Sonntag, 6. März 2016

Die Bisamratte, der Amerikaner und ich






Ich kenne die Bisamratte, sie kennt mich. Der Amerikaner kennt mich; aber er kennt die Bisamratte nicht.
Ich kenne sie beide und weiß allein, wie wir alle drei zusammengehören.

Es ist schon über dreißig Jahre her. Ich kam die Auffahrt zu unserem Haus, damals noch im Krankenhausweg, hoch und sah, wie eine Bisamratte  vor mir flüchtend leider den falschen Weg einschlug. Sie hastete mit den für Bisams an Land immer etwas tolpatschig anmutenden Trippelschritten in die geöffnete Garage. Ein mir von klein anerzogener Jagdtrieb erwachte sofort beim Anblick des flüchtenden Tieres. Heute unvorstellbar, griff ich zur Schaufel neben dem Garagentor. Bisamratte, Ratte, Schädling – muss getötet werden. Mit der Schaufel scheuchte ich das Tier in die Garagenecke.
In meinem Kopf arbeitete es. Du wirst gleich ein Lebewesen töten.
Kannst du das? Willst du das?
Nie zuvor hatte ich Lebewesen, die größer als Mücken oder Fliegen waren, vorsätzlich getötet. Nun stand ich unmittelbar vor diesem Schritt.
Ich hatte schon Hasen überfahren oder Fasanen; aber nie mit der Absicht zu töten. Ich habe ohne Skrupel Fleisch von Tieren gegessen, die alle vorher getötet wurden und ich esse heute noch Fleisch. Ich hatte heimlich zugeschaut, wie der Hausschlachter eines unserer Schweine mit der Axt in den Schweinehimmel schickte und betrachtete als Kind fasziniert, wie die bereits geköpften Hühner ihren letzten wahnwitzigen Tanz um den Hauklotz vollführten.
Der Tod höherer Lebewesen war mir nicht fremd. Aber das hier, mit dem Bisam, war noch einmal eine ganz andere Nummer. Ich war drauf und dran ein Lebewesen mit sichtbarem Puls und angstgeweiteten Augen zu töten.
Soll ich oder soll ich nicht?
Ich traf eine Entscheidung und die war nicht günstig für das Tier.

Auf der anderen Seite das Tier.
Es hatte bei meinem Erscheinen instinktiv gespürt, dass das, was da auf zwei Beinen die Auffahrt hochkam, nichts Gutes für eine Bisamratte bedeuten konnte. Sie muss den Tag nicht gut drauf gewesen sein. Normalerweise hätte ihr ihr Instinkt sagen müssen:
„Ab ins Wasser und dann schnell irgendwo in den in der Böschung unter Wasser liegenden Eingang zum Bau verschwinden.“
Ja, das wäre normal gewesen und ich hätte nie eine Chance gehabt, das Tier zu erwischen. Sie hatte sich aber für den Weg in die Garage, den Weg in die Falle entschieden. In der Ecke ging es nicht mehr weiter für den pelzigen Pflanzenfresser, der sich durch die Unterminierung von Böschungen und Deichen zum Feind des Menschen gemacht hat. Wir sahen uns in die Augen und ich wusste, dass das Unvermeidbare in wenigen Sekunden geschehen würde.
Da passierte etwas, womit ich niemals gerechnet hatte. Dieses Tier, das ich locker um 175 Zentimeter überragte, setzte alles auf eine Karte.
Was nun geschah, vollzog sich so blitzschnell, dass ich es nur schattenhaft wahrnehmen konnte. Die Bisamratte sammelte alle Kräfte und sprang mich in ihrer Todesangst mit einem nie für möglich gehaltenen Satz an. Reflexartig wich ich zurück, Die Schaufel fiel mir aus der Hand und landete scheppernd auf dem Betonboden. Der Bisam verschwand in Höchsttempo um die Garagenecke. Zwei Sekunden später vielleicht hörte ich den Körper des Tieres auf der Wasseroberfläche des Grabens aufklatschen und dann herrschte Ruhe. Eine unerwartete Wendung.
Das war nicht mein Plan!

