Freitag, 9. Januar 2015

Nie wieder Pierre Cardin




Nicht ganz ohne Stolz erzähle ich gerne, dass ich noch nie bestohlen worden sei und das, obwohl ich selbst solche Orte bereist hatte, von deren Besuch die Reiseliteratur dringend abrät. Man muss eben nur die Augen offen halten und gewisse Regeln einhalten, dann  passiert einem auch nichts.

Und dann Rom! Tummelplatz für Bettler und Taschendiebe. So etwas weiß man doch, wenn man sich dort von einer Sehenswürdigkeit zur anderen bewegt!
Wir passen gegenseitig auf uns auf. An einer Unterführung wollen Frauen uns die Zukunft voraussagen. Zu zweit oder zu dritt umdrängen sie uns, eine Schar Kinder springt um uns herum.
„Nein, wir wollen nichts! No, no, no!!!“
„Pass auf deine Tasche auf“, sage ich. Meine Kameratasche habe ich fest unter den Arm geklemmt, die frei Hand tastet nach dem Portemonnaie in der vorderen Hosentasche.
Ulla wird von einer Frau am Arm gepackt und schreit sie wütend in bestem Deutsch an, dass es jetzt aber reiche. Erschrocken wenden sich die Frauen von uns ab.
Andernorts beobachten wir, dass sie erfolgreicher waren. Immer wieder ziehen arglose Gäste der Stadt mit einem Lächeln im Gesicht wegen der guten Weissagungen weiter. Später erst bemerken sie, dass ihnen etwas fehlt.
Ja, das weiß man aber doch!
Es ist mein dritter Besuch der Heiligen Stadt, und, toi, toi, toi! Nicht einmal bin ich bestohlen worden. Das macht selbstsicher, das nimmt die Angst und macht vielleicht auch ein wenig überheblich oder gar unvorsichtig?!

Letzter Tag in Rom. Der Flug geht erst am Abend von Fiumucciono, dem internationalen Flughafen vor den Toren Roms. Die Koffer sind in einem Schließfach deponiert und wir begeben uns mit unseren letzten Lira auf den Weg zu den Caracalla Thermen. Ein schöner Frühlingstag und wir genießen in den Vormittagsstunden die imposanten Ruinen des römischen Badepalastes bei Sonnenschein, frischem Grün und Vogelgezwitscher.
Was für ein schöner Reiseabschluss, wenn da nicht noch etwas zwischengekommen wäre.
Noch erfüllt von der Stimmung in den viele hundert Jahre alten Trümmern begeben wir uns auf einer breiten Straße mit einem mittigen, doppelten Parkstreifen unter mächtigen Pinien auf die Suche nach einer Bushaltestelle.
Ein Auto rollt neben uns auf den Parkstreifen und kommt neben uns zum Stehen. Die Scheibe wird heruntergelassen und ein Mann mittleren Alters spricht uns an:
„Scusi, signorina, signore ….“
Ich mache ihm auf Englisch und auf Deutsch klar, dass ich kein Italienisch kann.
„Oh pardon, iste keine Probleme. Spreke auch Deutsch. Meine Mama lebt in Frankefurte. Kommt aus Alemania? Welke Staad?“
„Nähe von Hamburg.“
„Hamburgo, ich liebe Hamburgo, schööne Staad, bella, bella Hamburgo!“
Er greift zum Beifahrersitz und hält uns einen Stadtplan von Rom unter die Augen.
„Habe Problemo, muss zu Vaticano, weiß nicht wo.“
Das ist ja nun wirklich nicht zu schwer nach einer Woche Rom. Schnell zeige ich ihm den Weg ohne Plan.
„Hier die Straße runter bis an den Tiber, dann rechts am Ufer entlang und die Brücke vor der Engelsburg nehmen. Dann kommen Sie direkt auf den Petersdom zu.“
„Ah, gracie, iste doch gar nicht so sweer. Komme gerade von Modemesse, Paris, Milano. Bin Agent von Pierre Cardin. Hier musste du schaueen, Jacken von Pierre Cardin. Musste du mitneehme nach Germania, machen Reklame in Hamburgo für Pierre Cardin!“
Er will mir die Plastiktasche mit den zwei Jacken geben.
„Das gibt es doch nicht“, sage ich zu mir und Ulla.
„Doch, doch! Reklame!“
Italiener! So sind sie, denke ich.
Da zeigt er uns blitzschnell seine Kreditkarte.
