Kein gutes
Zeichen, wenn man „Stimmen hört“. So jedenfalls bei uns im Norden. Besonders
noch, wenn niemand sonst diese Stimmen hört.
Ulla hatte
damals noch ein ausgezeichnetes Gehör und einen leichten Schlaf gerade in der
Zeit, als die Kinder noch klein waren. Wir waren aus dem Ort herausgezogen,
hatten ein Haus in damals noch einsamer Randlage gebaut. Es war das erste Haus
in einem gerade neuerschlossenen Baugebiet, umgeben von hohen Bäumen und nur
wenige Meter von einer größeren Wasserfläche entfernt. Die Natur um uns herum
war voller Geräusche, die sich uns erst nach und nach erklärten.
Nichts für
Menschen mit leichtem Schlaf.
„Hast du das
gehört? Da ist etwas!“
Natürlich
hatte ich nichts gehört oder ich konnte die Geräusche der Nacht schnell
erklären, weil ich sie von den vielen Nächten, die ich in der freien Natur
verbracht hatte, kannte.
Es war in
einer Spätsommernacht, der Duft des Strohs auf dem frisch abgedroschenen Acker
gelangte durch das geöffnete Fenster bis ins Schlafzimmer.
„Hör ´mal,
da sind Stimmen!“ Ulla flüsterte als müsste sie Angst haben, dass sie gehört
werden könnte.
Noch völlig
verschlafen kann ich beim besten Willen keine Stimmen vernehmen.
„Wo hörst du
Stimmen?“
„Jetzt sind
sie weg; aber eben waren sie noch da, Männerstimmen. Ich habe sie deutlich
gehört.“
„Vielleicht
Nachtangler“, sagte ich und drehte mich wieder auf die Seite.
„Sie kamen
aber nicht vom Wasser, vielleicht vom Mühlenweg.“
Tage später,
an einem ungewöhnlich lauen Abend saßen wir noch beim Schein eines Windlichtes
auf der Terrasse. Die Mähdrescher hatten bereits ihre Arbeit wegen des
einsetzenden Taus eingestellt und außer einem Käuzchen, dem Platschen eines
springenden Fisches oder einem fernen Motorengeräusch herrschte Stille.
„Hörst du,
da sind Stimmen!“
Tatsächlich
hörte ich Stimmen vom Mühlenweg her. Sie wurden lauter und lauter. Geräusche
von Fahrrädern, ein Pedal quietschte bei jeder Umdrehung, durch die Bäume sahen
wir ein Licht vorbeigleiten und schon entfernten sich die Stimmen und Geräusche
bis sie nicht mehr zu hören waren.
„Das waren
die Stimmen, die ich neulich gehört hatte, genau die Stimmen!“ Aus ihrer Art zu
sprechen klang heraus: „Siehst du, ich habe doch nicht gesponnen, als ich dich
weckte. Da waren wirklich Stimmen.“
Ja, es waren
wirklich Stimmen in einer Nacht vom Sonnabend auf den Sonntag. Was macht eine
Gruppe von wahrscheinlich Männern nachts auf dem Mühlenweg? Ein asphaltierter
Verbindungsweg, der sonst höchstens von den Landwirten benutzt wird, um zu
ihren Äckern zu gelangen. Ein Licht nur aber deutlich mehrere unterschiedliche
Stimmen, nichts Beunruhigendes, eben nur nicht zu verstehen.
Einige
Wochen später bin ich wie jeden Tag vor dem Schlafengehen noch einmal mit dem
Hund vor die Tür gegangen. Die Dunkelheit machte mir nichts, es war nicht so
finster, dass man den Weg nicht erkennen konnte. Es regnete und stürmte. Auf dem Mühlenweg höre ich durch das Geräusch
des Windes und Regens Stimmen, die sich schnell nähern. Ich verlasse den
Mühlenweg und stelle mich hinter ein paar Bäume vielleicht 20 Meter entfernt.
