„2003
war das Jahr, in dem Weihnachten starb.“
Du
blicktest mich ratlos an und, weil sich mir plötzlich eine unerwartete
Mitfahrgelegenheit bot, blieb ich dir eine Erklärung schuldig. Höre mich an und
versuche zu verstehen, warum es dein Weihnachten für mich nicht mehr gibt.
Nach
langer, schwerer Krankheit hat der Herr .....
So in etwa könnte der Anfang eines Nachrufes auf
Weihnachten lauten –
wenn es denn einen gäbe.
Je älter ich werde, desto mehr drängt sich beim Gedanken an
Weihnachten das Bild von der Krankengeschichte eines Menschen auf.
Ja,
am Anfang da war er noch stark und gesund, der Mensch.
Weihnachten
in frühester Kindheit, da war die Welt noch in Ordnung. Ein Tannenbaum vom
Fußboden bis zur Decke geschmückt mit roten Kerzen, Lametta, kleinen hölzernen
Anhängern, Strohsternen, Kugeln, Lebkuchenmännchen, Kringeln...
Geschenke
unter dem Tannenbaum, die Riesenüberraschungen darstellten, selbstverständlich
nichts als Freude auslösten. Und dann der „Bunte Teller“: Er war aus Pappe mit
Tannenzweigen und Kerzen bedruckt und bis oben gefüllt mit Nüssen, Lebkuchen,
Mandarinen, Kringeln, Feigen, Datteln, Marzipan und Keksen! Alles Dinge, die es
sonst nicht gab und nun im Übermaß für ungewohnten Genuss und oftmals auch
Magenverstimmung sorgten. Nach wenigen Stunden bereits gab es große Lücken auf
dem Teller und nach zwei Tagen waren höchstens noch ein paar ausgetrocknete
Honigkuchenstücke zurückgeblieben.
Ja,
weißt du noch, die Kringel? Bitterschokolade mit kleinen, runden und bunten
Streuseln drauf, Geleekringel in Grün, gelb, Orange oder tiefrot.
Weihnachten
war die Geschichte von Jesu Geburt im zugigen Stall, dargestellt mit
Krippenfiguren, vorgelesen aus dem Lukasevangelium oder als Krippenspiel
einstudiert und am heiligen Abend in der Kirche aufgeführt.
Als
Weihnachten noch gesund war, gab es noch einen richtigen Weihnachtsmann mit
einem schönen roten Mantel mit Lammfell besetzt, mit schwarzen Lederstiefeln,
einem echten Bart, einer Reisig Rute und einem Sack, der kein Plastikbeutel
war.
Um
diesen Mann und seine Gehilfen, das Christkind und vielleicht noch den Knecht
Ruprecht bei Laune zu halten, wurden Gedichte aufgesagt und Weihnachtslieder
gesungen.
Jawohl,
es wurden Lieder gesungen, von allen in der Familie – auch von denen, die sonst
nie sangen, weil sie sich für unmusikalisch hielten. Keiner zierte sich und
alle kannten die Texte, ohne nach der ersten Hälfte der ersten Strophe in
Gesumme zu verfallen.
Weihnachten
begann mit der Adventszeit, mit Plätzchenbacken, Adventskranz und dem Stiefel
vor der Tür am Nikolaustag. Weihnachten begann mit dem Duft von Fichtennadeln,
Weihnachtsmusik mit Adventskalender,
feierlichem Adventskaffee und selbstgebackenen Keksen.
Warme
Stuben und Kerzen brachten Gemütlichkeit in der unfreundlichen und dunklen
Jahreszeit.
Kennst
du noch den Geschmack der harten aber würzigen braunen Plätzchen auf mit Butter
bestrichenem Weiß- oder Feinbrot?
Ja,
so war Weihnachten, als es noch ganz gesund war, in der Mitte des letzten
Jahrhunderts.
Wann
und wie Weihnachten letztlich krank wurde ist nicht genau festzustellen. Die
Krankheit kam über das Fest ohne anfangs als Krankheit erkannt zu werden, sie
schlich sich förmlich in kleinsten Schritten ein.
Wann
war es denn noch?
