Wer viel mit
Kindern und Jugendlichen zu tun hat, wird meine Beobachtung vielleicht
bestätigen. Natürlich ist es Ziel jeder Lehrkraft oder Erzieherin, alle ihr
anvertrauten Kinder und Jugendlichen gleichermaßen gern zu haben. Erreichen werden
sie das Ziel jedoch nie. Zu unterschiedlich sind die Menschen, die dort auf
Zeit zusammenarbeiten arbeiten (müssen). Sympathien sowohl von der einen, als
auch von der anderen Seite werden sehr schnell wahrnehmbar.
Ich habe die
Erfahrung gemacht, dass weder das Lernvermögen, die soziale Herkunft oder
irgendwelche äußerlichen Merkmale wie Kleidung, Statussymbole oder das Aussehen
entscheidend für Sympathiepunkte sind. Ausschlaggebend war für mich immer das
Sozialverhalten, in dem alle Tugenden sicht- oder spürbar werden, die darüber
entscheiden, in welchem Umfang die Chemie zwischen zwei Menschen stimmt oder
nicht.
Ganz schwer
machten es mir die Kinder und Jugendlichen, die mir mit mehr oder weniger offen
entgegengebrachter Feindschaft begegneten. Gott sei Dank gab es von denen nicht
so viele.
Erheblich
größer hingegen war die Gruppe, die durch ständige Regelverstöße auffiel. Auf
der Beliebtheitsskala ganz unten fanden sich bei mir diejenigen, die meine
Bemühungen um zwischenmenschliche Klimaveränderungen ignorierten und durch
mieses Sozialverhalten gepaart mit ständige Regelverstößen auffällig wurden.
Nun sind zum
Glück Menschen nicht wie verschiedene Schraubengrößen, die man einfach nach
ihren Eigenschaften in unterschiedliche Schachtel einsortiert. Zwischen gut und
böse, brav und ungezogen, dumm und intelligent, faul und fleißig gibt es jede
Menge Schattierungen. Im Gegensatz zur Schraube, die ihre Eigenschaft nie
ändert, sind besonders bei jungen Menschen durchaus Veränderungen und Entwicklungen
möglich. Für die Beeinflussung menschlichen Denkens und Verhaltens in eine
gewünschte, den gesellschaftlichen Werten entsprechende Richtung, haben wir uns
den Begriff Erziehung geschaffen.
Ich möchte
hier von Kevin erzählen. Kevin passte in keine Schachtel. Er war kein Schüler,
der es seinen Lehrern leicht machte. Die Anfertigung der Hausaufgaben war
Glücksache, Arbeitsmaterialien fehlten ständig, Hefte und Bücher machten schon
wenige Wochen nach der Anschaffung den Eindruck, als seien sie schon Jahre im
Gebrauch. Als würde das nicht schon genügen, neigte Kevin dazu, selbst kleinste
Konflikte mit Gewalt zu lösen. Alles Eigenschaften, die in der Schule überhaupt
nicht akzeptabel sind, Eigenschaften, die, ganz besonders bei Lehrern, dazu
angetan sind, einen Menschen nicht mit sonderlich viel Sympathie zu bedenken.
Bei Kevin
war es irgendwie anders.
Trotz der
starken Negativbilanz hatte er etwas durchaus Liebenswertes an sich. Er zeigte
sich stets höflich und hilfsbereit, fröhlich und häufig auch ausgesprochen
humorvoll. Ich mochte ihn und war jedes Mal, wenn er wieder einmal bei mir
wegen irgendwelcher Verfehlungen zum Gespräch in meinem Büro antreten musste,
erstaunt, überrascht und enttäuscht, dass trotz des so intensiven und
fruchtbaren Meinungsaustausches keine Verhaltensänderung eingetreten war.
Kevin hatte
nahezu ein Abonnement auf die 2. Chance.
Ich bin nie
wieder einem Menschen begegnet, dem so viel Nachsicht entgegengebracht wurde,
wie ihm. Trotz vieler herber Rückschläge, gab ich die Hoffnung nicht auf, Kevin
wenigstens zu gewaltfreier Konfliktlösung zu erziehen.
