Freitag, 3. April 2015

Old warn is nix!



Old warn is nix! Das hat Maria mir bei unserem letzten Besuch gesagt. Maria und Heinrich sind nicht nur sehr alt sondern auch meine Schwiegereltern. Er fast Mitte neunzig und sie knapp unter neunzig, bewältigen ihren Alltag unter Einsatz von viel fremder Hilfe „man grad soeben“. Das Alter hat ihnen, die  viele Jahrzehnte  nie krank waren, die nie erlaubten, dass Krankheiten sich in ihren Körpern breit machten, deutliche Grenzen aufgezeigt. Maria kann sich kaum auf den Beinen halten vor Schmerz in ihren Beinen und Knien. Sie zwingt sich gegen den Schmerz  aus dem Sessel hoch und taumelt trotz Stockes die ersten Schritte von Möbel zu Möbel, so dass ich immer aufspringen möchte, um sie auffangen zu können. Irgendwie hat sie es immer noch gerade so geschafft von der Stube zur Küche und wieder zurück.
Heinrich hat keine Schmerzen. Er ist nur immer müde, schläft fast den ganzen Tag in seinem Bett. Die größte Anstrengung besteht darin, aufzustehen und sich anzukleiden. Erschöpft von dieser Arbeit und dem kurzen Weg vom Schlafzimmer in die Küche sinkt er auf einen Stuhl. Sein Herz hat ihn in den letzten Jahren immer mehr im Stich gelassen. Mir kommt es unwirklich vor, dass dieser ehemalige Flieger, den ich kennenlernte, als er fast fünfzig Jahre alt und voller Vitalität war, dass dieser Mann irgendwann einmal alt werden würde.  
Gemeinsam mit Maria hat er vier Töchter und einen Sohn großgezogen. Beide, Maria und Heinrich haben ihr Leben lang gearbeitet und verzichtet für die Familie und den Betrieb, der sie alle ernähren musste. Alle fünf Kinder haben das Gymnasium besucht und erfolgreich ein Studium abgeschlossen. Sie lebten ein Leben, das so ganz anders war, als das, das ihnen ihre Kinder und Enkel vorlebten. Ich erlebte ihre Bescheidenheit, Großherzigkeit, Klugheit, Warmherzigkeit und Toleranz und verehrte und verehre sie dafür. Man merkte ihnen den Stolz auf ihre erfolgreiche Nachkommenschaft an und sie machten nie einen unglücklichen Eindruck auf mich.
Nun sitze ich hier bei ihnen am Küchentisch. Das Zeitfenster, in dem ein Besuch bei Heini und Maria Sinn macht, ist klein geworden. Wir reisen so an, dass sie möglichst beide auf den Beinen sind.  Das ist in der Regel kurz vor Mittag. Wir kommen meistens unangemeldet. Andernfalls würde Maria sich stundenlang den Kopf zermartern, weil sie in ihrer Gebrechlichkeit nicht weiß, wie sie uns ein Essen kochen soll. Nicht selten bringen wir jetzt etwas mit zum Essen.
Heute waren wir angemeldet. Für ein Essen reichten die Kräfte nicht und auch der Kaffeetisch für das zweite, ausführliche Frühstück, das wir gemeinsam einnehmen wollten, war nur halb gedeckt. Widerstrebend lässt Maria zu, dass ihre älteste Tochter sanft die Regie in der Küche übernimmt. Trauer über ihre Unzulänglichkeit spricht aus ihren Augen, wie sie so auf den Stock gestützt und gegen ihre Küchenzeile gelehnt das Treiben um sie herum beobachtet. Dann gibt sie sich einen sichtbaren Ruck. Sie muss ins Schlafzimmer und Heini hochhelfen. Sonst bleibt er ja einfach liegen und niemand hilft ihm. Sie wankt zum Schlafzimmer und ich denke, dass ich hier der Zeuge bin, wie zwei Menschen am Ende ihres Lebens die letzten Kräfte mobilisieren, um ein letztes bisschen Unabhängigkeit zu bewahren.