Der Hund hat schon lange gehört, dass sich Menschen nähern. Er steht neben mir,
den Kopf aufmerksam in die Richtung der Stimmen gewandt. Ein Licht bewegt sich
über den Weg auf uns zu. Gegen den helleren Nachthimmel zeichnen sich mehrere
Silhouetten radelnder Personen ab. Sie befinden sich in einem lauten, lebhaften
Gespräch, von dem ich kein Wort verstehe. Die Stimmen und Fahrradgeräusche, ich
erkannte das quietschende Pedal wieder, verschwinden so schnell in der Nacht,
wie sie gekommen waren. Der Hund zog schon die ganze Zeit an der Leine, wundert
mich, dass er still gehalten hatte, bewegte sich zum Mühlenweg. Stimmen konnte
ich nicht mehr hören; aber das einsame Fahrradlicht war noch gut zu sehen, bis
es endlich hinter einer Kurve verschwand.
Was bewegt
diese vermutlich jungen Männer am Wochenende, es war wieder ein
Wochenende, mit klapprigen Fahrrädern
ohne Licht durch Sturm und Regen zu radeln?
Zurück im
Haus bekommt der Hund sein Futter und ich begebe mich ins bereits dunkle
Schlafzimmer. Ulla dreht sich zur Seite. Schläft sie vielleicht noch nicht?
„Ich habe
die Stimmen getroffen, eben, auf dem Mühlenweg“, sagte ich mit gedämpfter
Stimme, um herauszufinden, ob sie wohl schon schläft.
„Lass mich,
ich schlaf schon.“
Mir gehen
die Stimmen nicht aus dem Kopf. Ausländische Stimmen, vielleicht türkische?
Wohin fahren sie mit ihren wenig verkehrssicheren Fahrrädern? Kommen sie auch
einmal wieder zurück? Wann? Woher?
Irgendwann
fiel ich in den Schlaf, ohne eine Antwort gefunden zu haben.
Ulla schlief
schon lange. Seit sie mich überzeugt hatte, dass sie keine Phantomstimmen
gehört hatte, und klar war, dass die Stimmen nicht ums Haus schlichen, sondern
lediglich auf dem Mühlenweg vorbeiradelten, waren sie kein Thema mehr, und,
dass diese Stimmen nun ein Thema für mich waren, interessierte sie nur mäßig.
Über Wochen
und Monate hörte ich nachts nun die Stimmen. Draußen mit dem Hund oder durch
das geöffnete Schlafzimmerfenster. Antworten auf meine Fragen hatte ich immer
noch nicht gefunden. Stattdessen ergab sich eine weitere Frage.
Warum
begegnen mir die Stimmen immer nur an den Wochenenden?
Es sollte
noch eine Weile dauern, bis sich das Rätsel der nächtlichen Stimmen auf dem
Mühlenweg löste.
An einem
klirrenden Frosttag im Februar machte ich mit dem Fahrrad über den Mühlenweg
aus dem Dorf kommend eine ungewöhnliche Beobachtung. Aus dem Obsthof gegenüber
dem Teich stieg eine dünne Rauchsäule auf. Da ich ohnehin gleich mit dem Hund
gehen musste, wollte ich die zwei Dinge, Hund ausführen und Ursache des Rauches
ermitteln, miteinander verbinden.
Die dünne
Rauchsäule stand immer noch über den Bäumen, als ich mich mit Hund und, wie
sollte es bei mir anders sein, mit Kamera, der Apfelplantage näherte. Im
Obsthof angekommen, löste sich das Rätsel mit dem Rauch schnell. Vor einem
kleinen Feuerchen hockte, mir den Rücken zugewandt, ein Mann. Er saß nicht,
sondern hockte. Eine Körperhaltung, die ich nur bedingt lange ertragen könnte.
Diesem Menschen schien sie nicht fremd, er machte den Eindruck, als hocke er
schon stundenlang so vor dem Feuer. Als er meine Schritte über den gefrorenen
Boden nahen hörte, richtete er sich erschrocken auf und blickte mir verunsichert
entgegen. Besuch im Obsthof war wohl eher die absolute Ausnahme. Schnell
erfasste ich die Situation. Dieser Mann mit den schwarzen Stoppeln, braunem
Teint und einer unglaublich großen Nase im Gesicht, musste einer von den Türken
sein, die sich auch hier in der Gegend bei einigen Bauern als Landarbeiter
verdingt hatten. Ich hatte schon von ihnen gehört, nur, begegnet war ich bis zu
diesem Zeitpunkt noch keinem von ihnen. Dieser Mann war offensichtlich mit dem
Ausschneiden der Apfelbäume beschäftigt, seine Obstbaumschere und eine kleine
Bügelsäge lagen neben der Feuerstelle im angetauten Schnee.
