Freitag, 29. Mai 2015

Verkettung von Umständen



Also, nur, dass das schon mal gleich klar ist. Hier geht es um Verkettung! Hat nichts mit Kettenreaktion zu tun. Ihr wisst ja, Kettenreaktion, das war die Geschichte mit der Kuh Paula, meinem Vater in der Kuhsch… und der Ohrfeige, die ich - natürlich völlig zu Unrecht - von ihm bekam.
Ich sollte in der Nacht eine Gruppe von Schulkindern auf der Reise zum Schilaufen im Bregenzer Wald begleiten. Wie der Teufel es will, kündigt sich einen Tag vor der Abreise eine Grippe an mit Halsschmerzen und Schnupfen. Am Reisetag kam dann noch Fieber hinzu. Ich besorgte mir diverse Mittelchen, um die Beschwerden zu lindern, das Fieber zu senken, und beschloss, die Reise trotz Krankheit anzutreten.  
Am Abend des Reisetages stiegen wir in Hemmoor in den Metronom, um dann in Hamburg in den Nachtzug nach Lindau umzusteigen. Auf dem Hauptbahnhof hatten wir dreißig Minuten Wartezeit. Es war sehr kalt und zugig und ich beschloss die Wartezeit in einem der kleinen aber warmen Bistros oben auf der Fußgängerbrücke zu verbringen. Das Fieber machte sich schon wieder unangenehm bemerkbar. Ein heißes Getränk sollte Linderung verschaffen.
Ein Blick auf meine Uhr, noch 12 Minuten.
Langsame schlürfe ich den heißen Kaffee in mich hinein. Der Pappbecher ist geleert, ich blicke auf die Uhr, es sind noch 12 Minuten bis zur Abfahrt des Zuges.
12 Minuten?!! Es waren doch schon bei der letzten Kontrolle 12 Minuten.
Ein Blick auf die Bahnhofsuhr brachte die Lösung. Was höchstens alle zwei Jahre geschieht, war eben eingetreten: Die Batterie meiner Armbanduhr hatte ihren Geist aufgegeben!
Die Uhr zeigte genau die Abfahrtzeit  des Zuges nach Lindau an. Wie von der Tarantel gestochen hastete ich die Treppe hinab, stolpere bei fast jeder dritten Stufe. Alle Mühe vergebens. Gerade als ich auf dem Bahnsteig anlangte, setzte sich mein Zug in Bewegung. An mir vorüber gleiten die fassungslosen Gesichter meiner Kollegen, die es nicht glauben können, dass ich nicht im Zug sitze.
Im Gegensatz zu mir ist mein Gepäck mit der Gruppe gereist.  Die roten Schlussleuchten des „Night Riders“, so nennt sich dieser Nachtzug mit PKW – Beförderung über Bremen, Hannover und Frankfurt an den Bodensee, verschwinden hinter der Kurve am Bahnhofsende in der dunklen Nacht.
Viele Dinge gingen mir durch den Kopf. Zurück nach Freiburg? Übernachten in Hamburg? Oder mit dem nächstmöglichen Zug nach Bregenz hinterherreisen?
Eine pfiffige Frau in der Auskunft wollte selbst nicht glauben, dass kein Zug mehr nach Süden abgehen sollte und überprüfte noch einmal die Fahrpläne. Als ich schon wieder vor der Tür ihres kleinen Dienstraumes stand, holte sie mich ein.
„Wenn Sie sich beeilen, erreichen Sie den Intercity nach Hannover, der steht wegen einer Verspätung noch auf Gleis 6. Laufen Sie, ich stoppe ihn und dann können Sie den Night - Rider in Hannover noch erwischen.“
Richtig kapiert habe ich das alles nicht mit meinem Fieberkopf; aber ich bin noch einmal gerannt in dieser Nacht und saß mit dem Pfiff des Fahrdienstleiters im Zug nach Hannover.
Irgendwo bei Lüneburg sollte ich meine Fahrkarte vorzeigen. Ich erzählte meine Geschichte, die Schaffnerin lachte schadenfroh und verschwand mit den Worten:
„Ich kümmere mich mal um Sie.“
Ein paar Minuten später kehrte sie zurück.
„Ich habe Ihren Fall durchgegeben. Mein Kollege in Ihrem richtigen Zug will Ihren Kollegen Bescheid geben. Gute Reise und viel Glück!“
Oh, mein fehlendes Ticket war gar kein Thema!