Wie lange mag das noch gut gehen, denke ich bei diesem Anblick.
Heinrich kommt mit dem Gehstock hastig in die Küche und lässt sich auf seinen Stuhl fallen. Es erinnert mich ein wenig an die Bilder, die ich von Leichtathleten kenne, die sich mit letzter Kraft über die Ziellinie stürzen.  Was ist aus diesem ewigjungen Kerl geworden, denke ich beim Anblick meines hageren Schwiegervaters.
Dann sehe ich in seine Augen. Es sind immer noch die Augen die ich als junger Mann bei ihm kennengelernt habe. Neugierig, aufmerksam und lebendig. Er freut sich und lacht will sich sofort ins Gespräch mit seinem Besuch begeben. Das ist nicht so leicht, weil es ihm immer schwerer fällt, seine Gedanken in Worte zu fassen. Man kann sich gut mit ihm unterhalten, wenn man allein mit ihm ist, ihm Zeit lässt, Gedanken und Worte zu ordnen. Maria, mit zunehmendem Alter nicht nur ungeduldig mit sich selbst, lässt ihm die Zeit meist nicht, antwortet für ihn, spürt nicht, dass da etwas aus dem Kopf ihres Mannes heraus möchte. Meistens resigniert er bald und verfolgt das Geschehen um sich herum schweigend.
Heini hört ja so schlecht erklärt sie uns sein Schweigen.
Es geht ihm vermutlich ebenso, wie den meisten alten Menschen, die bei mehreren Stimmen zugleich nichts mehr verstehen. Seit nunmehr schon fast zwei Jahren achten wir darauf, dass wir alleine sind mit den Eltern und die junge Familie von Kerstin sich in ihr Haus zurückzieht, wenn wir kommen. Besonders intensive Gespräche führen wir, wenn wir allein mit einem von beiden sprechen. Heini blüht auf und kann erstaunlich gut seine Gedanken vortragen. Maria kann in Ruhe mit Ulla über die Dinge reden, die sie bewegen.
Jetzt am Esstisch beobachte ich, wie schnell Heinrich sich zurückzieht.
Hei hört jo so schlecht!
Maria verfällt immer häufiger in die Sprache ihrer Kindheit. Ja, mit dem Hören ist es wirklich ein Problem. Auch bei Maria, obwohl sie es wegen eines im letzten Jahr angeschafften Hörgerätes besser haben könnte. Aber wozu soll sie „de Dinger“ ins Ohr packen, wenn sie doch auch so ganz gut hören kann.
Wenn Heini man ein bisschen besser hören würde.
 Manchmal streiten sich die beiden sogar, weil sie sich gegenseitig vorwerfen, nicht anständig hören zu können.
Ja, wenn er doch ein bisschen besser hören täte.
Heini schiebt mir den Zuckerpott rüber und fragt wie all die 40 Jahre, die ich ihn nun schon kenne, ob ich Zucker nehmen würde.
Nein, nur Milch. Obwohl ich sonst immer gerne für Süßes zu haben bin, sage ich, zum Beispiel Schokolade.
Maria hört zu und erzählt von der Marmelade bei ALDI, die wohl mehr Zucker hat als Früchte.
Habt ihr auch Marmelade von ALDI?
Nein, wir kochen sie selber oder kaufen mal bei EDEKA.
Heini will etwas sagen, kommt erst nach allgemeinem Redestopp zu Wort und spricht mich an:
Hast du Schokolade oder Marmelade gesagt?
Schokolade!
