Weihnachten ohne Weihnachtsbaum? Ehrlich gesagt, ich kann es
mir kaum vorstellen. Weihnachtsbäume haben jedes meiner bislang 63 miterlebten
Weihnachtsfeste begleitet. Warum sollte das in diesem Jahr zu meinem 64. Weihnachtsfest
anders sein?
Ungefähr zwei Wochen vor dem Fest fahre ich bei Hans-Heinrich auf den Hof, um
etwas mit ihm abzusprechen. Hans-Heinrich steckt voll im
Weihnachtsbaumgeschäft. Ungefähr einen halben ha, südlich seines Hauses und
Gartens gelegen, bepflanzt er mit Weihnachtsbäumen. Die meisten Bäume sind
Douglasien, gelegentlich pflanzt er auch einige Fichten. Die sind nicht mehr in
Mode, aber, im Gegensatz zu den Douglasien verströmen sie den typischen
Fichtennadelduft, wenn sie zu Weihnachten in der geheizten Stube stehen. Nur
wenige Liebhaber, einer von ihnen bin ich, suchen noch nach Fichten.
Ole, der größte und gutmütigste aller Deutscher Schäferhunde, die ich
kenne, begrüßt mich als erster auf dem Rappschen Anwesen. Ich kann kaum die
Autotür aufbekommen, weil er sich davor aufgebaut hat und erst mit sanftem
Druck durch das Autoblech zur Seite weicht. Bevor ich Hans-Heinrich die Hand
gebe, muss Ole seine Kraueleinheiten bekommen.
„Geht los jetzt mit dem Baumverkauf“,
meint Hans-Heinrich mit Blick auf einige Tannenbäume, die an die
Verkaufsstellage gelehnt auf Käufer warten.
„Hast du noch ein paar Fichten im Bestand?“
Hans-Heinrich führt mich zur Schonung hinter dem Garten. Der Boden ist
sehr weich und ich muss aufpassen, dass nicht Wasser und Matsch oben in meine
Halbschuhe laufen. Er bleibt gleich zu Beginn der Plantage vor einem
Fichtengrüppchen stehen. Ich sehe sofort meinen Weihnachtsbaum 2014. Es stimmte
alles: Fichte, gerade und gleichmäßig
gewachsen und so groß, dass er den Raum zwischen Teppich und Zimmerdecke
komplett ausfüllen würde.
„Den nehme ich!“
Hans-Heinrich nimmt ein Namensschildchen mit Bindfaden aus der Tasche
seiner Arbeitsjacke, presst auf die für ihn typische Art seine Zungenspitze
zwischen die Lippen, so dass sie gerade eben herausschaut, und schreibt meinen
Namen mit dem Edding auf das Schild. Während er das Schildchen im oberen
Drittel an den stattlichen Baum befestigt, teilt er mir mit, dass sie den Baum
rechtzeitig vor dem Fest zu uns nach Hause bringen würden.
25 Euro, ein echter Freundschaftspreis. Auch, wenn Fichte nicht mehr
allzu hoch in der Beliebtheitsskala steht, müsste sie etwas teurer sein. Hans-Heinrich
ich danke dir.
Ich fahre vom Hof mit dem Gefühl, meinen Part für das Weihnachtsfest
zur vollsten Zufriedenheit erledigt zu haben. Es gibt noch andere Dinge im
Leben als Weihnachtsbäume. Bis der Baum geliefert wird, muss er mich nicht mehr
beschäftigen. Schön, dass alles geregelt ist.
Eine Woche vor dem Fest
Uschi ruft an und fragt, ob sie am Freitag vorbeikommen können. Sie
wollen ihre Tannenbäume aus Oederquart abholen. Klar können sie und wir
verabreden uns mittags zum Fisch.
Freitagvormittag, ich komme ins Haus.
„Das hättest du ruhig mit mir besprechen können“, meint Elke mit
vorwurfsvoller Stimme.
„Was?“
„Na, das mit dem Tannenbaum. Das kannst du doch nicht einfach so
entscheiden. Ich wollte in diesem Jahr keinen, ich will das nicht mehr mit den
Nadeln und sowieso, dafür, dass die Kerzen nur einmal am Heiligabend leuchten.
