar seinen Oberkörper frei, wie es ihm Tante Emma aufgetragen hatte. Als er die Kirchenuhr von Gadeland zu Mitternacht schlagen hörte, drehte er sich mit dem Rücken zum Fluss, warf über jede Schulter zwei seiner mitgebrachten Erbsen, hörte in der Stille der Nacht sogar noch das zarte Geräusch der Erbsen beim Aufkommen auf der Wasseroberfläche. Er streifte sich zufrieden sein Hemd über und begab sich auf den Weg zurück zu seinem Hof.
In der folgenden Woche beobachtete der Bauer mit Freude, wie sich die Warzen an seinen Fingern zurückentwickelten. Er war zufrieden mit sich. So, wie es aussah, hatte er alles richtig gemacht. Zum Wochenende war dann die große Körperpflege fällig. Ein Badezimmer gab es nicht. Neben der Pumpe, auf einem kleinen Regal, lagen ein Stück Seife und Rasierzeug. Ein fleckiger Spiegel erinnerte Bernie Busch wöchentlich einmal daran, wie der Bauer auf dem Hof eigentlich aussieht. Immer am Sonnabend gönnte sich Bernie eine Rasur. Das war dann auch die Gelegenheit, sich von dem grauen Unterhemd zu trennen und ein paar Hände Wasser auf dem nackten Oberkörper und unter der Achsel zu verreiben. An diesem Sonnabend schien alles so wie immer zu sein. Als Bernie nach dem Entfernen des restlichen Rasierschaumes aus dem Gesicht einen Kontrollblick in den alten Spiegel warf, glaubte er seinen Augen nicht zu trauen. Dort wo sonst immer die zwei Brustwarzen waren, war nun nichts mehr.
Ja, die Hexe wird schon gewusst haben, warum sie ihm nur zwei weichgekochte Erbsen empfohlen hatte.
Die angetrunkenen Männer in Inge Hildebrandts Küche konnten sich kaum wieder einkriegen, als  die letzten Worte der Geschichte bereits unter dem dröhnenden Gelächter erstickten. Ich konnte nicht begreifen, was sie so komisch fanden. Schlimm war es eigentlich nicht, dass Bernie nun keine Brustwarzen mehr hatte, sie haben ja ohnehin keine Funktion bei uns Männern. Aber komisch war es auch nicht. Das, was da passiert war, war schließlich ein weiterer Beweis dafür, dass Tante Emma hexen konnte. Das sollte schließlich auch den Erwachsenen zu denken geben. Ich denke nun gerade wieder an die Kuh von Klaus Hauschildt.
Als ich einige Tage später wieder mit meiner Mutter unterwegs war, sah ich schon von weitem Tante Emma vor ihrem Haus. Ich zog an Mutters Hand und, als sie mich fragte, was los sei, sagte ich ihr, dass ich nun ganz sicher wüsste, dass Tante Emma eine Hexe sei. Sie nahm sich die Zeit, mich die Geschichte von Bernie Buschs weggehexten Brustwarzen erzählen zu lassen. Wahrscheinlich kannte sie die schon, lachte dennoch von Herzen und versuchte mir zu erklären, dass das doch nur eine Geschichte sei, die sich irgendeiner der Männer ausgedacht hatte. Ganz glauben mochte ich ihr nicht. Aber zumindest reichte ihre Erklärung, um meinen Widerstand zu brechen. Wir passierten gemeinsam den Garten von Emma und nichts Unheimliches geschah.
Wochen später, ich war schon Schulkind, widerfuhr mir, was alle Kinder im Dorf irgendwann einmal erlebten: Ich hatte mich im Stall mit dem Pilz der Kälberflechte infiziert. Leicht juckende Schorfplacken wuchsen zuerst auf den Händen und Armen später auch auf dem Oberkörper und im Gesicht. Nichts Schlimmes aber lästig. Als die Hausmittelchen (Senf aus der Tube) nicht helfen wollten und die Flechte sich immer weiter auszubreiten begann, fuhr meine Mutter mit mir auf dem Fahrrad  zu dem neuen Arzt in Gadeland. Herr Wiesner oder nur Herr Doktor versuchte es mit verschiedenen Salben und Tinkturen. Wir radelten einige Male nach Gadeland und die Flechte war immer dabei. Der Doktor war irgendwann am Ende mit seinem Latein und brachte die Konkurrenz ins Spiel. „Frau Petersen, kennen Sie nicht jemanden, der Krankheiten besprechen kann? Gerade bei Hauterkrankungen werden gute Erfolge erzielt.“ Als meine Mutter von Tante Emma erzählte, einer Frau in der Nachbarschaft von uns, die, wie ich ja wusste, sogar Warzen verschwinden lassen, Kühe sterben lassen und sicherlich auch Menschen verhexen konnte, war mir ziemlich klar, dass mein letztes Stündchen bald geschlagen hätte.
Es war keine schöne Zeit für mich, bis wir am nächsten Tag aufbrachen, um Tante Emma aufzusuchen. In meiner Kinderfantasie malte ich mir die schlimmsten Dinge aus. Auf der Schwelle des Hexenhauses drehte ich mich noch einmal um, als  wollte ich die Erinnerung von unserem Hof mit in eine andere, mir noch unbekannte Welt nehmen. In der Küche des Hexenhauses war es trotz der Glühlampe über dem Küchentisch nicht richtig hell. Das hing mit der Wattzahl der Glühlampe zusammen, wovon ich damals noch nichts wusste. Ich musste meinen Oberkörper frei machen und Tante Emma strich mit der Hand über meinen Körper, ohne ihn zu berühren. Dabei murmelte sie unverständliche Worte. Zu meinem großen Erstaunen trat keine spürbare Veränderung ein. Als ich mein Hemd wieder übergestreift hatte fühlte ich einmal ganz schnell mein Ohr, ob es vielleicht schon etwas länger geworden sei.
Nichts! Alles normal!
Auch zu Hause traten keine besorgniserregenden Veränderungen ein.
Aber dann entdeckten wir nach einigen Tagen, dass sich die Flechte zurückentwickelte. Nach einer Woche waren fast alle Flecken verschwunden. Tante Emma bekam einen Sack Kartoffeln für ihre erfolgreiche Tätigkeit. Mir wollten sie weismachen, dass Tante Emma keine Hexe sei, sondern eher eine Heilerin. Das könne man ja schließlich an meiner Heilung sehen. Für mich war es keine Heilung. Es war Hexerei, ein weiterer Beweis, dass Tante Emma hexen konnte. Gut, dass mein Vater den Sack Kartoffeln zu ihr gebracht hatte. Darüber hatte sie sich nämlich sehr gefreut. Vielleicht denkt sie später einmal daran, wenn sie vorhaben sollte, mich eigentlich in einen Stein zu verwandeln, es dann aber doch lieber zu lassen, weil die Kartoffeln ja so gut geschmeckt hatten.
Heute glaube ich schon lange nicht mehr an Hexerei und Tante Emma war natürlich auch keine Hexe. Aber, wie hat sie das bloß gemacht, damals mit den Warzen, der Kälberflechte und Großmutters Gürtelrose?
Keiner kann sagen, warum einige Menschen die Gabe haben bestimmte Erkrankungen ohne Medikamente zu heilen.
Oder ist da doch vielleicht ein ganz wenig Hexerei im Spiel?

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