Ich dachte schon, ich hätte etwas Verkehrtes verstanden, weil Mama immer von Marmelade spricht.
Ja, schaltet Maria sich ein, ich habe erzählt, dass wir die ALDI Marmelade auch nicht nehmen, weil die so süß ist. Papa hört nicht richtig zu!
Sie hat nicht gemerkt, dass sie nicht richtig verstanden hat, was ich Heini geantwortet hatte. Er hatte aber alles verstanden, auch Marias Auslassungen über Aldi Marmelade.
Weil er ganz richtig von mir „Schokolade“ gehört hatte, begann er an sich zu zweifeln.
Nun war er glücklich, hatte er doch alles richtig verstanden.
Maria redet weiter von der süßen Marmelade, hat auch die Antwort auf Heinis Frage nicht richtig verstanden.
Es wird Zeit für Mittagsruhe. Maria, Heinrich und ich begeben uns ins Wohnzimmer. Ich werde nahtlos in das tägliche Ritual einbezogen. Heini legt sich auf das Sofa und wird von Maria, die sich kaum auf den Beinen halten kann, mit einer Decke zugedeckt.
Er friert ja immer so schnell.
Und das, obwohl mein Hemd im hoffnungslos überheizten Wohnzimmer schon am Rücken zu kleben beginnt. Maria setzt sich auf einen Sessel und legt die Füße hoch auf einen gepolsterten Hocker. Ich mache es mir auf dem letzten Sessel bequem.
Heini schläft auf dem Rücken liegend nach wenigen Augenblicken ein.
Nu schlöppt hei all wedder!
Maria blättert etwas in der Sonntagszeitung.
Ulla steckt den Kopf zur Tür rein. Sie ist fertig mit der Küche.
Kerstin (gemeint Ulla), kannst mi mool eben miene Dinger, miene Hörgeräte ut de Schloopstuv holen?
Ich denke, dass ich etwas nicht richtig verstanden habe. Dann aber kommt Ulla mit einem Etui und Maria beginnt damit, sich die Hörapparate in die Ohren zu fummeln.
Maria, warum machst du die Teile ins Ohr, wenn du nun schlafen willst?
Wat hest du secht, Jörch?
Warum machst du die Teile ins Ohr, wenn du nun schlafen willst?
Inzwischen sitzen „de Dinger“ richtig.
Sonst hör ick doch nich, wenn een koomt!
Ulla hat sich oben im Haus zur Ruhe begeben und ich zeige mich mit meinen Schwiegereltern solidarisch und genehmige mir ein Mittagsschläfchen.
Nach zwei Stunden sind alle wieder da. Maria ist wackeliger denn je. Die kaputten Glieder schmerzen und sie muss große Schmerzen überwinden, um sich aus dem Sessel erheben und die ersten Schritte machen zu können. Dankbar lässt sie sich das Decken des Kaffeetisches von uns aus der Hand nehmen. Kuchen isst Heini gerne und mit Freude nehme ich wahr, dass seine Liebe für Schlagsahne durch sein Alter nicht gelitten hat. Sahne darf es immer noch einmal etwas mehr sein. Wir sitzen eine Stunde am Kaffeetisch, es wird bereits dunkel. Wir bereiten unseren Aufbruch vor und es wird kein Versuch unternommen, uns zu längerem Bleiben zu bewegen. Kerstin, Bernd und Anton kommen in die Stube. Anton mit seinem sechsjährigen Temperament bestimmt das Geschehen von der ersten Minute an. Er möchte nicht unbeachtet sein und tut alles für volle Aufmerksamkeit. Heini schaut in die Runde, er versteht nichts.
Die beiden Alten sind erschöpft und sie haben noch zwei schwierige Aufgaben vor sich: Abendessen und zu Bett gehen!

