Freitag, 9. Januar 2015

2003 - Das Jahr, in dem Weihnachten starb




Mein lieber Freund, du fragst mich, was ich meinte mit meinen Worten am vergangenen Donnerstag. Du fragtest mich, was ich von Weihnachten halte und ich antwortete dir:
„2003 war das Jahr, in dem Weihnachten starb.“
Du blicktest mich ratlos an und, weil sich mir plötzlich eine unerwartete Mitfahrgelegenheit bot, blieb ich dir eine Erklärung schuldig. Höre mich an und versuche zu verstehen, warum es dein Weihnachten für mich nicht mehr gibt.

Nach langer, schwerer Krankheit hat der Herr .....
So in etwa könnte der Anfang eines Nachrufes auf Weihnachten lauten –
wenn es denn einen gäbe.
Je älter ich werde, desto mehr drängt sich beim Gedanken an Weihnachten das Bild von der Krankengeschichte eines Menschen auf.
Ja, am Anfang da war er noch stark und gesund, der Mensch.
Weihnachten in frühester Kindheit, da war die Welt noch in Ordnung. Ein Tannenbaum vom Fußboden bis zur Decke geschmückt mit roten Kerzen, Lametta, kleinen hölzernen Anhängern, Strohsternen, Kugeln, Lebkuchenmännchen, Kringeln...
Geschenke unter dem Tannenbaum, die Riesenüberraschungen darstellten, selbstverständlich nichts als Freude auslösten. Und dann der „Bunte Teller“: Er war aus Pappe mit Tannenzweigen und Kerzen bedruckt und bis oben gefüllt mit Nüssen, Lebkuchen, Mandarinen, Kringeln, Feigen, Datteln, Marzipan und Keksen! Alles Dinge, die es sonst nicht gab und nun im Übermaß für ungewohnten Genuss und oftmals auch Magenverstimmung sorgten. Nach wenigen Stunden bereits gab es große Lücken auf dem Teller und nach zwei Tagen waren höchstens noch ein paar ausgetrocknete Honigkuchenstücke zurückgeblieben.
Ja, weißt du noch, die Kringel? Bitterschokolade mit kleinen, runden und bunten Streuseln drauf, Geleekringel in Grün, gelb, Orange oder tiefrot.
Weihnachten war die Geschichte von Jesu Geburt im zugigen Stall, dargestellt mit Krippenfiguren, vorgelesen aus dem Lukasevangelium oder als Krippenspiel einstudiert und am heiligen Abend in der Kirche aufgeführt.
Als Weihnachten noch gesund war, gab es noch einen richtigen Weihnachtsmann mit einem schönen roten Mantel mit Lammfell besetzt, mit schwarzen Lederstiefeln, einem echten Bart, einer Reisig Rute und einem Sack, der kein Plastikbeutel war.
Um diesen Mann und seine Gehilfen, das Christkind und vielleicht noch den Knecht Ruprecht bei Laune zu halten, wurden Gedichte aufgesagt und Weihnachtslieder gesungen.
Jawohl, es wurden Lieder gesungen, von allen in der Familie – auch von denen, die sonst nie sangen, weil sie sich für unmusikalisch hielten. Keiner zierte sich und alle kannten die Texte, ohne nach der ersten Hälfte der ersten Strophe in Gesumme zu verfallen.
Weihnachten begann mit der Adventszeit, mit Plätzchenbacken, Adventskranz und dem Stiefel vor der Tür am Nikolaustag. Weihnachten begann mit dem Duft von Fichtennadeln, Weihnachtsmusik mit Adventskalender,  feierlichem Adventskaffee und selbstgebackenen Keksen.
Warme Stuben und Kerzen brachten Gemütlichkeit in der unfreundlichen und dunklen Jahreszeit.
Kennst du noch den Geschmack der harten aber würzigen braunen Plätzchen auf mit Butter bestrichenem Weiß- oder Feinbrot?
Ja, so war Weihnachten, als es noch ganz gesund war, in der Mitte des letzten Jahrhunderts.