„Grande Problem, keine Benzine in Auto. Auto verrückt! Tankstelle nimmte keine carta di credito, könnt ihr mir geben Lira für Jacken von Pierre Cardin, serr günstig, ottimo, original Cardin für Sonderpreis, 120000 Lira!“
Und nun mein Fehler! Nicht im Entferntesten hatte ich vor irgendein Jackengeschäft zu tätigen, was Ulla mir wahrscheinlich  bis heute nicht glaubt. Ich ziehe mein Portemonnaie,  um dem quasselnden Handelsvertreter zu zeigen, dass da nichts drin ist. Das heißt, fast nichts. Gerade noch 90000 Lire und die brauchen wir noch für den Tag und den Transfer zum Aeroporto. Ich nehme die Banknoten, 3 X 10000 und 1 X 50000 in die Hand. Nein ich will keine Jacke kaufen.
„50000 brauchen wir, um zum Flughafen zu kommen, höchstens 30000 Lire hätten wir noch.“
Ich will wirklich nichts kaufen! Pierre Cardin!? Die Jacken sehen nach Strickjacken aus.
Da passiert etwas, was Ulla und ich nachher nicht mehr richtig nachvollziehen können, weil es viel zu schnell ablief. Der Italiener zieht aus meiner Hand 30000 Lire, greift eine Jacke aus der Tüte, drückt sie mir durchs geöffnete Fenster in die Hand, zieht mir die 50000 Lire auch noch aus der Hand und gibt mir 20000 von meinem Geld zurück. Bevor ich reagieren konnte, höre ich:
„Iste nur für eine Jacke, grazie!“
Mit Vollgas und leicht durchdrehenden Reifen verschwindet das Auto, übrigens mit römischem Kennzeichen, im dichten Mittagsverkehr der italienischen Hauptstadt.
„Spinnst du, warum hast du die Jacke gekauft!?“
Wir hatten eine so gute Zeit in Rom.
„Ich wollte doch gar nicht kaufen. Das musst du doch auch gesehen haben?“
„Aber wie konntest du ihm das Geld unter die Nase halten?“
„Konnte ich denn wissen, dass er es mir aus der Hand reißen würde?“
„Hättest es ja zurücknehmen können!“
„Ja, hast du denn nicht gesehen, wie schnell das alles ging? Ich bin reingelegt worden, ich glaube es nicht!“
Während ich noch meiner Verärgerung freien Lauf lasse, handelt Ulla praktisch und beginnt unsere Neuerwerbung von Pierre Cardin auszupacken.
„Die ziehst du nicht an! Oder du musst alleine gehen! Guck dir mal das Ding an, kann man ja nicht drauf gucken! Und, hast du mal dran gerochen?“
Ich sehe mir das gute, soeben für ungefähr 60 DM erworbene Stück an. Eine Schönheit ist es nicht. Bunte Strickärmel, braune Kunstlederelemente an den Ellenbogen und Schultern, zwei der stoffbezogenen Knöpfe sind von Rost verfärbt. Sicherlich ein Feuchtigkeitsschaden, Versicherungsfall und deswegen sehr günstig aufgekauft. Oben am Kragen finde ich ein kleines Schildchen mit dem Schriftzug „Made in Italy“. Mit Pierre Cardin war´s wohl auch nichts. Hätte mich auch gewundert, wenn der versucht hätte, diese Hässlichkeit zu verkaufen. Die Jacke „muffelt“, feuchter Keller?!
„Wir schmeißen sie weg, ich will sie nicht mitnehmen.“
So geht es ja auch nicht! Die Jacke hatte schließlich gut 60 DM gekostet. Ich nehme die Tragetüte und wir bewegen uns diskutierend zur Bushaltestelle. Wir müssen eine Bank aufsuchen, um unsere Lira Vorräte wieder aufzufrischen. An der Bushaltestelle nimmt Ulla mir die Jacke aus der Hand und stopft sie in den Papierkorb.
Nein, so geht das nicht. Als der Bus heranrollt, ziehe  ich die Jacke wieder aus dem Papierkorb. Im Bus droht  der Anfang einer stundenlangen, stummen  Eiszeit. Da bin ich dann schon ganz froh, dass Ulla wieder mit mir zu reden beginnt.
„Du willst die Jacke doch nicht anziehen?“
Nein, das wollte ich natürlich nicht. Aber ich habe ihr dann erklärt, dass wir in den letzten Tagen so viel Armut in der Stadt gesehen hätten und ich würde schon jemanden finden, dem ich eine Freude mit der Jacke machen kann. Zum Beispiel der junge Mann im Gang. Ja, der soll es sein! Ich drängle mich in seine Richtung und überlege mir dabei, wie ich es ihm sagen will. Ich will ihn gerade ansprechen, da hält der Bus und der Kerl springt raus. Ich arbeite mich zurück zu Ulla, die die Augen verdreht und genervt durch mich hindurchsieht.
Wir kommen an der Piazza Venezia an und steigen aus. Das hätte ich heute Morgen nicht gedacht, dass wir vor unserer Abfahrt noch einmal das monströse Denkmal für König Emanuele Vittorio II sehen würden. Hier gab es eine Bank in einer Nebenstraße.