Ulla und ich sitzen im Auto auf dem Heimweg nach Freiburg. 2 Stunden Autofahrt, wenn alles glatt läuft. Wir reden nicht, jeder ist in Gedanken bei den Eltern. Ratlos, hilflos. Man möchte den beiden so gerne helfen; aber das, was sie am dringendsten brauchen, Kraft und Mobilität, können wir ihnen nicht geben. Wir können ihnen auch nicht die Angst nehmen, vor dem, was da noch auf sie zukommt. Wir können sie aber besuchen und ein klein wenig Abwechslung in ihren  so anregungsarmen Alltag bringen. Wir sollten einfach in kürzeren Abständen zu ihnen fahren.
Was meinst du, Ulla?
Old warn is nix, denke ich.
Heinrich und Maria, ich wünsche euch von ganzem Herzen für die letzte Zeit ein Leben in Würde.
Bis bald, ich hab euch gern!

Kariiibik in Kroatien



Bin ich auf Mallorca und begegne den Ballermann Landsleuten, fühle ich mich ganz anders als zu Hause und schon gar nicht wohl. Ganz anders meine Begegnung mit Landsleuten in Kroatien.

Ein Flugzeug brachte uns von Hamburg zum kleinen Flugplatz von Rijeka. Die Flugpläne erforderten, dass wir bereits zwei Tage vor einer gebuchten Reise über die norddalamatinischen Inseln anreisen mussten. Da wir gewohnt sind, frei zu reisen und unseren Tag selbst zu gestalten, hatten wir uns für den kommenden Tag eine Wanderung über die 12 Kilometer lange Küstenpromenade von Volosko nach Lovran vorgenommen.
Diese 1889 von Kaiser Franz Joseph in Auftrag gegebene Promenade hat bei Ulla und mir alle durch den Reiseführer hervorgerufenen Erwartungen weit übertroffen. Jetzt, Mitte September, hatten wir die wunderschöne Promenade fast für uns. Bei milden Sommertemperaturen, das Meer zur einen und prächtige Gebäude und Gärten zur anderen Seite, genossen wir unsere Wanderung. Der Alltag, die Heimat lag schon weit hinter uns, als wir nach Umrundung eines Felsvorsprunges plötzlich heimatliche Stimmen vernahmen. Ältere Herrschaften bewegten sich in kleinen Grüppchen auf uns zu. Ein grauhaariger Senior mit Stock aus der Spitzengruppe war stehengeblieben und unterhielt sich über eine Distanz von etwa dreißig Metern mit einem Mitreisenden im Folgegrüppchen.
„Du, Willem, is nich so as op Fehmarn!”
“Nee, is eher so as op Kariiibik!”

Da sollen wohl heimatliche Gefühle aufkommen. Für kurze Zeit waren wir von vertrauten Stimmen umgeben, mal norddeutschgeprägtes Hochdeutsch mal Plattdeutsch.

Nur wenige Minuten später suchten wir eines der schönen Strandrestaurants auf. Neben uns ein älteres Ehepaar, das ziemlich eindeutig auch dieser norddeutschen Reisegruppe, vielleicht aus Fehmarn, zuzuordnen war. Mann und Frau unterhielten sich auf Platt über das Essen und ihre jüngsten Reiseimpressionen. Als der Ober das Geschirr abräumen wollte, fragte er in bestem Deutsch, wie das Essen denn geschmeckt hätte?
„Ooch, bannig goot! Bloot tau veel, veel tau veel!“
Der Ober sieht den Gast irritiert an. Hatte der nicht vorhin noch Deutsch gesprochen?
„Wie bitte?“
Nun bemerkte der Gast das Problem, vergaß, dass der Ober ja gut Deutsch spricht, und bemühte schnell die letzten Reste seines Schulenglischs.
„Good, ober tuu matsch, tuu matsch!“
Mutti setzte noch einen obendrauf.
„Oober läggger!“

Jo, dat is doch´n  ganz annern Schnack mit düsse Oort Landslüe. Kannst richtig goot lieden, anners as de Ballermänner op Mallorca!
Und, Ulla, möt wie nu noch „op Kariiibik“, wenn dat dor man ook blot so utsüht, as op de Promminood  vun Opatija?

Jana Fabijan, meine Freundin aus dem Internet



Als ich noch bei Facebook registriert war, wurde ich innerhalb weniger Wochen von FreundInnen und Freundschaftsanfragen förmlich erschlagen. Menschen, von deren Existenz ich bis zu dem Zeitpunkt nicht die geringste Ahnung hatte, baten um meine Freundschaft. Und das, wo ich doch schon kaum den Kontakt zu all meinen vielen anderen Freundinnen und Freunden  halten kann. Diese Welle der Freundschaft bedrückte mich, drohte mich zu erdrücken. Ich riss die Reißleine – will sagen, ich stieg bei Facebook aus und ließ einen beträchtlichen nationalen und internationalen Freundeskreis hinter mir im Netz zurück. Was sich hier so einfach anhört, war keinesfalls einfach. Facebook rächt sich an untreuen Freunden, indem ein Ausstieg so schwer gemacht wird, dass manch ein ausstiegswilliger verzweifelt aufgibt und reumütig in den Schoß von Mutter Facebook und damit zu den vielen verlassenen FreundInnen zurückkehrt.
Ich habe nicht aufgegeben! Es dauerte noch Monate nach dem Ende meiner Freundschaft mit Facebook, bis keine Freundschaftsanfragen mehr auf meinem PC eingingen. Ich gewöhnte mich daran, belächelt und bemitleidet zu werden, weil ich nicht zur Facebook-Family gehöre und ich konnte mich wieder auf den alten Stamm bewährter Freundinnen und Freunde konzentrieren.
Bis zum 22. Dezember 2014 war mein Freundschaftsgefüge noch einigermaßen in Ordnung. Dann aber sorgte eine neue „Internet Freundin“ für Irritationen. Es schreibt mir Jana Fabijan aus Kroatien in bestem, fehlerfreiem Englisch.
„Frau Jana Fabijan
Ich bin Jana Fabijan aus Kroatien. Ich möchte ein Projekt mit dir besprechen. Sei so freundlich und nimm Kontakt zu mir auf, damit ich dir alle Einzelheiten nennen kann.
Frau Jana Fabijan“