Wann und wie Weihnachten letztlich krank wurde ist nicht genau festzustellen. Die Krankheit kam über das Fest ohne anfangs als Krankheit erkannt zu werden, sie schlich sich förmlich in kleinsten Schritten ein.
Wann war es denn noch?
Vielleicht, als ich nicht mehr kritiklos hinnahm, was der Weihnachtsmann oder das Christkind zum Weihnachtsfest ins Haus brachten?
Waren die ersten Anzeichen vielleicht schon, dass ich Wünsche hatte und feststellen musste, dass sie nicht alle erfüllt wurden?
Unzufriedenheit und die schon bald einsetzenden Zweifel an der Existenz von Weihnachtsmann und Christkind sind zweifellos die ersten Anzeichen der später richtig schweren Krankheit. Mit der Gewissheit, dass die Gaben nicht vom Weihnachtsmann sondern den Eltern oder anderen netten Menschen stammten, hatte Weihnachten seinen ersten spürbaren und heftigen Krankheitsschub gehabt.
Tannenbaumkringel begannen schleichend ihre Faszination zu verlieren. Süßigkeiten auf den „Bunten Tellern“ trockneten ein und wurden irgendwann nach dem Fest entsorgt.
Das bevorstehende Ende Weihnachtens zeichnete sich ab, als in der Familie darüber diskutiert wurde, ob es einen Tannenbaum geben sollte oder nicht und, dass wir uns eigentlich nichts mehr schenken müssten.