Vielleicht,
als ich nicht mehr kritiklos hinnahm, was der Weihnachtsmann oder das
Christkind zum Weihnachtsfest ins Haus brachten?
Waren
die ersten Anzeichen vielleicht schon, dass ich Wünsche hatte und feststellen
musste, dass sie nicht alle erfüllt wurden?
Unzufriedenheit
und die schon bald einsetzenden Zweifel an der Existenz von Weihnachtsmann und
Christkind sind zweifellos die ersten Anzeichen der später richtig schweren
Krankheit. Mit der Gewissheit, dass die Gaben nicht vom Weihnachtsmann sondern
den Eltern oder anderen netten Menschen stammten, hatte Weihnachten seinen
ersten spürbaren und heftigen Krankheitsschub gehabt.
Tannenbaumkringel
begannen schleichend ihre Faszination zu verlieren. Süßigkeiten auf den „Bunten
Tellern“ trockneten ein und wurden irgendwann nach dem Fest entsorgt.
Das
bevorstehende Ende Weihnachtens zeichnete sich ab, als in der Familie darüber
diskutiert wurde, ob es einen Tannenbaum geben sollte oder nicht und, dass wir
uns eigentlich nichts mehr schenken müssten.
Weihnachten
– todkrank – aber doch nicht am Sterben?!
Was
war es, was mir 2003 Weihnachten endgültig nahm?
Nun,
im Jahre 2003, im Spätsommer, nahm ich erstmals bewusst wahr, wie der Handel
erst ganz zaghaft und dann im Oktober schon sehr heftig versuchte, in mir
Weihnachtsgefühle hervorzurufen. Ganz langsam begann es in meinem Supermarkt.
Die ersten Paletten mit Spekulatiuskeksen, Lebkuchen
und Marzipan zogen wohlplatziert die Aufmerksamkeit, auch meine, auf
sich.
Moment
mal, Lebkuchenherzen jetzt schon, in der ersten Septemberwoche?
Ich
äußere gegenüber der neben mir stehenden Verkäuferin meine Überraschung und mein
Unverständnis.
„Was
sollen wir machen, der Kunde verlangt es.“
„Ich
nicht!“
Sie
zuckt mit der Schulter.
Tatsächlich
bauen sich die Berge mit Weihnachtsgebäck stetig ab, um dann wieder mit neuer
Ware auf Ursprungshöhe gebracht zu werden.
Der
Kunde wünscht es eben so!
Ende
Oktober bereits sehe ich erste Weihnachtsdekorationen, Lichterketten und
Tannenbaumkerzen brennen.
November:
Kein Geschäft, keine Kommune kann sich dem Zwang entziehen, mit meist eher
fantasieloser Deko auf der Weihnachtskonsumwelle mitzuschwimmen.
„Wollt
ihr euren Vorgarten nicht etwas weihnachtlich schmücken?“
Wir
wollen nicht und drohen mit unserer Ignoranz in eine Außenseitersituation zu
geraten.
Die
ersten Weihnachtsmänner sind in den Einkaufsstraßen zu sehen.
Ja!
Richtig gelesen, Weihnachtsmänner!! Es gibt ihn nicht mehr, „den
Weihnachtsmann“. Es gibt Weihnachtsmänner! An jeder Ecke, einer plünniger[1]
und schäbiger kostümiert als der andere. Billigste Frotteemäntel mit weißen
Kunststoffrändern, Jeans und Turnschuhe, die darunter hervorschauen.
Was
für Menschen sind diese „Weihnachtsmänner“, die die Geschäftsstraßen in den
Städten in Mengen bevölkern?
Sind
sie noch Freudenspender, wenn sie lustlos drei Mal ihr „Ho,Ho,Ho“ aus der Tiefe
ihres Brustkorbes herausstoßen?
Was
wollen sie uns sagen mit diesem dreimaligen „Ho, Ho, Ho“?
Früher,
als Weihnachten noch nicht vor dem „Aus“ stand, da sprach der Weihnachtsmann
noch in einer Sprache, die die Kinder verstanden. Er legte äußersten Wert auf
ein hochwertiges Kostüm und bemühte sich, Freude zu verbreiten.