Wer war noch Jana Fabijan? Das ist doch irgendeine Masche? Löschen? Oder kenne ich sie doch? Wir waren doch gerade in Kroatien. Ich lösche die Mail.

Und wenn es doch jemand ist aus dem Kreis der vielen Bekannten des Comenius Austausches oder anderer Kontakte damals, als ich noch voll im Beruf stand? Zweifel kommen auf. Ich, der selbsternannte Vorzeigeeuropäer, will plötzlich nichts mehr wissen vom Austausch der Nationen und Kulturen. Peinlich, wenn Jana vielleicht einmal meine Gastgeberin gewesen sein sollte.

Ich öffne den Papierkorb. Janas Mail erwartete mich dort noch. Ich öffne sie, es kann ja schließlich nichts Schlimmeres geschehen, als beim ersten Öffnen und da ist ja auch schon nichts geschehen. Ich lese erneut, dass sie mit mir ein Projekt besprechen will. Altlast aus der Schulzeit? Ich beschließe zu antworten. Was kann schon passieren? Knapp  schreibe ich zurück:

22.12.14 um 16.18 Uhr
„In Ordnung, beginnen wir den Dialog, aber kein Schwindel, keine Werbung! J. Petersen“

Was habe ich nur losgetreten? Jana schreibt zurück. Bevor ich den Inhalt erfasse sehe ich einen umfangreichen Brief. Nun wird sich wohl aufklären, in welcher Beziehung meine Freundin Jana Fabijan zu mir steht.

22.12.2014
„Ich grüße dich, Jörg,
ich danke dir sehr für deine Antwort. Ich weiß nicht, wie du mir im Einzelnen helfen kannst, eigentlich brauche ich nur dein Vertrauen. Außerdem möchte ich dich bitten, sehr diskret zu sein. Erzähle niemandem davon bis der Aktenkoffer unbemerkt und sicher bei dir angekommen ist. Ich habe zu große Angst, dass die Familie meines Ehemannes Wind von der Existenz dieses Koffers bekommt. Es treibt mir die Tränen in die Augen bei dem Gedanken, was sie mit dem anderen Besitz gemacht haben, den mein Mann mir hinterlassen hat (Land und andere Besitztümer…). Ich bin eine Kroatin, hier herrschen andere Regeln. Die Familie meines Mannes belauscht all meine Gespräche und die Brüder meines Mannes spionieren hinter mir her. Das ist der Grund, warum ich nicht das Risiko eingehen kann, mit dir zu telefonieren. Es könnte sonst zu leicht geschehen, dass ich auch noch das Letzte, das mir geblieben ist, verliere.
Wenn wir also kommunizieren scheint mir die Methode per E-Mail am sichersten. Also, wenn du mir in dieser Angelegenheit helfen willst, sollten wir über den Prozentsatz reden, mit dem ich dich beteilige. Ich würde zu gerne reisen und dich auf der Stelle sehen, aber, wie ich dir bereits erzählte, kann ich es im Moment noch nicht riskieren. Ich muss warten, bis der Koffer sicher bei dir ist und ich dann heimlich zu dir kommen kann.
Gleich nach deiner Zustimmung werde ich dir in meiner nächsten E-Mail die Adresse einer Firma schicken, die in Westeuropa liegt, damit du sie kontaktieren und mit ihnen das Verfahren und die Bedingungen besprechen kannst, wie du den Aktenkoffer aus ihrer Obhut übernimmst.
Ich möchte dich bitten, abzuwarten, bis die Sicherheitsfirma von mir informiert worden ist, wer von mir beauftragt wurde, den Aktenkoffer für mich entgegenzunehmen. Ich warte darauf  bald von dir zu hören.
Gott segne dich.
Jana“
Was für ein Schicksal! Das stinkt doch nach Betrug! Oder doch nicht?
Kenne ich dich, Jana?
Ich kenne dich nicht! Ich verbanne die Mail in den Papierkorb.