Es gibt einfach Tage, die man hätte im Kalender überspringen sollen. Dieser machte jetzt schon den Eindruck, dass er zu dieser Sorte Tage zählt.
Schon in der Drehtür zum Schalterraum packt mich eine Hand. Ich drehe mich um und schaue in das Gesicht eines Carabinieri oder eines Mitgliedes eines Sicherheitsdienstes. Sein perfektes Italienisch änderte nichts daran, dass ich ihn einfach nicht verstehen konnte. Ich versuchte mit meinem Touristen Sprachmix zu reden, Ulla sieht mir mit einer Mischung aus Erstaunen und Entsetzen in die Augen. Die Öffnung der Drehtür zum Schalterraum zieht an uns vorüber und wir finden uns samt Sicherheitsmann im Vorraum der Bank wieder. Durch immer lautere Wiederholung  seiner unverständlichen Worte  glaubte er, unserem Sprachunvermögen ein Ende setzen zu können. Das hat natürlich nicht geklappt. Er drängt uns zu einer Wand mit Schließfächern, greift mach meiner Kameratasche und  berührt  damit einen empfindlichen Nerv bei mir. Während ich noch die Kamera wegziehe, verstehe  ich, was hier abgeht. Wir schließen Kamera, Handtasche, Rucksack und die Plastiktüte mit der Jacke von „Pierre Cardin“ in ein Schließfach ein.
Der Sicherheitsmann lächelt und klopft mir freundlich auf die Schulter, als will er sagen: „Na bitte, es geht doch!“
Wir haben noch Zeit, bis wir uns auf den Weg zum Flughafen machen müssen.
„Lass uns noch etwas zum Tiber runter gehen“, schlage ich vor der Bank vor.
Es gibt keinen Widerspruch.
Noch in der kleinen Nebenstraße sehe ich auf der gegenüberliegenden Straßenseite eine ältere, ärmlich gekleidete Frau. Die soll die Jacke bekommen, damit das Kapitel ein Ende hat. Ich wechsle die Straßenseite und beschleunige meinen Schritt, um die Frau mit ihren vielen Plastiktüten einzuholen. Kurz bevor ich sie erreiche verschwindet sie in einem Hauseingang.
Weg ist sie!
An der Einmündung der kleinen Gasse in den Corso Emanuele Vittorio II hole ich Ulla ein. Sie empfängt mich mit einem Blick, der keinerlei Missinterpretationen bezüglich ihrer Gedanken hinsichtlich meiner Mission zulässt.
Wir kommen unten an der Uferpromenade des Tibers an. Mehrere Verkehrsströme laufen hier zusammen. Wir sehen uns das Treiben an. Einige  Jungen stürmen bei roter Ampelschaltung zwischen die stehenden Autos und beginnen scheinbar ohne ein System Windschutzscheiben zu putzen. Katzenartig ziehen sie sich wieder auf den sicheren Bordstein zurück, wenn  die Ampel die Farbe wechselt. Manchmal bekommen sie ein paar Lira von den Fahrern, meistens gibt es nichts oder sie werden sogar noch beschimpft.
Arme Teufel. Bestimmt kann jemand von ihnen meine Jacke gebrauchen. Ulla hat genug gesehen, sie will weiter. Ich bitte sie noch zu warten, bis zur Jackenübergabe. Die Ampel springt auf Grün. Der da, der mit der orangefarbenen Nylonjacke, der soll meine Jacke bekommen. Ich habe mir zu viel Zeit bei der Auswahl  meines Almosenempfängers gelassen. Ich erreiche ihn gerade, da springt die Ampel wieder um. Ulla zieht mich mit energischem Druck über den Zebrastreifen auf die Tiber Brücke. Böse ist sie nicht. Vielleicht ist es ihr ein wenig peinlich?
Ich bin inzwischen bereit, mich einfach so von Pierre Cardins Jacke zu trennen, ohne weiterhin meine Samariterdienste anbieten zu wollen. Vielleicht findet ja jemand die Jacke, der oder die es bitternötig hat. Noch trage ich sie in der Plastiktüte mit mir.
Ein invalider Maroniröster sitzt am Anfang der Engelsbrücke. Der Duft von frischgerösteten Maronen zieht mir in die Nase. Ich will der Versuchung nicht länger widerstehen und begebe mich zu ihm hin. Ich weiß nicht, was mich geritten hat; aber in dem Moment, als er mir die Tüte mit den gerösteten Kastanien rüberreicht, habe ich einen Geschäftsplan: Ich bekomme die Maronen umsonst und diese arme Socke bekommt von mir eine warme Jacke (Pierre Cardin) im Wert von 60 DM.