Freude
verbreiten? Nein, das ist nicht die Aufgabe dieser armseligen Weihnachtsmänner.
Konsum sollen sie anheizen und dabei sollen sie möglichst wenig Kosten
verursachen.
Wen
stören diese unkreativen, fantasielosen Handlanger derer, die uns und
Weihnachten für ihren Profit schamlos missbrauchen?
Die
Antwort: Niemanden! Und das macht mich traurig.
Dezember:
Die Weihnachtsmanndichte in den Städten erhöht sich mit herannahendem Fest noch
einmal erheblich. Außerdem kann ich mich nicht einmal in meinem EDEKA – Aktiv -
Markt der ständigen Berieselung durch Weihnachtsmusik entziehen. Hinzu kommen die
Weihnachtsmärkte allerorten. Sie sind austauschbar, wie die gesamten
Fußgängerzonen, in denen sie aufgebaut sind. Das Karussell dreht 12 Stunden
ohne Unterbrechung seine Runden begleitet von lauter Musik, Weihnachtsmusik
natürlich. Mütter, die mit ihren Kindern
in der Stadt unterwegs sind, befinden sich im ständigen Kampf mit ihrem
Nachwuchs. Nicht selten bekommen die Kleinen ihren Willen, ihre Karussellfahrt,
weil den Müttern das Geschrei ihrer Kinder zwischen all den Menschen unangenehm
ist. Für diese Kinder ist die Vorweihnachtszeit wie Kirmes oder Schützenfest.
Ja, sogar noch schöner, weil mit etwas Glück vier Wochen Karussellfahren drin sind.
Abends
irgendwann schweigt das Karussell, Bude für Bude schließt bis endlich nur noch
die Punschstände geöffnet sind. Selten verirrt sich jemand dorthin, der Lust
auf ein Heißgetränk hat, und dann weiter seinen Beschäftigungen nachgeht. Schon
einmal aufgefallen, dass sich an diesen Buden Abend für Abend die gleichen
Menschen nach Feierabend versammeln?
Armselige
Menschen, die hier allabendlich ihren Kummer und Frust im Glühwein (natürlich
„mit Schuss“) ertränken. Mir graut vor diesen Ansammlungen trauriger Menschen
mit roten Mützen und oftmals roten Augen, die den Alkohol und Gleichgesinnte
benötigen, um ihren Alltag bewältigen zu können. Wie traurig wird es erst, wenn
sie im Anschluss an die „Punschseligkeit“ in ihre leeren Wohnungen kommen oder
alkoholisiert ihren Familien zum Problem werden.
Immer
noch Dezember:
Eine
Weihnachtsfeier jagt die nächste. Im Kollegenkreis mit fröhlichem Julklapp.
Was
wickle ich bloß Michaela Baukloh ein? Warum musste ausgerechnet ich sie
ziehen???
Kegelverein:
Sehr
originell in diesem Jahr das andere Julklapp mit Horrorgeschenken. Die
Gelegenheit, mein Geschenk vom letzten Jahr wieder in den Umlauf zu bringen.
Kam es vielleicht gar von Wilhelm Pentgraf, den ich in diesem Jahr beschenken
sollte?
Der
VdK, Ortsverein Friedeberg, erwartet wieder eine humorvolle Geschichte von mir und
im Kindergarten soll ich zum x-ten Male den Weihnachtsmann machen. Der SPD - Ortsverein
lädt zum Grünkohlessen und ist damit genau so originell, wie der Yachtclub
Friedeberg, der nur zwei Tage später ebenfalls zum Grünkohl lädt. Freut sich
der Wirt vom Friedeberger Hof, dass er nur einmal Grünkohl kochen muss. Zum
Grünkohlessen des Heimatvereines Kleinhüll und Umgebung werde ich nicht gehen. Werde
mich mit einer ausgedachten Weihnachtsfeier in Stade entschuldigen. Andernfalls
könnte es mir mit dem Grünkohl so ergehen wie mit Salaten, die mit Balsamico
Essig angerichtet werden. Von einem auf den anderen Tag konnte ich diese Salate
nicht mehr riechen, geschweige denn essen.