Ich ging
zielstrebig auf den Mann zu, reichte ihm die Hand, die er erschrocken mit etwas
Zögern nahm, und stellte mich vor. Mit meinen Worten schien er nicht viel
anfangen zu können. Als er das Gefühl hatte, dass weder mein Mischlingshund
noch ich eine Gefahr für ihn bedeuteten, zeigte er mit leichtem, etwas
verlegenem Lächeln auf die Bäume und dann auf sich: „Ich Appelbäume schneiden.
Serr kalt!“
Das mit der
Kälte konnte ich nur bestätigen.
„Ich Hassan!
Komm an Feuer.“ Mit einer Handbewegung lud er mich ein, an seinem Feuer Platz
zu nehmen. Offensichtlich hatte ich Hassan bei seinem Mittagsmahl gestört. Auf
einem Stück Papier lagen angebissene Brot- und Käsestücken und am Rande der
Glut stand eine angerußte, kleine Teekanne aus Metall. Ich hockte mich vor das
Feuer, wie ich es zuvor schon bei Hassan gesehen hatte. Mein Hund begann sich
für den Käse zu interessieren, den Hassan durch einen schnellen, beherzten Griff
vor dem immer hungrigen Tier retten konnte. Den Regeln orientalischer
Gastfreundschaft folgend, bot Hassan sofort an, sein karges Mahl mit mir zu
teilen. Ich lehnte dankend ab und hielt stattdessen meine Hände über das
wärmende Feuer.
„Serr kalt!“
Hassan schüttelte sich zur Untermalung seiner Worte.
„Ja, es ist
heute sehr kalt!“ antwortete ich ihm.
Erlenzweige
brannten im Feuer. Totholz aus der Windschutzhecke, die den Obsthof umgab.
Bestimmt war es nicht leicht gewesen, dieses Feuer zu entzünden. Trotz meiner
Jugenderfahrungen bei den Pfadfindern hätte ich wohl große Schwierigkeiten
gehabt, unter diesen Bedingungen ein Feuer zu entfachen.
Hassan und
ich begannen eine Unterhaltung über das Wetter, Feuer, Arbeit und ich zeigte
ihm das Dach von unserem Haus, das man gerade noch durch die unbelaubten
Apfelbäume sehen konnte.
„In dem Haus
wohne ich mit meiner Frau und meinen beiden Kindern. Zwei Mädchen.“
Hassan
erzählte mir, dass er auch verheiratet sei und drei Kinder habe, in der Türkei.
Man konnte sich ganz gut unterhalten, wenn man sich einmal an die Sprache mit
arg reduzierter Grammatik gewöhnt hatte. Bevor ich mich auf den Weg zurück
machte, fragte ich Hassan, ob ich ein Foto von ihm machen dürfe. Dieses
Ansinnen löste erneut Verunsicherung und Unruhe bei ihm aus. Ich erzählte ihm,
dass ich Hobbyfotograf sei und mich würden Motive von Menschen an ihrem
Arbeitsplatz interessieren. Das beruhigte ihn und er stellte sich sogar mit
seinem Arbeitsgeschirr in Pose. Ich machte das Foto, so, wie er sich
vorstellte, dass es aussehen müsse. Dann bat ich ihn, sich wieder an das Feuer
zu hocken und mit seinem Mittagsmahl fortzufahren. Das war das Motiv, das mich
von Anbeginn gereizt hatte. Es hatte so etwas archaisch Natürliches. Der Mensch
bei der Befriedigung existentiellster Bedürfnisse: Wärme und Nahrungsaufnahme.
Ich hatte schon Freude an den Bildern, als ich den Auslöser der Kamera
bediente. Hassan konnte wohl kaum ahnen, was in mir vorging. Ich verabschiedete
mich von ihm mit der Ankündigung, dass ich ihm die Fotos demnächst zeigen
würde.
Zu Hause
angekommen konnte ich es kaum erwarten, in die Dunkelkammer zu gehen. Der Film
musste entwickelt werden. Bloß nichts verkehrt machen! Dann die Beruhigung: Der
nasse Film an der Leine zeigte kontrastreiche Negative. Ein paar Stunden später
lagen die ersten Abzüge auf dem Tisch vor mir. Ich war zufrieden mit meinen
Ergebnissen. Was Hassan wohl sagen würde?