Ich bekomme eine Handyverbindung zu meiner Gruppe und kündige an, dass ich vermutlich 7 Minuten vor ihr am Hauptbahnhof in Hannover eintreffen werde. Sie wussten es bereits und waren gerade dabei, Bremen zu verlassen.
 Inzwischen waren schon die ersten 40 Minuten des neuen Tages verstrichen.
Mein Hals kratzte unangenehm, das Fieber war dank eines fiebersenkenden Mittels gefallen und war nicht mehr das große Problem. Uelzen, Celle und dann die Durchsage, dass wir in wenigen Minuten den Hauptbahnhof Hannover erreichen würden.
Alles wird gut!
Der Zug verlangsamt bereits spürbar seine Geschwindigkeit. Da werden die wenigen Menschen im Großraumwagen von einem Knall und anschließendem lauten Geratter aus ihren Gedanken oder sogar Dämmerschlaf hochgeschreckt. Nach weniger als einer Minute steht der Zug. Totenstille tritt ein. Langsam kehrt wieder Leben in die verschreckten Fahrgäste zurück, erste Stimmen sind zu hören.  Wildfremde Menschen treten in einen lebhaften Dialog über die Ursache des gerade verklungenen Getöses mit drauffolgendem  Zug Stopp.
Endlich, die erlösende Durchsage.
„Verehrte Fahrgäste, der Zug ist aus dem Gleis gesprungen! Bitte bleiben Sie an ihren Plätzen und warten Sie auf weitere Anweisungen des Zugpersonals.“
Ich rufe meine Leute im Night-Rider an. Peter wirkt etwas aus dem Schlaf gerissen. Als ich ihm erzählte, dass mein Zug soeben entgleist war, tat er es ab, als hätte ich mal wieder einen Flachwitz rausgelassen.
„Ja, ja, wir stehen auch gerade, weiß nicht warum, sehen uns in Hannover.“
„Sehe ich noch nicht so“, gab ich zur Antwort.
Angekommen sind meine Worte wohl nicht mehr, die Verbindung war bereits unterbrochen.
Eine Durchsage kündigte sich durch Knacken aus dem Lautsprecher und anschließendes Geräusper an.
„Sehr verehrte Fahrgäste der Deutschen Bahn. Bitte nehmen Sie ihr Gepäck und gehen Sie durch den Zug bis in den ersten Wagen. Dort befolgen Sie dann bitte die Anweisungen des Zugpersonals.“
Gepäck hatte ich nicht. Vorne im Zug gab es einen Stau. Einer nach dem anderen verließ den Zug und als ich an der Reihe war, musste ich mit Hilfe des Personals herabsteigen ins Gleisbett.
„Bitte folgen sie den anderen im Gleisbett bis zum Bahnsteig!“
Nun sah ich es auch schon. Vielleicht 500 Meter vor mir begannen die beleuchteten Bahnsteige des Bahnhofes Hannover.
Es war nicht so bequem auf dem Schotter der Bahn zu laufen. Dennoch war der Bahnsteig schnell erreicht. Ich wechselte auf den Bahnsteig 7 und, oh Wunder, der Night-Rider aus Bremen kommend lief soeben ein.
Ich musste mir schon den einen oder anderen blöden Spruch von  meinen  Kolleginnen und Kollegen anhören. Wo gibt es denn auch so etwas? Lehrer verpasst Zug und lässt seine SchülerInnen ohne ihn abfahren!?
Thekla, eine Schülerin aus der 6. Klasse, öffnet die Augen und glaubt zu träumen.
„Herr Petersen, was machen Sie denn hier? Sie sind doch in Hamburg!“
Ohne eine Antwort abzuwarten, schloss sie wieder die Augen und schlief weiter.
Auch mein zweiter Versuch, meinen Freunden von der Zugentgleisung zu berichten, scheiterte kläglich.
So ist das eben. Wer einmal …
Was wollte ich eigentlich noch sagen? Ach ja, es ging um Verkettung von Umständen. Keine Kettenreaktion! Dass ich den Zug verpasst hatte, hatte ich ebenso einer Verkettung mehrerer Umstände zu verdanken, wie das Erreichen des verpassten Zuges in Hannover.
Und nun noch einmal zu meiner Ehrenrettung. Ein kleiner Artikel auf der Norddeutschland Seite des Tageblattes über die Zugentgleisung vor dem Bahnhof Hannover rehabilitierte mich dann doch noch vor meinen Freunden.