Ich will das nicht mehr und Ines will auch keinen Baum – höchstens einen ganz
kleinen.“
„Ich dachte doch nur… Wieso kommst du darauf? Ist der Tannenbaum hier?“
„Ja, Christian hat ihn gebracht und Susanne (unsere Haushaltshilfe) hat
ihn eben in den Schuppen getragen, damit er abtrocknen kann. Nein, wirklich,
ich will das nicht und finde es auch nicht gut, dass du einfach einen gekauft
hast, ohne vorher mit mir zu reden.“
Ich schweige, weiß nicht, was ich noch sagen soll. Viele Dinge gehen
mir durch den Kopf. Erinnerungen an die vielen Weihnachtsbäume, die ich in
meinem Leben erlebt habe, Kinderweihnacht selbst als Kind und später mit
unseren Kindern erlebt und das Bild, wie Anne ihren letzten Weihnachtsbaum um
das eine oder andere Schmuckteil ergänzte. Im Tageblatt hatte ich gelesen, dass
der Weihnachtsbaum in Deutschland einfach dazu gehört. „Selbst
Traditionsverweigerer stellen einen Nadelbaum auf“, stand dort zu lesen.
Und nun sollte es keinen Weihnachtsbaum geben? Soll ich mich
durchsetzen? Nein, auch keine Lösung, dann muckschen Ines und Elke die ganzen
Weihnachtstage rum. Ist es das wert? Nein, ich akzeptiere einfach, dass wir zu
den 10% aller deutschen Haushalte mit drei und mehr Personen zählen, die laut
Aussage der Schutzgemeinschaft Deutscher Wald keinen Weihnachtsbaum aufstellen.
Freitagmittag, meine Schwester Uschi und mein Schwager Norbert kommen
auf den Hof. Schon bald nach dem Essen müssen sie aufbrechen, um ihre beiden
Tannenbäume noch vor der Dämmerung in der Kajedeicher Schonung zu finden. Draußen
vor der Tür fragt Norbert nach einer Säge. Ich nehme sie im Schuppen vom Haken
und stolpere fast über meinen Weihnachtsbaum. Wozu brauche ich ihn? Zurückgeben
kann ich ihn auch nicht. Weihnachten, das Fest der Freude, warum nicht den Baum
verschenken?
„Könnte dieser Baum nicht für euch passen? Wir brauchen in diesem Jahr
keinen, Elke will´s nicht.“
Uschis Blick etwas ratlos als wollte sie sagen: „Spaß, oder?“
Kein Spaß und nach etwas Beratung, ob die Größe passen könnte, wurde
das Geschenk dankbar angenommen und auf dem Autodach verschnürt. Der 64.
Weihnachtsbaum in meinem Leben verschwindet hinter der Ausfahrt vom Grundstück
und muss Weihnachten ohne mich in Hamburg feiern.
Freitagnachmittag am Kaffeetisch.
„Und, was machen wir nun mit dem Baum?“
„Welchem Baum?“
„Dem draußen im Schuppen.“
„Da ist keiner mehr.“
„Und wieso nicht?“
„Weil ich ihn verschenkt habe.“
„Du hast unseren Baum einfach so verschenkt? An Uschi und Norbert?“
„Ja, du wolltest doch keinen.“
„Hab ja nicht gesagt, dass ich keinen will. Nur einen kleinen, nicht so
groß.“
„Nun ist er weg.“
Sonntag, wir fahren beim Gärtner vor, um noch eine Blume für Maria zu
kaufen. An der Hauswand lehnen einige Bäume, deren Spitzen mir höchstens bis
zur Schulter reichen. Elke sieht sie, verharrt mit den Augen eine Sekunde auf
den Weihnachtsbäumchen.
„Und, wenn wir so einen kleinen nehmen?“
Ich antworte nicht. Es arbeitet in meinem Kopf. Wie würde es mit einem
kleinen Baum aussehen? Ich werde mich mit Ines, unserer Tochter, beraten, sie
kommt am Dienstag.
Dienstagnachmittag, am Tag vor Weihnachten, ruft Hans-Heinrich an, um
etwas zu besprechen.
„Da kommen doch immer noch Leute und suchen einen Weihnachtsbaum, sogar
im Dunkeln.“
„Vielleicht komme ich auch noch, vielleicht morgen früh. Ich brauche
eventuell noch einen kleinen Baum.“
„Na, denn komm´ mal!“
Dienstagabend, der Zug kam etwas verspätet in Hemmoor an.
Weihnachtswetter: Böen bis hin zu Orkanstärke treiben den Regen waagerecht über
die Straße. Wir freuen uns, dass es im Auto warm und trocken ist.