Weihnachten – todkrank – aber doch nicht am Sterben?!
Was war es, was mir 2003 Weihnachten endgültig nahm?
Nun, im Jahre 2003, im Spätsommer, nahm ich erstmals bewusst wahr, wie der Handel erst ganz zaghaft und dann im Oktober schon sehr heftig versuchte, in mir Weihnachtsgefühle hervorzurufen. Ganz langsam begann es in meinem Supermarkt. Die ersten Paletten mit Spekulatiuskeksen,  Lebkuchen  und Marzipan zogen wohlplatziert die Aufmerksamkeit, auch meine, auf sich.
Moment mal, Lebkuchenherzen jetzt schon, in der ersten Septemberwoche?
Ich äußere gegenüber der neben mir stehenden Verkäuferin meine Überraschung und mein Unverständnis.
„Was sollen wir machen, der Kunde verlangt es.“
„Ich nicht!“
Sie zuckt mit der Schulter.
Tatsächlich bauen sich die Berge mit Weihnachtsgebäck stetig ab, um dann wieder mit neuer Ware auf Ursprungshöhe gebracht zu werden.
Der Kunde wünscht es eben so!
Ende Oktober bereits sehe ich erste Weihnachtsdekorationen, Lichterketten und Tannenbaumkerzen brennen. 
November: Kein Geschäft, keine Kommune kann sich dem Zwang entziehen, mit meist eher fantasieloser Deko auf der Weihnachtskonsumwelle mitzuschwimmen.
„Wollt ihr euren Vorgarten nicht etwas weihnachtlich schmücken?“
Wir wollen nicht und drohen mit unserer Ignoranz in eine Außenseitersituation zu geraten.
Die ersten Weihnachtsmänner sind in den Einkaufsstraßen zu sehen.
Ja! Richtig gelesen, Weihnachtsmänner!! Es gibt ihn nicht mehr, „den Weihnachtsmann“. Es gibt Weihnachtsmänner! An jeder Ecke, einer plünniger[1] und schäbiger kostümiert als der andere. Billigste Frotteemäntel mit weißen Kunststoffrändern, Jeans und Turnschuhe, die darunter hervorschauen.
Was für Menschen sind diese „Weihnachtsmänner“, die die Geschäftsstraßen in den Städten in Mengen bevölkern?
Sind sie noch Freudenspender, wenn sie lustlos drei Mal ihr „Ho,Ho,Ho“ aus der Tiefe ihres Brustkorbes herausstoßen?
Was wollen sie uns sagen mit diesem dreimaligen  „Ho, Ho, Ho“?
Früher, als Weihnachten noch nicht vor dem „Aus“ stand, da sprach der Weihnachtsmann noch in einer Sprache, die die Kinder verstanden. Er legte äußersten Wert auf ein hochwertiges Kostüm und bemühte sich, Freude zu verbreiten.
Freude verbreiten? Nein, das ist nicht die Aufgabe dieser armseligen Weihnachtsmänner. Konsum sollen sie anheizen und dabei sollen sie möglichst wenig Kosten verursachen.
Wen stören diese unkreativen, fantasielosen Handlanger derer, die uns und Weihnachten für ihren Profit schamlos missbrauchen?
Die Antwort: Niemanden! Und das macht mich traurig.
Dezember: Die Weihnachtsmanndichte in den Städten erhöht sich mit herannahendem Fest noch einmal erheblich. Außerdem kann ich mich nicht einmal in meinem EDEKA – Aktiv - Markt der ständigen Berieselung durch Weihnachtsmusik entziehen. Hinzu kommen die Weihnachtsmärkte allerorten. Sie sind austauschbar, wie die gesamten Fußgängerzonen, in denen sie aufgebaut sind. Das Karussell dreht 12 Stunden ohne Unterbrechung seine Runden begleitet von lauter Musik, Weihnachtsmusik natürlich.  Mütter, die mit ihren Kindern in der Stadt unterwegs sind, befinden sich im ständigen Kampf mit ihrem Nachwuchs. Nicht selten bekommen die Kleinen ihren Willen, ihre Karussellfahrt, weil den Müttern das Geschrei ihrer Kinder zwischen all den Menschen unangenehm ist. Für diese Kinder ist die Vorweihnachtszeit wie Kirmes oder Schützenfest. Ja, sogar noch schöner, weil mit etwas Glück vier Wochen Karussellfahren drin sind.
Abends irgendwann schweigt das Karussell, Bude für Bude schließt bis endlich nur noch die Punschstände geöffnet sind. Selten verirrt sich jemand dorthin, der Lust auf ein Heißgetränk hat, und dann weiter seinen Beschäftigungen nachgeht. Schon einmal aufgefallen, dass sich an diesen Buden Abend für Abend die gleichen Menschen nach Feierabend versammeln?
Armselige Menschen, die hier allabendlich ihren Kummer und Frust im Glühwein (natürlich „mit Schuss“) ertränken. Mir graut vor diesen Ansammlungen trauriger Menschen mit roten Mützen und oftmals roten Augen, die den Alkohol und Gleichgesinnte benötigen, um ihren Alltag bewältigen zu können. Wie traurig wird es erst, wenn sie im Anschluss an die „Punschseligkeit“ in ihre leeren Wohnungen kommen oder alkoholisiert ihren Familien zum Problem werden.
Immer noch Dezember:
Eine Weihnachtsfeier jagt die nächste. Im Kollegenkreis mit fröhlichem Julklapp.
Was wickle ich bloß Michaela Baukloh ein? Warum musste ausgerechnet ich sie ziehen???