Er war nicht
mehr im Obsthof, inzwischen war es schon dunkel geworden. Morgen, morgen
Nachmittag wollte ich ihm ein Foto bringen.
Am nächsten
stieg kein Rauch aus den Obstbäumen auf, das Wetter war umgeschlagen, es
regnete. Der Regen war noch schlimmer zum Bäume ausschneiden als der klirrende
Frost vom Vortag. Hassan arbeitete, ich erkannte es an dem Fahrrad, das an der
Erlenhecke abgestellt war. Er strahlte, als er mich kommen sah, ich war kein
Fremder mehr, hatte nichts Bedrohliches für ihn.
„Moin
Pettersen!“ begrüßt er mich. Ich hatte vergebens versucht, ihm meinen Vornamen
beizubringen. Pettersen hatte vielleicht Ähnlichkeiten mit einem Wort seiner
Muttersprache. Hassan freute sich über das Foto und ließ es nach eingehender
Betrachtung in den Tiefen seiner Arbeitsjacke verschwinden. Ich versuchte ihm
zu erklären, dass ich das Foto selber im Labor entwickelt hätte. Das von mir
benutzte Vokabular entsprach nicht
annähernd dem, das er an seiner Arbeitsstelle gewohnt war. Ich spürte schnell,
dass er mich nicht verstehen konnte, obwohl er meine Ausführungen mit einem
verstehenden Lächeln und ständigem Kopfnicken begleitete. Ich musste ihm das
Labor zeigen, damit er verstehen konnte, was ich meinte. Auf einem Stückchen
Verpackungspapier notiere ich den besprochenen Sonntag, die Uhrzeit, meinen
Namen und zeige noch einmal zu meinem Haus hinüber.
Hassan
nickte und ließ den Zettel ebenfalls in seiner Jacke verschwinden.
„Scheißwetter!“
sagt Hassan zum Himmel deutend.
Aus genau
dem Grunde verabschiede ich mich mit den Worten:
„Also dann,
bis Sonntag!“
Wird Hassan
wohl kommen?
Er kam.
Bevor ich ihn sah, hörte ich bereits das rhythmische Quietschen seiner Pedale,
als er die Auffahrt hochfuhr. Dieses Geräusch?! Die Stimmen in der Nacht!
Sie haben
ein Gesicht bekommen - in diesem Moment. Hassan ist eine dieser Stimmen, ich
muss ihn befragen nach den Gründen der nächtlichen Fahrradtouren bei jedem
Wetter und nur am Wochenende.
Wir tranken
Kaffee zusammen und aßen Kuchen. Hassan hatte sich rasiert und trug keine
Arbeitskleidung mehr. Hassan blickte unauffällig um sich, nahm alles, was er
sah, mit Interesse auf. Das war nicht seine Welt. Nicht die Welt, die ihm aus
der Türkei oder Deutschland vertraut war. Vielleicht kannte er sie aus dem
Fernsehen. Ich führte meinen Gast in die Dunkelkammer. Neugierig verfolgte er
meine Arbeitsschritte im gelben Licht der Laborlampen. Kindliche Freude, als er
im Entwicklerbad sein Gesicht entstehen sah. Fast unhörbar hauchte er
„Hassan“.
Während die
Fotos trockneten, saßen wir mit der ganzen Familie in der Stube und tranken
Tee.
„Warum“,
fragte ich Hassan, „fährst du mit anderen Männern an den Wochenenden immer spät
abends mit dem Fahrrad an unserem Haus vorbei? Ich habe schon oft eure Stimmen
gehört, wenn ihr euch unterhaltet. Heute habe ich das Qietschen deiner Pedale
wiedererkannt. Du bist doch dabei, bei diesen nächtlichen Fahrten?“
Hassan
guckte überrascht als würde er noch überlegen, ob er wirklich alles richtig
verstanden habe. Ja, er bestätigte meine Vermutung und begann erst langsamer
und dann immer schneller seine Geschichte zu erzählen. Ich versuche sie etwa
sinngemäß wiederzugeben.