„Ines, ich muss noch etwas mit dir besprechen. Wir haben in diesem Jahr
keinen Tannenbaum.“
„Na und, erwartest du nun einen Zusammenbruch, du weißt doch, dass es
mir nichts ausmacht. Das geht schon in Ordnung, allein aus ökologischer Sicht!“
Ja, aus ökologischer Sicht. Hatte ich noch gar nicht so gesehen. Im
Tageblatt stand, dass 24 Millionen Weihnachtsbäume im Jahr in Deutschland
verkauft würden. Bliebe es beim Weihnachtsfest ohne Baum bei uns, könnte ein
Baum ein weiteres Jahr lang Sauerstoff für die ohnehin schon viel zu belastete
Luft produzieren. Nur 23 Millionen und 999 Tausend verkaufte Weihnachtsbäume
würden das Tannenbaumgeschäft 2014 nicht wahrnehmbar belasten. Wir albern etwas
rum, bis ich doch noch einmal auf mein ursprüngliches Anliegen zurückkomme. Ich
erzähle ihr von dem Tannenbaum, den ich verschenkt habe und, dass ich auf Elkes
zaghaften Vorschlag, es doch einmal mit einem kleineren Baum zu versuchen,
nicht reagiert hätte, weil ich erst mit ihr, Ines, darüber sprechen wollte.
„Es ist so, Ines, ich habe den Baum verschenkt, weil ich dachte, dass
nicht ich es immer sein muss, der sich mit seinen Wünschen bezüglich
Weihnachtsbaum durchsetzt. Ich wollte nicht, dass es wegen des Baumes
Unstimmigkeiten zu Weihnachten gibt. Das ist mir die Angelegenheit dann doch
nicht wert.“
„Dann ist doch alles gut jetzt, oder!?“
„Eben nicht, Elke hat ja den Vorschlag gemacht, dass wir einen kleinen
Baum nehmen könnten, Ich habe darauf nicht reagiert. Hatte das Gefühl, dass sie
das nur vorgeschlagen hat, damit ich nicht traurig bin. Ich glaube, es ist
nicht ihr echter Wunsch. Sie will doch eigentlich überhaupt keinen Baum in der
Stube haben. Ich könnte ja noch einen von Hans-Heinrich holen aber dann muss
ich immer nur daran denken, dass der kleine Baum ein Kompromiss ist, den keiner
will.“
„Ich könnte damit leben.“
Dienstagabend beim Abendessen
„Ines, in diesem Jahr haben wir keinen Tannenbaum, Jörg hat ihn
verschenkt.“
„Hab schon gehört.“
„Er will auch keinen kleinen Baum. Habe ich ihm vorgeschlagen.“
„Ich kann auch ohne.“
„Und ich“, schalte ich mich in die Unterhaltung ein, „will es nun ohne
Weihnachtsbaum probieren.“
Heilig Abend, wir sitzen in der Küche und haben
ein köstliches Weihnachtsessen mit Rindsrouladen, Rot- und Rosenkohl,
Kartoffeln mit Sauce hinter uns. Die Rumpfbescherung steht bevor.
Rumpfbescherung, weil wir uns eigentlich nichts mehr schenken. Elke hat ein
paar Kleinigkeiten für Ines besorgt und Ines hat ein Geschenk für ihre Eltern
dabei. Außerdem hat Ines aus Berlin einige Gaben von Moni mitgebracht.
Bescherung ohne Tannenbaum, und sei sie noch so
abgespeckt, geht gar nicht. Aber so soll es nun einmal in diesem Jahr sein.
„Habt ihr eigentlich einen Schlüssel für Brauns
Haus?“
„Ja, haben wir.“
Pause
„Die sind doch bis morgen Mittag bei ihren
Kindern?“
„Ja.“
„Dann brauchen die doch keinen Tannenbaum.“
„Du meinst doch nicht …“
„Doch, wir gehen da jetzt rüber und leihen uns
den Weihnachtsbaum aus. Morgen früh bringen wir ihn zurück.“
„Ines, du spinnst!“
„Komm, Jörg, wir ziehen uns an und holen Brauns
Baum.“
Elke schüttelt den Kopf über die Spinnerei
ihrer Tochter und beginnt damit, die Küche aufzuräumen.
Während ich in die Stiefel steige und mir den
Mantel überwerfe kommen mir Zweifel.
„Ines, sollen wir wirklich?“
„Ja, wir sollen. Komm!“
Sie ist so entschlossen, Widerspruch ist zwecklos.