Vom Zufall



Aus der Geschichte kennt man, dass ganze Kleinigkeiten, Zufälle  die irrwitzigsten Folgen haben.  Wäre Kolumbus damals nicht in die verkehrte Richtung gesegelt, würden wir vielleicht heute noch nichts von Amerika wissen (ha,ha).
Glück für die Menschheit!
Oder, hätte der kleine Schwächeanfall von Frau Hitler, geb. Pölzl,  am 7.5.1889 in Braunau nur vier Minuten länger angedauert, wäre der kleine Adolf in der Badeschüssel ertrunken. 
Pech für die Menschheit!
So ist das mit den Zufällen.

Nicht ganz so folgenschwer für die Menschheit, aber schön für die Entwicklung des kleinen Elbeflecken Freiburg,  noch so ein Zufall:
Dank des unermüdlichen Einsatzes des damaligen Bürgermeisters wurde der Flecken Freiburg in die Städtebauförderung des Landes Niedersachsen aufgenommen. Mit Landesmitteln wurde die Gewerbebrache eines Landhandels mit diversen Gebäuden am Hafenrand in den Besitz des Fleckens  gebracht. Auch mit Landesmitteln wurden Lagerschuppen, Hochsilo und Nebengebäude abgebrochen. Stehen blieb auf dem Gelände nur ein hässliches Gebäude, verunziert durch viele Veränderungen, die immer wieder durch die Anpassung an geänderte Nutzungen entstanden. Ungefähr 250 Jahre alt war das Gebäude und stand unter Denkmalschutz. Was es da zu schützen gab, erschloss sich derzeit nur den wenigsten Menschen. Tauben und Ratten hatten das Haus zum Leidwesen der Nachbarschaft besetzt.
„Afrieten! Wech mit denn Schiet!“
So einfach geht das aber nicht, wenn ein Gebäude erst einmal von den Behörden als schützenswert eingestuft ist, und das war beim Kornspeicher der Fall.
Erst als alle Bemühungen des Fleckens, Investoren für das arg sanierungsbedürftige Haus  zu finden, fehlschlugen, dachte man im Fleckensrat ebenfalls über Abriss nach.
Ich gehörte seinerzeit zu der Freiburger Minderheit, die das historische Gebäude um jeden Preis erhalten haben wollte. Es wollte sich mir nicht erschließen, dass eine Gemeinde, die am Ortseingang mit ihrem historischen Ortskern wirbt, nun ernsthaft plante, eines seiner ältesten Gebäude abzubrechen.
Als nun der Abriss des Gebäudes auf der Tagungsordnung des Gemeinderates stand, habe ich mich zur Ratssitzung begeben, um die Debatte und anschließende Beschlussfassung zu verfolgen. Es kam nicht anders als erwartet. Der Speicher hatte keine Lobby, allenfalls wurde Bedauern geäußert, dass leider keine andere Wahl bestünde, als das Haus abzureißen. Und so lautete dann auch der Beschluss.

Nach dem öffentlichen Teil der Sitzung verließ ich den Raum unter dem Dach des Rathauses. Auf dem Weg über die Treppe ins Erdgeschoss begleitete mich eine Freiburgerin, die sich durch den Abrissbeschlussbeschluss sehr betroffen zeigte.
„Das ist doch zu schade, dass dieses alte Haus nun aus Freiburg verschwinden soll. Man müsste eine Bürgerinitiative gründen, die sich für den Erhalt des Baudenkmals einsetzt.“
„Das wäre nicht schlecht“, stimmte ich ihr zu.

Was ich nicht wusste: Hinter mir ging die Redakteurin des Stader Tageblattes, die über die Ratssitzung berichten wollte. Sie musste unser Gespräch auf der Treppe mitgehört haben. Anders kann ich mir den Bericht im Tageblatt nicht erklären.
Dort stand am Ende der Berichterstattung über die Speicherdebatte in etwa zu lesen: „Der Beschluss des Rates stieß nicht nur auf Zustimmung. Der ehemalige Freiburger Ratsherr Jörg Petersen erwägt eine Bürgerinitiative zu gründen, um den Abriss des denkmalgeschützten Speichers zu verhindern.“
Im Laufe des Erscheinungstages klingelte mehrfach mein Telefon und Freiburger Bürgerinnen und Bürger beglückwünschten mich zu meiner Idee und wollten der BI beitreten.
Aus der BI wurde dann 2003 ganz schnell ein Verein, der bis heute im Februar 2015 auf 750 Mitglieder angewachsen ist. Diesem Verein ist es dann in der Folgezeit nicht nur gelungen, den Abriss des Hauses zu verhindern. Er wurde Eigentümer des Kornspeichers und hat ihn bis ins Jahr 2014 hinein mit viel Eigenarbeit und Hilfe von den unterschiedlichsten Förderern saniert und zu einem Soziokulturellen Zentrum der Region hergerichtet.