„Meine
Landsleute und ich sind keine Türken, wir sind Kurden. Die meisten von uns sind
illegal in Deutschland. Wir arbeiten bei den Bauern aber, weil wir illegal in
Deutschland sind, dürfen wir möglichst nicht zu sehen sein. Unsere Bauern
behandeln uns sehr unterschiedlich. Einige von uns wohnen in kleinen Wohnungen
andere eher in einem Verschlag, der irgendwo abgetrennt wurde. Einige werden
von der Familie mitbeköstigt, andere versorgen sich selbst. Der Stundenlohn ist
fast überall gleich, die Arbeitgeber scheinen sich abgesprochen zu haben.
Ausgezahlt bekommen wir sehr unterschiedlich. Einigen wird die Wohnung vom Lohn
abgezogen und in den meisten Fällen lassen wir uns Dinge, die wir brauchen von
unseren Bauern einkaufen. Auch das wird uns dann natürlich vom Lohn abgezogen.
Das ist auch ganz in Ordnung so. Nur haben wir leider festgestellt, dass die
Preise, die wir zahlen, sehr unterschiedlich sind, obwohl doch alle Waren aus
dem EDEKA oder ALDI kommen. Gearbeitet wird von Montag bis Sonnabend,
Feierabend ist, wenn der Chef sagt, dass Feierabend ist. Der Sonntag ist frei.
Hier gibt es auf keinem Hof mehr als einen Kurden. Wir sind abends allein und
nur die wenigsten von uns können türkisches Fernsehen über Satellit empfangen.
Die meisten gucken deutsches Fernsehen. Da lernt man wenigstens etwas Deutsch.
Bei der Arbeit geht das nicht gut, weil viele Arbeiten alleine oder unter
Maschinenlärm verrichtet werden. Krank werden darf niemand von uns. Wenn das
doch der Fall ist, muss der Bauer zur Apotheke oder sich selbst etwas gegen die
beschriebenen Symptome verschreiben lassen. Schwere Verletzungen dürfen nicht
vorkommen. Das wäre auch schlecht für den Bauern, wenn sein Arbeiter ins
Krankenhaus müsste und herauskäme, dass er keine Aufenthaltsgenehmigung für
Deutschland hat. Einige von uns sind schon ein paar Jahre in Deutschland, ohne
zwischendurch in die Heimat zu ihren Familien zu können. Ich bin auch schon
zwei Jahre hier und habe mein jüngstes Kind noch nicht im Arm gehalten. Pause
Ich weiß
nicht, wann ich wieder nach Hause komme. Ich habe auch viel zu viel Angst, dass
ich nicht wieder zurück nach Deutschland komme. Einmal haben sie mich schon in
den Bergen zwischen Jugoslawien und Österreich geschnappt. Das war nicht schön.
Ich wurde in die Türkei abgeschoben und das Geld, das ich für die Einschleusung
bezahlt hatte, war verloren. Ich musste es wieder versuchen, wovon sollte sonst
meine Familie leben? Ich schicke einmal im Monat Geld von der Post in F. an
meine Frau. Es reicht für die Familie und meine Frau kann auch immer noch etwas
für ein eigenes Haus beiseitelegen.
Einmal im
Monat telefoniere ich mit meiner Frau. In unserem Dorf gibt es ein Telefon in
der Bar. Ich rufe am 1. Sonntag immer um 19 Uhr von der Telefonzelle aus in der
Bar an. Meine Frau sitzt dann dort bereits und wartet auf meine Stimme aus dem
fernen Deutschland. Sie erzählt von den Kindern, aus der Familie und vom Dorf.
Ich kann kaum zuhören, weil mir die Tränen über das Gesicht laufen und ich
lautes Weinen unterdrücken muss. Sie soll nicht merken, wie traurig ich bin.