Weihnachten kommt, Weihnachten vergeht, Jana Fabijan, meine „Freundin“ aus Kroatien ist schon vergessen. Dann, am 27. Dezember 2014 ist sie plötzlich wieder da. Auferstanden von den Toten, einfach so, als wollte sie sich nicht damit abfinden, von mir in den Papierkorb verbannt worden zu sein.

„Ich grüße dich, wie geht´s dir? Ich hoffe, dass alles mit dir in Ordnung ist. Ich frage mich, warum du mir gegenüber schweigst. Hast du meine Nachricht erhalten? Ich habe auf eine Antwort gewartet. Bleibe bitte in Verbindung mit mir. Ich bin bekümmert, nichts von dir zu hören. Gott segne dich.
Jana“

Nein, Jana, wer immer du bist und welche Probleme du hast, ich kann und will mich nicht auf dich einlassen. Auch diese Mail kommt zu den anderen in den Papierkorb
Ich hatte Jana schon wieder vergessen als Am 2.1.2015 ein weiteres Lebenszeichen von Jana in meinem Postfach auftauchte.

„Sei gegrüßt und ein glückliches neues Jahr! Wie geht´s denn? Ich hoffe, dass alles in Ordnung ist mit dir. Hast du meinen Brief erhalten?   Lass mich nicht alleine! Gott segne dich!
Jana“

Auch diese Mail leistete den vorhergegangenen, ohne beantwortet worden zu sein, im Papierkorb Gesellschaft. Jana geriet ein weiteres Mal in Vergessenheit. Wer nun glaubt, die Geschichte sei damit abgeschlossen, kennt Jana schlecht.  Am 28. Januar hat sie meine Zurückhaltung nicht länger ertragen können. Knapp aber eindeutig fordert sie mich auf, Farbe zu bekennen.

„Sei gegrüßt, mache mir Sorgen, nichts von dir zu hören. Bleib bitte unbedingt in Verbindung mit mir, damit ich einschätzen kann, wie du zu mir stehst. Ich warte auf eine Antwort! Gott schütze dich.
Jana“

Plötzlich ist da wieder so etwas Vertrautes. Kennt sie mich vielleicht doch? Muss ich sie irgendwoher kennen? Ich bin zutiefst verunsichert. Wie hieß denn noch das nette Flüchtlingskind aus Kroatien, das damals während des Balkankrieges zu uns an die Schule kam und dann, bevor sie wieder zurück in ihre zerstörte Heimatstadt musste, eine Lehre beim Zahnarzt begonnen hatte? Hieß sie nicht Jana? Es fällt mir ein, sie hieß Marijana. Wenn Jana nun eine Kurzform von Marijana ist. Wendet sie sich an mich, weil sie mir damals  schon vertraute und nicht enttäuscht worden ist?
Aber dann müsste sie sich doch etwas anders ausdrücken und Marijana konnte schon sehr gut Deutsch, als sie uns wieder verlassen musste.
Die Mail verschwand im Papierkorb, die Zweifel nagten und irgendwann habe ich sie wieder geöffnet.