Heute kann sich kaum noch jemand in der Region vorstellen, dass es den Freiburger Kornspeicher um Haaresbreite nicht mehr gegeben hätte.
Zufall? Schicksal?
Wie wäre es gelaufen, wenn ich damals lieber auf dem Sofa geblieben wäre statt zur Ratssitzung zu gehen? Was wäre aus dem Speicher geworden, wenn die Redakteurin nichts von einer tatsächlich nicht geplanten Bürgerinitiative geschrieben hätte?

Wer weiß das schon, aber schön, dass es so gekommen ist, wie es ist.

Armut hat ein Gesicht


Ich fahre in der S-Bahn in Berlin. Mir gegenüber sitzt eine Frau, sie kann 50, 60 oder vielleicht auch 70 sein.  Ihr Gesicht ist grau und außer den tiefen, braunen Augenhöhlen  gibt es keine andere Farbe. Ihr  Blick ist teilnahmslos, scheint durch mich hindurch zu gehen. Ihre Kleidung ist abgetragen, farb- und freudlos wie ihr Gesicht, und die Schuhe passen nicht zur kalten Jahreszeit.
„Armut hat ein Gesicht“, denke ich wieder einmal, hier in der Großstadt noch einmal mehr als bei uns auf dem Dorf.
Armut zeigt sich auf mannigfaltige Weise und nicht immer sind Menschen, die offensichtliche Merkmale von Armut aufweisen, tatsächlich arm. Ebenso, wie es arme Menschen gibt, denen Armut auf den ersten Blick nicht anzusehen ist.
Warum beschäftigt mich dieses Thema?
Soll ich weiterschreiben, Lena? Du sprichst von Stigmatisierung.
Das liegt mir fern, das will ich auf gar keinen Fall.
Ich beobachte meine Umwelt, beobachte, was sie mit mir macht.

Wenn ich nun weiter schreibe,  glaube ich, dass es damit zu tun hat, dass Armut mir in den letzten Jahren vermehrt begegnet. Und das beileibe nicht nur in der Großstadt Berlin, wo armselige Gestalten verdreckt und verwahrlost betteln, wo Obdachlose in jedem Zug und an markanten Punkten in der Innenstadt ihre Magazine zum Verkauf anbieten und wo Menschen im Februar am helllichten Tage im Windschutz eines Verteilerkastens auf dem Bürgersteig oder in einem Hauseingang schlafen.
Armut begegnet mir auch hier, bei mir auf dem Dorf. Sie sieht etwas anders aus, als in der Großstadt. Hier nächtigt niemand auf dem Bürgersteig.
Armut, die ich meine, begegnet mir an der Kasse im Supermarkt. Ihr Gesicht wird deutlich an den Waren auf dem Laufband. Verräterisch ist die Kombination von preiswertem Korn und Coca Cola oder anderen Limonaden, die sich zum Strecken des Alkohols eignen. Billiges Dosenbier, Zigaretten gehören zu den immer wiederkehrenden Artikeln ebenso wie billigste eingeschweißte Lebensmittel. Gemüse, Obst und Nahrungsmittel, die zum Kochen von Mahlzeiten benötigt werden, fehlen fast gänzlich. Meistens wird nur in kleinen Mengen eingekauft und beim Bezahlen müssen der Leergutzettel und Kleingeld aus der Hosentasche herhalten. Einkäufe werden in Plastiktüten fortgetragen, die schon mehrfach den Weg zum Einkaufsmarkt gemacht haben, oder sie werden einfach so im Arm gehalten.
Diese Armut geht häufig einher mit einem ungepflegten äußeren Erscheinungsbild: Vernachlässigte Körperpflege, unreine und schadhafte Kleidung. Die Kleidung ist oftmals nicht der Jahreszeit angepasst aber sie reicht den TrägerInnen für den Weg zum Einkauf und zurück.
Diese Armut zeigt sich mir nicht selten in Übergewicht oder  Untergewicht, beides in ungesundem Maße. Sie erzeugt Krankheiten und erschwert deren Heilung, Körper und Gesichter verraten Krankheit und / oder ungesunde Lebensweise.
Diese Armut, die ich hier beschreibe,  hat einen Geruch. Ich nehme ihn wahr, wenn sie mir zwischen den engen Gängen im Einkaufsmarkt oder in Warteschlangen vor der Kasse begegnet. Es ist der Geruch von Tabak gemischt mit langgetragener Kleidung, Körperausdünstungen, muffigen, ungelüfteten Räumen und manchmal an Ofenheizung erinnernd, obwohl heute wahrscheinlich kaum noch jemand Ofenheizung hat. Es ist der Geruch alter Häuser, billigen Wohnraumes, von dem es hier mehr gibt, als anderswo.
Diese Armut geht nicht selten einher mit einem niedrigen Bildungsstand, der sich durch eine einfache, bisweilen vulgäre  Sprache zeigt. Zeitungen oder Bücher gehören nicht zur Erfahrungswelt jener Menschen, die ich hier beschreibe.
Meist schließt sie, die Armut von der ich spreche, aus von der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben sowie dem Kultur- und Vereinsbetrieb.  Im schlimmsten Fall fehlt es den Menschen an Sozialkontakten. Wenn sie zustande kommen, dann oftmals nur im gleichen Milieu.  Arme Menschen verfügen über sehr geringe oder keine Mobilität. Sie besitzen meist kein Auto, oft nicht einmal ein Fahrrad.

