Donnerstag, 10. März 2016

Kevin Tomhave und die 2. Chance



Wer viel mit Kindern und Jugendlichen zu tun hat, wird meine Beobachtung vielleicht bestätigen. Natürlich ist es Ziel jeder Lehrkraft oder Erzieherin, alle ihr anvertrauten Kinder und Jugendlichen gleichermaßen gern zu haben. Erreichen werden sie das Ziel jedoch nie. Zu unterschiedlich sind die Menschen, die dort auf Zeit zusammenarbeiten arbeiten (müssen). Sympathien sowohl von der einen, als auch von der anderen Seite werden sehr schnell wahrnehmbar.
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass weder das Lernvermögen, die soziale Herkunft oder irgendwelche äußerlichen Merkmale wie Kleidung, Statussymbole oder das Aussehen entscheidend für Sympathiepunkte sind. Ausschlaggebend war für mich immer das Sozialverhalten, in dem alle Tugenden sicht- oder spürbar werden, die darüber entscheiden, in welchem Umfang die Chemie zwischen zwei Menschen stimmt oder nicht.
Ganz schwer machten es mir die Kinder und Jugendlichen, die mir mit mehr oder weniger offen entgegengebrachter Feindschaft begegneten. Gott sei Dank gab es von denen nicht so viele.
Erheblich größer hingegen war die Gruppe, die durch ständige Regelverstöße auffiel. Auf der Beliebtheitsskala ganz unten fanden sich bei mir diejenigen, die meine Bemühungen um zwischenmenschliche Klimaveränderungen ignorierten und durch mieses Sozialverhalten gepaart mit ständige Regelverstößen auffällig wurden.
Nun sind zum Glück Menschen nicht wie verschiedene Schraubengrößen, die man einfach nach ihren Eigenschaften in unterschiedliche Schachtel einsortiert. Zwischen gut und böse, brav und ungezogen, dumm und intelligent, faul und fleißig gibt es jede Menge Schattierungen. Im Gegensatz zur Schraube, die ihre Eigenschaft nie ändert, sind besonders bei jungen Menschen durchaus Veränderungen und Entwicklungen möglich. Für die Beeinflussung menschlichen Denkens und Verhaltens in eine gewünschte, den gesellschaftlichen Werten entsprechende Richtung, haben wir uns den Begriff Erziehung geschaffen.

Ich möchte hier von Kevin erzählen. Kevin passte in keine Schachtel. Er war kein Schüler, der es seinen Lehrern leicht machte. Die Anfertigung der Hausaufgaben war Glücksache, Arbeitsmaterialien fehlten ständig, Hefte und Bücher machten schon wenige Wochen nach der Anschaffung den Eindruck, als seien sie schon Jahre im Gebrauch. Als würde das nicht schon genügen, neigte Kevin dazu, selbst kleinste Konflikte mit Gewalt zu lösen. Alles Eigenschaften, die in der Schule überhaupt nicht akzeptabel sind, Eigenschaften, die, ganz besonders bei Lehrern, dazu angetan sind, einen Menschen nicht mit sonderlich viel Sympathie zu bedenken.
Bei Kevin war es irgendwie anders.
Trotz der starken Negativbilanz hatte er etwas durchaus Liebenswertes an sich. Er zeigte sich stets höflich und hilfsbereit, fröhlich und häufig auch ausgesprochen humorvoll. Ich mochte ihn und war jedes Mal, wenn er wieder einmal bei mir wegen irgendwelcher Verfehlungen zum Gespräch in meinem Büro antreten musste, erstaunt, überrascht und enttäuscht, dass trotz des so intensiven und fruchtbaren Meinungsaustausches keine Verhaltensänderung eingetreten war.
Kevin hatte nahezu ein Abonnement auf die 2. Chance.
Ich bin nie wieder einem Menschen begegnet, dem so viel Nachsicht entgegengebracht wurde, wie ihm. Trotz vieler herber Rückschläge, gab ich die Hoffnung nicht auf, Kevin wenigstens zu gewaltfreier Konfliktlösung zu erziehen.
An einem Montagmorgen schien ich meinem Ziel für kurze Zeit schon sehr nahegekommen zu sein. Ausgeruht nach dem Wochenende kam ich am Morgen in die Schule. Neben dem Aufgang zum Lehrerzimmer lehnte Kevin mit strahlendem Lächeln am Geländer und begrüßte mich.
„Guten Morgen Herr Petersen.“
„Guten Morgen Kevin, Schönes Wochenende gehabt?“
„Ging so. Hab noch mal darüber nachgedacht.“
„Worüber?“
„Also über Gewalt und so.“
„Aha! Und, zu welchen Ergebnissen bist du gekommen?“
„Also, Herr Petersen, ich finde Gewalt echt scheiße, oh, Tschuldigung! Das soll nun anders werden.“