Nein!
Mit dem Grünkohl soll es nicht auch so weit kommen. Dafür esse ich ihn viel zu
gerne!
Immer
noch Dezember, bereits zweite Hälfte und immer noch keine Geschenke besorgt!
Nicht schon wieder Notkäufe. Ich will diese schlecht gespielte Freude über ein
halbherzig ausgesuchtes Geschenk nicht mehr ertragen.
Mein
Freund, du erwähntest die Weihnachtsgottesdienste, auf die du nicht verzichten
möchtest. Deren Besuch stellte ich schon vor 2003 ein. Ich konnte mich nicht
mehr auf die Predigt konzentrieren, weil ich nur immer daran denken musste, was
diese Menschen alle in die Kirche treibt. Das ganze Jahr sieht man sie dort
nicht. Am Heiligabend soll es auf einmal nicht ohne Kirche gehen? Da sitzen sie
nun, überlassen der Orgel, dem Pfarrer und einigen älteren Mütterchen die
musikalische Gestaltung des Gottesdienstes. Kleine Kinder, viel zu jung, um
begreifen zu können, was dort um sie herum geschieht, reagieren mit Geschrei
und bisweilen sogar Getobe auf die ihnen unverständliche, sie überfordernde
Situation. Eltern wollen nicht sehen und hören, was sich dort in ihrer
Gegenwart abspielt.
Es
gibt keinen Raum für Besinnung.
Jugendliche
feixen in den Kirchenbänken, stecken die Köpfe über gerade eingegangene
Meldungen auf dem Mobiltelefon zusammen. Nicht Weihnachten hat sie in die
Kirche geführt. Sie kommen, weil der Pfarrer die Konfirmation in Frage stellt,
wenn sie fern bleiben, oder, weil sie Julia und Dennis aus ihrer Klasse in der
Rolle von Maria und Josef im Krippenspiel sehen wollen. Hemmungslos wird
während des Gottesdienstes fotografiert, besonders heftig natürlich während des
Krippenspieles. Julia und Dennis sind noch nicht wieder zu Hause, da schwirren
bereits Fotos von ihnen versehen mit hämischen und verletzenden Kommentaren
durch das weltweite Netz.
Gut,
dass mir das noch eingefallen ist. Krippenspiel! Nein, mein Freund, ich möchte
keine Krippenspiele mehr ansehen. Lieblose Kostümierung, langweilig
vorgetragener Text, schräges Flötenspiel, … da entschädigt auch nicht ein
tölpeliger Josef, der über ein Schaf ungewollt direkt in die Arme der
verschreckten Maria fällt und damit völlig unbeabsichtigt für ausgelassene
Heiterkeit im Kirchenschiff sorgt.
„Alles hat seine Zeit“, steht in der heiligen
Schrift beim Prediger Salomo. Weihnachten, wie es sich heute darstellt, hat für
mich seine Zeit gehabt. Ich brauche dieses Weihnachten nicht mehr. Lasst euch nur weiter manipulieren
und bevormunden von denen, die Weihnachten -
und euch natürlich - schamlos missbrauchen, allein um Umsätze und
Gewinne alljährlich auf ein Neues zu steigern.
Macht, was ihr wollt; aber ich bin nicht mehr dabei!
Ja,
euer Weihnachten ist 2003 für mich
gestorben. Mein Weihnachten kennt
keinen Vorweihnachtsstress mehr. Mein Weihnachten lebt von schönen Erinnerungen
an längst vergangene Zeiten, lebt von Ruhe, Ausgeglichenheit und Besinnlichkeit
im Kreise der Familie oder guter Freunde. Gutes Essen darf ruhig auch dabei
sein. Es ist frei von Zwängen, lebt von der Reflektion des Jahres und dem
Nachdenken darüber, welchen kleinen Teil ich zur Schaffung einer besseren Welt
beitragen kann.
Und,
mein Freund, was soll ich sagen, ich vermisse nichts.
[1] „plünnig“ kommt aus dem
Niederdeutschen und leitet sich von dem Substantiv „Plünnen“ (abgetragene,
ausrangierte Kleidung) ab.
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