Was macht es mit mir, wenn ich all das um mich wahrnehme, was ich gerade beschrieben habe?
Ich bin froh, dass ich ein anderes Leben leben kann. Es wächst in mir eine Dankbarkeit für das allzu lange selbstverständlich gelebte Leben im Wohlstand und gelegentlich, aber immer häufiger, beschleicht mich ein Gefühl von Scham. Scham, weil ich sehe, wie unsere Gesellschaft diese Verhältnisse produziert und  sich nicht ernsthaft bemüht, diesen Zustand zu beheben. Scham, weil ich realisiere, dass ich als Teil dieser Gesellschaft wegschaue statt Initiative zu ergreifen.  Es macht mich nachdenklich, traurig, rat- und hilflos und zunehmend wütend – allemal, wenn ich sehe, wie Kinder in diese Armut hineinwachsen und abzusehen ist, dass ihnen vermutlich meist kein anderes Schicksal, als das der Eltern bevorsteht.

Die Fahrausweise bitte



Wir sind auf dem Weg nach Berlin. Ostermontag, die S-Bahn in Stade ist nur wenig besetzt. Vor uns ein Ehepaar. Sie trägt ein Kopftuch. Vielleicht sind sie 50 oder auch 60 Jahre. Genau lässt es sich nicht sagen. Es sind Südländer. Araber vielleicht oder auch Türken oder Roma irgendwo vom Balkan. Der Mann sprach am Handy eine Sprache, die ich keiner Nationalität zuordnen konnte.
Agathenburg, erste Station nach Stade. Die Tür geht auf und drei junge Männer steigen ein. Kaum, dass die Türen geschlossen waren, setzen sich die neuen Fahrgäste  zu uns in Bewegung.
„Die Fahrausweise bitte!“
Das sind keine Bahnbediensteten, die die Karten kontrollieren. Ihnen genügt der Ausdruck des Onlinetickets. Es sind Spürhunde des HVV in Zivil. Es gibt nichts zu beanstanden bei uns. Das Ehepaar mit dem fremdländischen Teint vor uns ist dran. Es scheint dort Probleme zu geben. Einer der Kontrolleure nimmt irgendwelche Daten auf, scannt Strichcodes ein und druckt Belege aus. Mann und Frau bekommen jeder einen Beleg mit einem Überweisungsträger in die Hand.
„Hhm, Schwarzfahrer,“ denke ich.
Sie sitzen nur 50 cm von mir, ich höre sie nicht sprechen. Die ihnen zugereichten Belege nehmen sie kommentarlos hin. Der Kontrolleur verabschiedet sich mit den Worten: „Nächste Station aussteigen, Karte kaufen. Sonst bin ich wieder hier.“
Nächste Station ist Dollern. Hatte ich etwas verkehrt verstanden? Hatten die beiden etwas nicht verstanden? Sie blieben jedenfalls seelenruhig sitzen. Ihre Gesichter konnte ich nicht sehen, sie saßen mit dem Rücken zu mir.
Der Zug setzt sich wieder in Bewegung. Die drei Kontrolleure schienen nur darauf gewartet zu haben. Kaum, dass der Zug rollte, druckte einer von ihnen erneut einen Beleg aus. Sein Kollege bewegte sich auf die beiden Schwarzfahrer zu, überreichte die Papiere und wiederholte: „Nächste Station Fahrkarte kaufen, aussteigen!“
Was soll das nun?
Nächste Station ist Horneburg. Unsere Begleiter bleiben immer noch sitzen. Ich beobachte die Kontrolleure. Sie beobachten die Schwarzfahrer. Hinter Horneburg wiederholt sich die Prozedur. Neue Belege werden ausgedruckt.