Wir verlassen das Haus, in den Häusern um uns herum feiern die Familien
Weihnachten. Nur bei Britta und Bernhard, drei Häuser weiter, ist alles
finster. Hoffentlich sieht uns jetzt niemand, denke ich noch, während ich die
Haustür aufschließe. In der Wohnstube finden wir den geschmückten
Weihnachtsbaum. Er sieht ein wenig anders aus, als wir es gewohnt sind, statt
echter Kerzen gibt es Elektrokerzen und auch sonst gibt es Baumschmuck, der uns
fremd ist. Insgesamt macht er einen etwas traurigen Eindruck, als spüre er,
dass er, obwohl Sinnbild für Weihnachten schlechthin, nun am Heiligen Abend
völlig unbeachtet in Brauns Wohnzimmer stehen muss. Ich öffne die Terrassentür
und wir stellen gemeinsam den Baum nach draußen. Lichter aus und alle Türen
wieder gewissenhaft schließen. Ob die Nachbarn, Owe und Gisela, etwas
mitbekommen haben? Vielleicht sind sie gerade bei Giselas Mutter? Soll ich sie
nicht doch lieber anrufen?
Elke ist noch in der Küche beschäftigt. Ines
und ich bugsieren das Bäumchen in unsere Wohnstube. Es scheint so, als sei
nichts beim Transport durch die Finsternis verloren gegangen.
„So“, meint Ines, „hier steht er richtig. Ist
doch die Stelle, wo wir ihn sonst auch immer haben. Stecker rein und „Oh,
Tannenbaum“ singen!“
Elke kommt in dem Moment in die Stube, als Ines
gerade ihre Gaben unter dem Baum ablegt.
„Was ist hier denn los? Wo kommt denn der Baum
her?“
„Von Brauns!“
„Ich glaube es nicht, spinnt ihr!?“
„Nein, ist doch alles optimal! Bei Brauns hat
er keine Aufgabe, du willst doch einen kleinen Baum, Jörg ist nicht ohne Baum
und für die Umwelt haben wir auch noch etwas getan!“
„Geht doch nicht! Brauns? Bernhard und Britta
kommen morgen doch wieder!“
„Dann ist der Baum auch wieder zurück. Ein
Leihbaum sozusagen. Entspann dich!“
Restweihnachten läuft nach Plan. Elke schüttelt
immer wieder den Kopf, wenn ihr Blick auf den geliehenen Weihnachtsbaum fällt.
Erster Weihnachtstag, noch vor dem Frühstück
stöpsel ich den Tannenbaum aus und schaffe ihn zurück in Brauns Wohnstube. Wie
stand er denn noch? Ach ja, mit dem Kabel zum Schrank. Noch ein Kontrollblick.
Täusche ich mich? Sieht der Baum nicht glücklicher aus als gestern? Scheint ihm
gut getan zu haben, der kleine Ausflug zu den Nachbarn. Es ist alles in
Ordnung, Brauns können nach Hause kommen. Auf der Straße kommen mir Gisela und Owe
entgegen.
„Frohe Weihnacht, hast du bei Brauns mal nach
dem Rechten gesehen?“
„Ja“, sag ich, „wollte nur mal sehen, ob jemand
den Tannenbaum geklaut hat.“
„Ja, ja, passiert ja so einiges. Aber ein geklauter
Tannenbaum wäre ja ´mal etwas Neues!“
Wir gehen unserer Wege nicht, ohne uns noch
einmal gegenseitig alles Gute zu wünschen.
Nein, denke ich für mich, geklaut war er ja nun
wirklich nicht – nur ausgeliehen und pünktlich wieder zurückgebracht.
Erster Weihnachtstag, nachmittags.
Es klingelt. Britta und Bernhard stehen vor der
Tür. Sie wünschen uns ein frohes Fest und wir bitten sie rein ins
„Weihnachtszimmer“. Britta blickt in die
Ecke, in der sonst immer unser Weihnachtsbaum steht.
„Oh, ihr habt wirklich keinen Tannenbaum. War
das nicht merkwürdig, Weihnachten ohne Weihnachtsbaum?“
„Nein, wir hatten ja einen.“
„Schon rausgeschmissen?“
„Nein wir hatten dieses Jahr einen Leihbaum.“
„Leihbaum?“
„Ja, einen Leihbaum, komplett geschmückt. Ist
aber schon wieder zurück.“ Grinsend ergänze ich: „Wenn er über 24 Stunden bei
uns steht gilt nämlich schon der Zweitagestarif.“
Britta und Bernhard blicken irritiert zu Elke, Elke
verdreht die Augen und zeigt mir einen Vogel.
Beim Abschied sagt Bernhard zu Britta: „Du,
Liebling, das mit dem Leihbaum wäre doch auch etwas für uns. Gerade, wenn wir
nächstes Jahr wieder unterwegs sind.“
Ich lache mit ihm, obwohl ich schon beim Lachen
denke:
„So geht es natürlich nicht, Familie Braun!
Wenn ihr euch erst nach Heilig Abend einen Leihbaum holt, woher auch immer, wo
können wir uns dann im nächsten Jahr unseren Leihbaum herholen!?“
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