Manchmal denke ich, dass das Heimweh und die Sehnsucht mich in diesem fernen Land auffressen. Und nun
verstehst du vielleicht, warum wir mit dem Fahrrad durch die Nacht fahren? Wir
treffen uns sonnabends und sonntags bei einem Freund, der in einem kleinen Haus
auf „seinem“ Bauernhof wohnt. Er hat es dort sehr nett und seine Leute wissen
von unseren Treffen, manchmal bringt uns die Oma sogar einen Kuchen rüber. Wir
müssen nachts auf möglichst abgelegenen Wegen unterwegs sein, weil wir tagsüber
zu sehr auffallen und in eine Kontrolle geraten könnten. Die Wochenenden sind
das Schönste vom Leben außer in der Heimat zu sein. Wir lachen, singen, essen
und tanzen zusammen und können unsere Sprache sprechen, was uns in der
Öffentlichkeit nicht einmal in der Türkei erlaubt wird. Manchmal wechseln wir
den Bauern. Das mag der natürlich nicht gerne aber er kann nichts machen, weil
sein Verhalten so illegal ist wie unser Aufenthalt in diesem Land. Man muss nur
darauf achten, dass man seinen ganzen Lohn schon ausbezahlt bekommen hat.
Es kommt
auch vor, dass wir mal in Zeiten mit wenig Arbeit an einen Nachbarn ausgeliehen
werden. So lernen wir dann auch noch einmal andere Menschen kennen.
Hin und
wieder verschwindet einer von uns in die Heimat und kommt erst Monate später
voller Geschichten und manchmal mit kleinen Geschenken der Familie zurück. Wir
kommen fast alle aus der gleichen Gegend. Ich will auch nach Hause, will meinen
Sohn sehen und mit dem Hausbau beginnen. Aber ich habe Angst vor der Reise. Du
hast es gut, Pettersen, du hast deine Familie um dich.“
Hassan
verließ uns, um mit seinen Freunden irgendwohin zu radeln. Wo das war, hatte er
uns nicht gesagt. Ich hörte gelegentlich die Stimmen nachts vom Mühlenweg. Dann
dachte ich an Hassan und seine Freunde, die sich ein paar Stunden Heimat
holten. Einmal begegneten sie mir im Dunkeln auf dem Mühlenweg. Ich hörte sie
schon von weitem, auch der Hund blieb stehen und lauschte in die Nacht. Hassan
war auch dabei, ich erkannte ihn am quietschenden Pedal. Als die Gruppe näher
kam, habe ich mich nicht versteckt. Bevor sie mich ganz erreicht hatten, rief
ich: „Hassan, halt an!“ Seine Kameraden mögen sich wohl erschreckt haben.
Hassans Pedal schwieg. „Pettersen, bist du es?“ Die ganze Gruppe stand um uns
herum, 5 oder 6 Personen. Hassan erzählte mir schnell, dass er in der nächsten
Woche in die Türkei aufbrechen wolle. Ich wünschte ihm viel Glück und entließ
ihn und seine Freunde in die Nacht. Als weder die Stimmen noch das Fahrradpedal
zu hören waren, sagte ich zu meinem Hund: „Komm Hund, lass uns ins Haus gehen.“
Nachtrag
Zwei, drei
Jahre später habe ich Hassan vor dem EDEKA Markt getroffen. Wir begrüßten uns
wie alte Freunde. Er erzählte mir, dass er seit einiger Zeit wieder hier sei.
Auf die Frage, warum er am helllichten Tage im Ort sei, sagte er, dass er
einen Asylantrag gestellt hätte und befristete Aufenthaltsgenehmigung habe. Ich lud
ihn ein, uns zu besuchen. Er kam nie und ich habe ihn nie wiedergesehen.
Heute sind
die Stimmen vom Mühlenweg verschwunden. Die meisten Kurden auf den Höfen sind
legal im Land. Die nächtlichen Fahrradtouren der Illegalen gibt es nicht mehr
oder sie nehmen andere Wege.
Eines Tages
hilft mir Hanifi, der Ehemann einer Bekannten, beim Holzspalten. In der Pause
erzähle ich ihm von meinen Begegnungen mit Hassan. Ich erzähle von dem Feuer im
Obsthof und hole das Foto von Hassan. Hanifi nimmt es in die Hand und sagt:
„Ja, das ist
Hassan, mein Onkel!“
Auf die
Frage, ob Hassan auch noch irgendwo hier sei, berichtete Hanifi mir, dass sein
Onkel in der Kleinstadt nahe dem Heimatdorf gemeinsam mit einem Verwandten sehr
erfolgreich einen Goldhandel betreibe.
Damit,
lieber Hassan, sind die nassen und frostigen Tage im Obsthof wohl für alle Tage
Erinnerung. Ob du wohl das Foto von dir am Feuer noch besitzt?
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