An einem
Montagmorgen schien ich meinem Ziel für kurze Zeit schon sehr nahegekommen zu
sein. Ausgeruht nach dem Wochenende kam ich am Morgen in die Schule. Neben dem
Aufgang zum Lehrerzimmer lehnte Kevin mit strahlendem Lächeln am Geländer und
begrüßte mich.
„Guten
Morgen Herr Petersen.“
„Guten
Morgen Kevin, Schönes Wochenende gehabt?“
„Ging so.
Hab noch mal darüber nachgedacht.“
„Worüber?“
„Also über
Gewalt und so.“
„Aha! Und,
zu welchen Ergebnissen bist du gekommen?“
„Also, Herr
Petersen, ich finde Gewalt echt scheiße, oh, Tschuldigung! Das soll nun anders
werden.“
Also haben
die vielen Gespräche so kurz vor der Schulentlassung doch etwas gebracht. In
mir begann sich das wohlige Gefühl auszubreiten, das man in Verbindung mit
Erfolg verspürt.
„Das ist
doch eine sehr schöne Nachricht zum Wochenbeginn. Ich drücke dir die Daumen,
dass alles so klappt, wie du dir das vorstellst.“
„Ja. Das
Kapitel ist für mich jetzt abgeschlossen. Null Gewalt, Herr Petersen.“
„Fein“, sage
ich. Und während ich die drei Stufen zum Verwaltungsflur heraufsteige, trifft
mich die Realität in ganzer Härte.
„Also, Herr Petersen,
(kleine Pause) nur, wenn mir einer dumm kommt, dem hau ich eins aufs Maul!“
Ach Kevin.
Das war dann ja nur ein kurzer Lichtblick.
Der Junge
hat die letzten Wochen seiner Schulzeit ohne nennenswerte Konflikte bewältigt.
Zwei Wochen vor der Entlassung fragte ich ihn, was er denn nach der Schule
anfangen wolle.
„Kraftfahrzeugmechatroniker!“
Das kam, wie
aus der Pistole geschossen.
„Dafür
brauchst du aber einen guten Schnitt. Wo hast du denn eine Lehrstelle?“
„Hab noch
keine.“
„Oh, das
wird aber Zeit. Wie viele Bewerbungen hast du denn schon verschickt?“
Er druckst
etwas rum und bringt dann gequält raus:
„Keine.“
Ich glaubte
meinen Ohren nicht zu trauen. Der Bewerbungsreigen war doch schon vor Wochen
abgeschlossen.
„Wie denkst
du dir das? Glaubst du, dass dich die Meister fragen kommen, ob du bei ihnen
ausgebildet werden möchtest?“
„Ich habe ja
schon ein paar Male angefangen. Dann konnte ich nicht weiter.“
Kevin, der
Junge mit dem Abo auf die 2. Chance.
Wir haben
uns am Nachmittag in der Schule getroffen und drei Bewerbungen auf den Weg
gebracht. Durch meine Vermittlung hat es noch mit einer Lehrstelle geklappt.
Ein gutes
Jahr später treffe ich Kevin auf der Straße.
„Und“, frage
ich ihn, „wie läuft es mit der Lehre?“
„Da bin ich
seit zwei Monaten weg. Der Chef war immer so komisch, nur, weil ich es manchmal
nicht geschafft habe, pünktlich bei der Arbeit zu sein. Fang jetzt als
Zeitsoldat bei der Bundeswehr an.“
Das war mein
letzter Kontakt zu Kevin. Seit damals habe ich ihn weder wiedergesehen noch habe
ich etwas von ihm gehört.
Wo er nun
wohl um seine 2. Chance kämpft?
Vielleicht
in Afghanistan oder Timbuktu?
Egal, Kevin!
Ich wünsche
dir, dass du inzwischen deinen Weg gefunden hast, dass irgendwann die 2. Chance
einmal die letzte sein wird, weil keine
2. Chance mehr nötig ist.
Kevin ist
aus meinem Leben verschwunden, nicht aus meiner Erinnerung.
Wie wird er
wohl sein Leben gestaltet haben?
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