Jahre später wiederholte sich diese Geschichte. Nun aber nicht in Freiburg sondern tausende Kilometer entfernt in Richtung Westen irgendwo an der Küste von Maine, USA. Ein wenig anders war es schon, wenngleich mit ähnlich glücklichem Ausgang. In dieser Geschichte war ich die Bisamratte und der Mann mit der Schaufel war ein wütender Amerikaner mit Gewehr und einem riesigen Hund, der alles darauf anlegte, seinen Herren an Unfreundlichkeit zu übertreffen.
Was war passiert?
Wir waren seit Stunden durch kaum besiedeltes Waldland von Vermont kommend auf dem Weg zur Atlantikküste Neuenglands. Die Einsamkeit ließ uns kaum glauben, dass wir uns im am dichtesten besiedelten Teil der Vereinigten Staaten befanden.
Und dann eine unerwartete Überraschung nach der Monotonie des ewigen Waldes: Eine liebliche Hügellandschaft mit Wiesen, die sich bis an die Ufer eines in der Sonne glitzerndes Fjordes erstreckten. Wir passierten ein Farmgebäude und nur wenige hundert Meter später stoppte ich den Wagen, um einige Fotos von dieser atemberaubenden Landschaft zu machen. Nur wenige Meter von der Fahrbahn entfernt parkte ich das Auto auf einer abgeernteten Heu Wiese. Der Geruch des Heus lag noch in der Luft, obwohl die Wiese schon wieder grün wurde. Eine Halbinsel, bewachsen mit einigen Laubbäumen, erzeugte bei mir den völlig unrealistischen Wunsch, gerade dort ein Haus haben zu wollen. Die Vorstellung dort vor einem Blockhaus zu sitzen nur wenige Meter vom Wasser mit Blick über den Fjord hinaus auf den fernen Atlantik berauschte mich. Hundegebell vom Farmhaus her weckte mich aus meinen Träumen. Kurz nach einem großen Hund kam ein Mann aus der Hofauffahrt. Er trug Gummistiefel, eine blaue Latzhose, kariertes Hemd und einen Strohhut. Als er bemerkte, dass ich zu ihm hinsah wedelte er mit den Armen, in der einen Hand ein Gewehr haltend, und rief mir etwas zu, das ich nicht verstehen konnte. Ich überlegte, wie ich dem Hund begegnen sollte.
Vielleicht doch lieber ins Auto einsteigen?
Ulla winkte mir schon im Auto sitzend zu, dass ich doch zu ihr kommen sollte. Ich beschloss abzuwarten und machte in scheinbarer Seelenruhen einige Aufnahmen. Scheinbar ruhig, in meinem Kopf wechselten sich alle möglichen, schrecklichen Szenarien ab! Der Hund und das Gewehr beflügelten meine Fantasie.
Weder der Hund noch der Mann wurden leiser. Ganz im Gegenteil. Je näher sie kamen, desto lauter waren sie zu hören. Als ich mich das nächste Mal ihnen zuwandte, hatten sie bereits die Hälfte der Wegstrecke vom Hof bis zu mir zurückgelegt. Nun konnte ich auch schon etwas verstehen. Immer wieder hörte ich die Worte „Private ground! Private ground!“ heraus.
Was hat er wohl?
Ich tue doch niemandem etwas und richte keinen Schaden auf der abgeernteten Wiese an. Inzwischen waren die beiden so dicht heran, dass ich nicht mehr zum Auto konnte, ohne ihnen zu begegnen.
Was tun? Es arbeitete in meinem Kopf, ich tat so, als würde ich noch einige Fotos machen.
„Private ground! Private Ground!“
Seine Stimme wurde immer lauter und sie klang leicht gereizt, vielleicht auch ein wenig wütend. Weit konnte er nicht mehr entfernt sein. Schon hatte der Hund mich umrundet und machte mir in aller Deutlichkeit klar, wer von uns beiden die fieseren Zähne hatte und am lautesten bellen konnte.
Was mach ich nur? Was mach ich nur?
Als ich schon glaubte, seinen Atem in meinem Nacken zu spüren, erwachte der Instinkt des Bisams von Freiburg in mir.
Ich drehte mich um.
Der zeternde Farmer war nur noch wenige Schritte entfernt. Ich ging ihm mit ausgestreckter Hand entgegen. Gerade hatte er ein letztes „Private Ground“ herausgelassen, als ich einfach seine freie rechte Hand ergriff und in meinem mäßigen Englisch begann, auf ihn einzureden.
Mit äußerst verdutztem Gesichtsausdruck hörte er sich an, was mir gerade so und ungefiltert aus dem Mund kam.
„Hello, my name is Jörg Petersen. I am from Germany.  It is a fantastic place over here, I like it. Is it your ground?“
Er nickte und hauchte mehr als zu sprechen ein letztes Mal „It´s private ground“.
Bevor er weiter ausholen konnte, war ich schon mit meiner Fortsetzung dran.
„A wonderful place here and fantastic landscape. At my place in Germany it`s very nice too. You must see it. If you come to Freiburg, ask for Jörg Petersen. Everybody can show you, how to find me. We´ll have a fine cup of coffee and you can take some nice pictures from y home and the fishpond just beside.“
Ich ließ seine Hand los und sagte noch bereits im Gehen:
„Hope to see you once in Freiburg. Don´t forget to ask for me. Bey!“
Er sagte nichts mehr und auch der Hund schien die Lust am Bellen verloren zu haben. Erst als ich im Auto saß konnte ich ihn wieder sehen. Er stand dort noch unverändert, wie ich ihn verlassen hatte. Stumm blickt er mit dem Gewehr in der linken Hand zum Auto. Der Hund hatte sich neben seinen Herren gelegt und beobachtete meinen Abgang ebenso schweigend wie sein Herr.

Um noch einmal auf den Bisam zurückzukommen. Hier klatschte nichts auf dem Wasser. Dafür muss aber das Motorengeräusch des Pontiacs mit Automatikgetriebe für den Farmer und seinen Hund zu hören gewesen sein.

Trotz meiner herzlichen Einladung wenn auch aus der verzweifelten Not heraus und nicht aus Gastfreundschaft, sind weder der Farmer noch sein Hund jemals bei mir in Freiburg aufgelaufen. So habe ich denn auch bis heute nicht in Erfahrung bringen können, ob der Flintenträger aus Maine jemals wieder gesprochen hat.
Vielleicht hatte er von dem „deutschen Bisam“ auf seiner Wiese gelernt und war Überraschungsgästen zukünftig etwas freundlicher gesonnen, obwohl wir ja nun wissen, dass es sich um „private ground“ handelte.
Bei mir hatte es jedenfalls seinerzeit gut geklappt. Seitdem ich beinahe die harmlose Bisamratte in meiner Garage getötet hätte, habe ich nie wieder versucht, vorsätzlich ein Tier zu töten.

1 Kommentar:

  1. Wir gut, dass Du die schöne Bisamratte nicht erwischt hast, sondern so viel für Dein Leben daraus gelernt hast! Sie hat Dir gewissermaßen das Leben gerettet!

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