Kegelverein:
Sehr originell in diesem Jahr das andere Julklapp mit Horrorgeschenken. Die Gelegenheit, mein Geschenk vom letzten Jahr wieder in den Umlauf zu bringen. Kam es vielleicht gar von Wilhelm Pentgraf, den ich in diesem Jahr beschenken sollte?
Der VdK, Ortsverein Friedeberg, erwartet wieder eine humorvolle Geschichte von mir und im Kindergarten soll ich zum x-ten Male den Weihnachtsmann machen. Der SPD - Ortsverein lädt zum Grünkohlessen und ist damit genau so originell, wie der Yachtclub Friedeberg, der nur zwei Tage später ebenfalls zum Grünkohl lädt. Freut sich der Wirt vom Friedeberger Hof, dass er nur einmal Grünkohl kochen muss. Zum Grünkohlessen des Heimatvereines Kleinhüll und Umgebung werde ich nicht gehen. Werde mich mit einer ausgedachten Weihnachtsfeier in Stade entschuldigen. Andernfalls könnte es mir mit dem Grünkohl so ergehen wie mit Salaten, die mit Balsamico Essig angerichtet werden. Von einem auf den anderen Tag konnte ich diese Salate nicht mehr riechen, geschweige denn essen.
Nein! Mit dem Grünkohl soll es nicht auch so weit kommen. Dafür esse ich ihn viel zu gerne!
Immer noch Dezember, bereits zweite Hälfte und immer noch keine Geschenke besorgt! Nicht schon wieder Notkäufe. Ich will diese schlecht gespielte Freude über ein halbherzig ausgesuchtes Geschenk nicht mehr ertragen.
Mein Freund, du erwähntest die Weihnachtsgottesdienste, auf die du nicht verzichten möchtest. Deren Besuch stellte ich schon vor 2003 ein. Ich konnte mich nicht mehr auf die Predigt konzentrieren, weil ich nur immer daran denken musste, was diese Menschen alle in die Kirche treibt. Das ganze Jahr sieht man sie dort nicht. Am Heiligabend soll es auf einmal nicht ohne Kirche gehen? Da sitzen sie nun, überlassen der Orgel, dem Pfarrer und einigen älteren Mütterchen die musikalische Gestaltung des Gottesdienstes. Kleine Kinder, viel zu jung, um begreifen zu können, was dort um sie herum geschieht, reagieren mit Geschrei und bisweilen sogar Getobe auf die ihnen unverständliche, sie überfordernde Situation. Eltern wollen nicht sehen und hören, was sich dort in ihrer Gegenwart abspielt.
Es gibt keinen Raum für Besinnung.
Jugendliche feixen in den Kirchenbänken, stecken die Köpfe über gerade eingegangene Meldungen auf dem Mobiltelefon zusammen. Nicht Weihnachten hat sie in die Kirche geführt. Sie kommen, weil der Pfarrer die Konfirmation in Frage stellt, wenn sie fern bleiben, oder, weil sie Julia und Dennis aus ihrer Klasse in der Rolle von Maria und Josef im Krippenspiel sehen wollen. Hemmungslos wird während des Gottesdienstes fotografiert, besonders heftig natürlich während des Krippenspieles. Julia und Dennis sind noch nicht wieder zu Hause, da schwirren bereits Fotos von ihnen versehen mit hämischen und verletzenden Kommentaren durch das weltweite Netz.
Gut, dass mir das noch eingefallen ist. Krippenspiel! Nein, mein Freund, ich möchte keine Krippenspiele mehr ansehen. Lieblose Kostümierung, langweilig vorgetragener Text, schräges Flötenspiel, … da entschädigt auch nicht ein tölpeliger Josef, der über ein Schaf ungewollt direkt in die Arme der verschreckten Maria fällt und damit völlig unbeabsichtigt für ausgelassene Heiterkeit im Kirchenschiff sorgt.
 „Alles hat seine Zeit“, steht in der heiligen Schrift beim Prediger Salomo. Weihnachten, wie es sich heute darstellt, hat für mich seine Zeit gehabt. Ich brauche dieses Weihnachten nicht mehr. Lasst euch nur weiter manipulieren und bevormunden von denen, die Weihnachten -  und euch natürlich - schamlos missbrauchen, allein um Umsätze und Gewinne alljährlich auf ein Neues zu steigern.   Macht, was ihr wollt; aber ich bin nicht mehr dabei!
Ja, euer Weihnachten ist 2003 für mich gestorben. Mein Weihnachten kennt keinen Vorweihnachtsstress mehr. Mein Weihnachten lebt von schönen Erinnerungen an längst vergangene Zeiten, lebt von Ruhe, Ausgeglichenheit und Besinnlichkeit im Kreise der Familie oder guter Freunde. Gutes Essen darf ruhig auch dabei sein. Es ist frei von Zwängen, lebt von der Reflektion des Jahres und dem Nachdenken darüber, welchen kleinen Teil ich zur Schaffung einer besseren Welt beitragen kann.
Und, mein Freund, was soll ich sagen, ich vermisse nichts.


[1] „plünnig“ kommt aus dem Niederdeutschen und leitet sich von dem Substantiv „Plünnen“ (abgetragene, ausrangierte Kleidung) ab.

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