Ich kenne
die Bisamratte, sie kennt mich. Der Amerikaner kennt mich; aber er kennt die
Bisamratte nicht.
Ich kenne
sie beide und weiß allein, wie wir alle drei zusammengehören.
Es ist schon
über dreißig Jahre her. Ich kam die Auffahrt zu unserem Haus, damals noch im
Krankenhausweg, hoch und sah, wie eine Bisamratte vor mir flüchtend leider den falschen Weg
einschlug. Sie hastete mit den für Bisams an Land immer etwas tolpatschig anmutenden
Trippelschritten in die geöffnete Garage. Ein mir von klein anerzogener
Jagdtrieb erwachte sofort beim Anblick des flüchtenden Tieres. Heute
unvorstellbar, griff ich zur Schaufel neben dem Garagentor. Bisamratte, Ratte,
Schädling – muss getötet werden. Mit der Schaufel scheuchte ich das Tier in die
Garagenecke.
In meinem
Kopf arbeitete es. Du wirst gleich ein Lebewesen töten.
Kannst du
das? Willst du das?
Nie zuvor
hatte ich Lebewesen, die größer als Mücken oder Fliegen waren, vorsätzlich
getötet. Nun stand ich unmittelbar vor diesem Schritt.
Ich hatte
schon Hasen überfahren oder Fasanen; aber nie mit der Absicht zu töten. Ich
habe ohne Skrupel Fleisch von Tieren gegessen, die alle vorher getötet wurden
und ich esse heute noch Fleisch. Ich hatte heimlich zugeschaut, wie der Hausschlachter
eines unserer Schweine mit der Axt in den Schweinehimmel schickte und
betrachtete als Kind fasziniert, wie die bereits geköpften Hühner ihren letzten
wahnwitzigen Tanz um den Hauklotz vollführten.
Der Tod
höherer Lebewesen war mir nicht fremd. Aber das hier, mit dem Bisam, war noch
einmal eine ganz andere Nummer. Ich war drauf und dran ein Lebewesen mit
sichtbarem Puls und angstgeweiteten Augen zu töten.
Soll ich
oder soll ich nicht?
Ich traf
eine Entscheidung und die war nicht günstig für das Tier.
Auf der
anderen Seite das Tier.
Es hatte bei
meinem Erscheinen instinktiv gespürt, dass das, was da auf zwei Beinen die
Auffahrt hochkam, nichts Gutes für eine Bisamratte bedeuten konnte. Sie muss
den Tag nicht gut drauf gewesen sein. Normalerweise hätte ihr ihr Instinkt
sagen müssen:
„Ab ins
Wasser und dann schnell irgendwo in den in der Böschung unter Wasser liegenden
Eingang zum Bau verschwinden.“
Ja, das wäre
normal gewesen und ich hätte nie eine Chance gehabt, das Tier zu erwischen. Sie
hatte sich aber für den Weg in die Garage, den Weg in die Falle entschieden. In
der Ecke ging es nicht mehr weiter für den pelzigen Pflanzenfresser, der sich
durch die Unterminierung von Böschungen und Deichen zum Feind des Menschen
gemacht hat. Wir sahen uns in die Augen und ich wusste, dass das Unvermeidbare
in wenigen Sekunden geschehen würde.
Da passierte
etwas, womit ich niemals gerechnet hatte. Dieses Tier, das ich locker um 175
Zentimeter überragte, setzte alles auf eine Karte.
Was nun
geschah, vollzog sich so blitzschnell, dass ich es nur schattenhaft wahrnehmen
konnte. Die Bisamratte sammelte alle Kräfte und sprang mich in ihrer Todesangst
mit einem nie für möglich gehaltenen Satz an. Reflexartig wich ich zurück, Die
Schaufel fiel mir aus der Hand und landete scheppernd auf dem Betonboden. Der
Bisam verschwand in Höchsttempo um die Garagenecke. Zwei Sekunden später
vielleicht hörte ich den Körper des Tieres auf der Wasseroberfläche des Grabens
aufklatschen und dann herrschte Ruhe. Eine unerwartete Wendung.
Das war
nicht mein Plan!
Jahre später
wiederholte sich diese Geschichte. Nun aber nicht in Freiburg sondern tausende
Kilometer entfernt in Richtung Westen irgendwo an der Küste von Maine, USA. Ein
wenig anders war es schon, wenngleich mit ähnlich glücklichem Ausgang. In
dieser Geschichte war ich die
Bisamratte und der Mann mit der Schaufel war ein wütender Amerikaner mit Gewehr
und einem riesigen Hund, der alles darauf anlegte, seinen Herren an
Unfreundlichkeit zu übertreffen.
Was war
passiert?
Wir waren
seit Stunden durch kaum besiedeltes Waldland von Vermont kommend auf dem Weg
zur Atlantikküste Neuenglands. Die Einsamkeit ließ uns kaum glauben, dass wir
uns im am dichtesten besiedelten Teil der Vereinigten Staaten befanden.