Also haben die vielen Gespräche so kurz vor der Schulentlassung doch etwas gebracht. In mir begann sich das wohlige Gefühl auszubreiten, das man in Verbindung mit Erfolg verspürt.
„Das ist doch eine sehr schöne Nachricht zum Wochenbeginn. Ich drücke dir die Daumen, dass alles so klappt, wie du dir das vorstellst.“
„Ja. Das Kapitel ist für mich jetzt abgeschlossen. Null Gewalt, Herr Petersen.“
„Fein“, sage ich. Und während ich die drei Stufen zum Verwaltungsflur heraufsteige, trifft mich die Realität in ganzer Härte.
„Also, Herr Petersen, (kleine Pause) nur, wenn mir einer dumm kommt, dem hau ich eins aufs Maul!“
Ach Kevin. Das war dann ja nur ein kurzer Lichtblick.

Der Junge hat die letzten Wochen seiner Schulzeit ohne nennenswerte Konflikte bewältigt. Zwei Wochen vor der Entlassung fragte ich ihn, was er denn nach der Schule anfangen wolle.
„Kraftfahrzeugmechatroniker!“
Das kam, wie aus der Pistole geschossen.
„Dafür brauchst du aber einen guten Schnitt. Wo hast du denn eine Lehrstelle?“
„Hab noch keine.“
„Oh, das wird aber Zeit. Wie viele Bewerbungen hast du denn schon verschickt?“
Er druckst etwas rum und bringt dann gequält raus:
„Keine.“
Ich glaubte meinen Ohren nicht zu trauen. Der Bewerbungsreigen war doch schon vor Wochen abgeschlossen.
„Wie denkst du dir das? Glaubst du, dass dich die Meister fragen kommen, ob du bei ihnen ausgebildet werden möchtest?“
„Ich habe ja schon ein paar Male angefangen. Dann konnte ich nicht weiter.“
Kevin, der Junge mit dem Abo auf die 2. Chance.
Wir haben uns am Nachmittag in der Schule getroffen und drei Bewerbungen auf den Weg gebracht. Durch meine Vermittlung hat es noch mit einer Lehrstelle geklappt.

Ein gutes Jahr später treffe ich Kevin auf der Straße.
„Und“, frage ich ihn, „wie läuft es mit der Lehre?“
„Da bin ich seit zwei Monaten weg. Der Chef war immer so komisch, nur, weil ich es manchmal nicht geschafft habe, pünktlich bei der Arbeit zu sein. Fang jetzt als Zeitsoldat bei der Bundeswehr an.“
Das war mein letzter Kontakt zu Kevin. Seit damals habe ich ihn weder wiedergesehen noch habe ich etwas von ihm gehört.

Wo er nun wohl um seine 2. Chance kämpft?
Vielleicht in Afghanistan oder Timbuktu?
Egal, Kevin!
Ich wünsche dir, dass du inzwischen deinen Weg gefunden hast, dass irgendwann die 2. Chance einmal die letzte sein wird,  weil keine 2. Chance mehr nötig ist.
Kevin ist aus meinem Leben verschwunden, nicht aus meiner Erinnerung.
Wie wird er wohl sein Leben gestaltet haben?

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