Entweder sind die beiden vor uns total abgebrüht oder sie sind ohne jegliche Sprachkenntnisse, verstehen nicht, was man von ihnen erwartet. Ich nehme die zweite Variante an, versetze mich in deren Lage. Könnte mir auch irgendwo in der Fremde so ergehen, dass ich ohne schlechte Absichten zu haben, etwas falsch mache. Der Kontrolleur erscheint erneut beim Ehepaar, drückt ihm kommentarlos die Bons mit Überweisungsträger in die Hand. Ich erhebe mich und sage zum Kontrolleur: „Warum machen Sie das, wie soll das so weiter gehen?“
Keine Antwort. Er geht zurück zu seinen Kollegen.
Jede Station 80 Euro, also 2 X 40 Euro, geht mir durch den Kopf. Bis zum Hamburger Hauptbahnhof sind es dann schnell mal 1000 Euro überschlage ich. Ich stehe auf. Gehe zu den drei Männern, die erbarmungslos das tun, was sie für ihre Pflicht halten.
„Warum machen Sie das? Wissen Sie, ob die beiden überhaupt Deutsch verstehen?“
„Die verstehen genug Deutsch, das wissen wir genau.“
„Woher wollen Sie das wissen? Kennen Sie die beiden?“
„Nein, aber das wissen wir. Wollen Sie immer höhere Fahrpreise zahlen, weil die da nie bezahlen wollen?“
„Ich verstehe ja, was Sie meinen. Aber, wenn die kein Deutsch verstehen, können Sie ihnen hundert Mal erzählen, dass sie aussteigen müssen, um sich eine Karte zu kaufen. Es wird nichts nützen.“
Station Neukloster Hedendorf liegt gerade hinter uns. Die „Schwarzfahrer“ bekommen keinen neuen Zettel. Ich gehe zu den beiden und frage: „Verstehen Sie Deutsch?“ Keine Regung, kein Zeichen des Verstehens.
„Sie verstehen kein Deutsch, “ sage ich laut. Ein Junge zwei Sitzbänke weiter teilt meine Vermutung mit gebrochenem Deutsch.
Ich setze mich wieder. Die Kontrolleure beobachten mich aus dem Augenwinkel. Nächste Station Buxtehude. Sie verlassen das Abteil. Die „Schwarzfahrer“ bleiben sitzen, als hätten sie nur Werbezettel für ein Kino oder eine Schnellrestaurantkette bekommen.
Fischbek, Neugraben, Neuwiedenthal, Heimfeld. Sie sitzen immer noch dort. Einmal unterbricht das Telefon ihr Schweigen, der Mann spricht wieder in einer mir unbekannten Sprache. Harburg Rathaus. Ich blicke über den Bahnsteig. Als ich den Blick wieder zurück ins Abteil wandte, waren sie weg. Ich habe ihren Abgang nicht bemerkt.
„Oh, sie sind weg!“
„Hast du das nicht gesehen? Weiß nicht, so frech wie die Frau gelacht hat, man konnte fast meinen, dass sie sich über die Situation lustig gemacht hat. Vielleicht war das eine Masche von ihnen. Das könnte ich überhaupt nicht leiden.“
„Kann schon sein, aber so, wie die drei Kerle sich aufgeführt haben, schien es ja fast schon so, als bekämen sie für jeden Überweisungsträger, den sie ausgeben, ein Kopfgeld.“
Nein, dachte ich, ich möchte niemals, dass mir so etwas passiert in einer Situation, in der ich weder die Sprache noch die Regeln meiner Umgebung beherrsche.