Und dann
eine unerwartete Überraschung nach der Monotonie des ewigen Waldes: Eine
liebliche Hügellandschaft mit Wiesen, die sich bis an die Ufer eines in der
Sonne glitzerndes Fjordes erstreckten. Wir passierten ein Farmgebäude und nur
wenige hundert Meter später stoppte ich den Wagen, um einige Fotos von dieser
atemberaubenden Landschaft zu machen. Nur wenige Meter von der Fahrbahn
entfernt parkte ich das Auto auf einer abgeernteten Heu Wiese. Der Geruch des
Heus lag noch in der Luft, obwohl die Wiese schon wieder grün wurde. Eine
Halbinsel, bewachsen mit einigen Laubbäumen, erzeugte bei mir den völlig
unrealistischen Wunsch, gerade dort ein Haus haben zu wollen. Die Vorstellung
dort vor einem Blockhaus zu sitzen nur wenige Meter vom Wasser mit Blick über
den Fjord hinaus auf den fernen Atlantik berauschte mich. Hundegebell vom
Farmhaus her weckte mich aus meinen Träumen. Kurz nach einem großen Hund kam
ein Mann aus der Hofauffahrt. Er trug Gummistiefel, eine blaue Latzhose,
kariertes Hemd und einen Strohhut. Als er bemerkte, dass ich zu ihm hinsah
wedelte er mit den Armen, in der einen Hand ein Gewehr haltend, und rief mir
etwas zu, das ich nicht verstehen konnte. Ich überlegte, wie ich dem Hund
begegnen sollte.
Vielleicht
doch lieber ins Auto einsteigen?
Ulla winkte
mir schon im Auto sitzend zu, dass ich doch zu ihr kommen sollte. Ich beschloss
abzuwarten und machte in scheinbarer Seelenruhen einige Aufnahmen. Scheinbar
ruhig, in meinem Kopf wechselten sich alle möglichen, schrecklichen Szenarien
ab! Der Hund und das Gewehr beflügelten meine Fantasie.
Weder der
Hund noch der Mann wurden leiser. Ganz im Gegenteil. Je näher sie kamen, desto
lauter waren sie zu hören. Als ich mich das nächste Mal ihnen zuwandte, hatten
sie bereits die Hälfte der Wegstrecke vom Hof bis zu mir zurückgelegt. Nun
konnte ich auch schon etwas verstehen. Immer wieder hörte ich die Worte
„Private ground! Private ground!“ heraus.
Was hat er
wohl?
Ich tue doch
niemandem etwas und richte keinen Schaden auf der abgeernteten Wiese an.
Inzwischen waren die beiden so dicht heran, dass ich nicht mehr zum Auto
konnte, ohne ihnen zu begegnen.
Was tun? Es
arbeitete in meinem Kopf, ich tat so, als würde ich noch einige Fotos machen.
„Private
ground! Private Ground!“
Seine Stimme
wurde immer lauter und sie klang leicht gereizt, vielleicht auch ein wenig
wütend. Weit konnte er nicht mehr entfernt sein. Schon hatte der Hund mich
umrundet und machte mir in aller Deutlichkeit klar, wer von uns beiden die
fieseren Zähne hatte und am lautesten bellen konnte.
Was mach ich
nur? Was mach ich nur?
Als ich
schon glaubte, seinen Atem in meinem Nacken zu spüren, erwachte der Instinkt
des Bisams von Freiburg in mir.
Ich drehte
mich um.
Der zeternde
Farmer war nur noch wenige Schritte entfernt. Ich ging ihm mit ausgestreckter
Hand entgegen. Gerade hatte er ein letztes „Private Ground“ herausgelassen, als
ich einfach seine freie rechte Hand ergriff und in meinem mäßigen Englisch
begann, auf ihn einzureden.
Mit äußerst
verdutztem Gesichtsausdruck hörte er sich an, was mir gerade so und ungefiltert
aus dem Mund kam.
„Hello, my
name is Jörg Petersen. I am from Germany.
It is a fantastic place over here, I like it. Is it your ground?“
Er nickte
und hauchte mehr als zu sprechen ein letztes Mal „It´s private ground“.
Bevor er
weiter ausholen konnte, war ich schon mit meiner Fortsetzung dran.
„A wonderful
place here and fantastic landscape. At my place in Germany it`s very nice too.
You must see it. If you come to Freiburg, ask for Jörg Petersen. Everybody can
show you, how to find me. We´ll have a fine cup of coffee and you can take some
nice pictures from y home and the fishpond just beside.“
Ich ließ
seine Hand los und sagte noch bereits im Gehen:
„Hope to see
you once in Freiburg. Don´t forget to ask for me. Bey!“
Er sagte
nichts mehr und auch der Hund schien die Lust am Bellen verloren zu haben. Erst
als ich im Auto saß konnte ich ihn wieder sehen. Er stand dort noch
unverändert, wie ich ihn verlassen hatte. Stumm blickt er mit dem Gewehr in der
linken Hand zum Auto. Der Hund hatte sich neben seinen Herren gelegt und
beobachtete meinen Abgang ebenso schweigend wie sein Herr.
Um noch
einmal auf den Bisam zurückzukommen. Hier klatschte nichts auf dem Wasser.
Dafür muss aber das Motorengeräusch des Pontiacs mit Automatikgetriebe für den
Farmer und seinen Hund zu hören gewesen sein.
Trotz meiner
herzlichen Einladung wenn auch aus der verzweifelten Not heraus und nicht aus
Gastfreundschaft, sind weder der Farmer noch sein Hund jemals bei mir in
Freiburg aufgelaufen. So habe ich denn auch bis heute nicht in Erfahrung
bringen können, ob der Flintenträger aus Maine jemals wieder gesprochen hat.
Vielleicht
hatte er von dem „deutschen Bisam“ auf seiner Wiese gelernt und war
Überraschungsgästen zukünftig etwas freundlicher gesonnen, obwohl wir ja nun
wissen, dass es sich um „private ground“ handelte.
Bei mir
hatte es jedenfalls seinerzeit gut geklappt. Seitdem ich beinahe die harmlose
Bisamratte in meiner Garage getötet hätte, habe ich nie wieder versucht,
vorsätzlich ein Tier zu töten.
Wir gut, dass Du die schöne Bisamratte nicht erwischt hast, sondern so viel für Dein Leben daraus gelernt hast! Sie hat Dir gewissermaßen das Leben gerettet!
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