Ich weiß bis heute nicht, womit ich den Mann derartig aufgeregt habe. Ich habe lediglich versucht, in einem mir durchaus passabel und verständlich klingendem Sprachmix mein Tauschgeschäft einzufädeln. Der Mann reißt mir die Maronentüte aus der Hand, bedroht mich mit seiner Krücke und schreit hinter mir her.  Nicht nur Ulla muss geglaubt haben, dass ich den armen Mann ausrauben wollte. Erstmals bin ich voller Verständnis für meine Frau. Mir ist es inzwischen auch ausgesprochen unangenehm, wie ich mich benehme.
Ich muss dringend einen „Reset“ machen, die Jacke muss weg und zwar ohne irgendwelche Bedingungen. Davon hängt zwar nicht der Weltfriede, aber, was fast ebenso bedeutend ist, unser Ehefrieden ab. In der Mitte der Engelsbrücke, starke Touristenströme bewegen sich auf der autofreien Brücke in beide Richtungen, lehne ich mich auf das Brückengeländer und mache ein paar Fotos von der mächtigen Engelsburg. Pierre Cardins Jacke ruht auf dem Boden am Fuße des Brückengeländers. Und da, so mein Plan, soll sie auch bleiben, wenn ich mich gleich zu Ulla begebe, um ihr von der erfolgreichen Trennungsgeschichte zu berichten. Kurz vor dem Ende der Brücke erreiche ich Ulla. Gerade will ich ihr die frohe Botschaft übermitteln, da holt mich das Schicksal ein.
Ein aufmerksamer Kameramann aus dem Fernsehteam vom Sender RAI II, das gerade auf der Engelsbrücke mit Filmaufnahmen beschäftigt war,  hat  gesehen, dass ich ohne meine  Plastiktüte weiter gegangen bin.
„Scusi, ….“
Mit einem Redeschwall, dem ich nicht annähernd gewachsen bin, drückt er mir freudestrahlend  mal auf die Tüte, mal auf die Engelsbrücke zeigend, meine „vergessene“ Jacke in die Hand.
„Grazie, signore,mille grazie,  danke, thank you, very nice, thank you.“
Der Mann  verschwindet  wieder auf die Brücke. Ulla und ich sehen uns an und brechen in schallendes Gelächter aus.
Dieser Moment war mindestens 40 DM, wenn nicht sogar 60 DM wert.
Wir queren die vierspurige Uferstraße. Am Ampelmast befindet sich ein Papierkorb, der schon randvoll ist. Ich presse die Tüte mit der ungeliebten Jacke in den Metallbehälter und wende mich erleichtert Ulla zu.
Hinter mir hupt ein Auto, eigentlich nicht ungewöhnlich in Rom. Ich drehe mich um. Der Autofahrer meint mich. Er lacht und zeigt zum Papierkorb. Die Tüte hat sich hinter meinem Rücken wieder entfaltet und die Jacke ist über den Behälterrand auf den Boden gefallen. Der Fahrer, der mich schon bei meinen Entsorgungsbemühungen  beobachtet hat, findet es seinem Lachen nach zu urteilen, wohl sehr witzig, dass all meine Mühe vergebens war.
Die Ampel springt um. Ich zucke mit der Schulter, gehe weiter. Das Auto fährt an mir vorüber, der Fahrer verabschiedet sich noch einmal mit der Hupe.
20 Minuten später, nach einer schönen Portion echten italienischen Speiseeises, bummeln wir wieder am Papierkorb vorüber.
„Sieh mal, Ulla, die Jacke ist weg!“
„Das hättest du schon heute Mittag haben können“, sagt sie in verschmitztem Ton.

Vier Wochen später sitzen wir auf Strohballen in einer Freiburger Scheune. Ein Landwirt hat uns eingeladen zu seinem Scheunenfest. Draußen geht ein kurzer aber heftiger Regenschauer runter. Alle Gäste, die bis eben noch draußen waren, suchen nun Schutz in der Scheune. Gegenüber, auf der anderen Seite der Scheune, stehen etwas erhöht Christa und Gerhard Beckmann.
Ich glaube meinen Augen nicht zu trauen und stoße Ulla an.
„Sieh mal, was Gerhard Beckmann an hat.“
„Wieso, was meinst du?“
„Na, die Jacke!“
Wir müssen lachen. Es ist genau die Jacke, die ich in Rom in den Papierkorb gestopft habe.
Gerhard kommt rüber zu uns. Wir stellen das Lachen ein.
„Na, habt ihr ordentlich Spaß? Habt  tscha tüchtich gelacht.“
„Ach ja“, sag ich, „warst du in letzter Zeit zufällig in Rom?“
„Nee, wieso?“
„Nur so!“
„Ach so!“

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