Am 28. Januar schrieb ich um 15.49 Uhr zurück:
„Hallo Jana,
bitte schreibe ein wenig mehr von dir. Wo haben wir uns schon getroffen, Wann war es? Schicke mir ein Foto von dir, damit ich dich einordnen, mich erinnern kann.“

Jana hat bereits am nächsten Tag geantwortet. Freude spricht aus ihren Worten und zwei Fotos befanden sich als Anhang in der Mail. Ich öffnete sie. Sie zeigten eine Frau mittleren Alters. Anfangs glaubte ich noch, dass es zwei verschiedene Frauen seien, was sich aber beim genaueren Hinschauen als Irrtum erwies. Ich konnte die Bilder keiner Frau aus meinem weiten Bekannten- und Freundeskreis zuordnen. Jana war ich mit sehr großer Wahrscheinlichkeit niemals zuvor in meinem Leben begegnet.
In ihrer Mail vom 29. Januar schreibt sie:

„Ich grüße dich Jörg,
vielen Dank für deine Antwort, Ich bin sehr glücklich, wieder von dir zu lesen. Ich hatte Kontakt zu dir aufgenommen, um dich kennenzulernen und zu sehen, ob es sich empfiehlt mit dir zusammenzuarbeiten. Ich möchte dich nur bitten, meinen Aktenkoffer von der Sicherheitsfirma in Belgien entgegenzunehmen und mir dann zu helfen, mein Geld günstig zu investieren. Ich möchte aus Kroatien wegziehen in euer Land in der Absicht, dort ein neues Leben zu beginnen. Ich habe meine Eltern verloren und ebenso meinen geliebten Ehemann. Ich sehe einfach keine Veranlassung, bei den Brüdern meines verstorbenen Mannes zu bleiben. Ich muss sie verlassen und sehe keinen Grund jemals zu ihnen zurückzukehren bis ich tot bin. Ich bin dort durch die Hölle gegangen. Ich will hier nicht sterben! Bitte nimm mich als deine Tochter an und stehe mir zu Seite. Ich warte auf deine Antwort. Bitte bleib in Kontakt mit mir, damit ich dir erzählen kann, was weiter zu tun ist und damit ich dir den Empfangsschein für den Geldkoffer mit den Absprachen mit der Sicherheitsfirma in Belgien schicken kann. Ich warte. Halte bitte den Kontakt! Gott schütze dich!
Jana“

Mein Gott, ich kenne sie nicht, das ist doch irgendeine Abzocke. Das muss ein Ende haben und zwar schnell. Kurz und schmerzlos – für mich – will ich zu einem Ende der Freundschaft kommen.
Am 29. Januar um 21.10 Uhr schreibe ich, und das nun unwiderruflich zum letzten Mal:

„Tut mir leid, bin nicht in der Lage zu helfen! Bitte beende den Kontakt!“

Was habe ich bloß mit dieser Zeile in unserem EU Partnerland ausgelöst? Jana ist total aufgelöst, mobilisiert noch einmal all ihre Kräfte und holt zum Allegro furioso aus. Am 30. Januar antwortet sie um 14.10 Uhr:

„Ich grüße dich Jörg,
meine Augen sind voller Tränen während ich deine Nachricht lese. Warum ist diese Welt so voller Elend und Boshaftigkeit? Was habe ich getan, um dieses elende Leben ertragen zu müssen? Gott, warum bringst du mich in diese Welt des Leidens. Ich fühle, als hätte ich mich selbst getötet, weil ich dir vertraut habe und dir alles von mir erzählt habe. Aber du hast dich entschieden, mich aufzugeben und das in vollem Bewusstsein meiner Situation. Bedenke bitte meine Situation als die einer Witwe und hilf mir. Ich muss hier weg. Ich will nicht sterben. Ich habe meine Eltern verloren und auch meinen geliebten Ehemann. Bitte hilf mir! Ich flehe dich an.
Jana“

Es reicht, Jana. Ab in den Papierkorb!

Einige Tage später kommt mir der Name Jana Fabijan wieder in den Sinn. Ich hatte eine ihrer Mails nicht in den Papierkorb verschoben und deshalb gab es Jana noch einmal auf der Liste des Posteingangs. Jana Fabijan!

Was sagt eigentlich Google zu Jana Fabijan?
Ich finde:

The so-called "419" scam is a type of fraud dominated by criminals from Nigeria and other countries in Africa. Victims of the scam are promised a large amount of money, such as a lottery prize, inheritance, money sitting in some bank account, etc.
Victims never receive this non-existent fortune but are tricked into sending their money to the criminals, who remain anonymous. They hide their real identity and location by using fake names and fake postal addresses as well as communicating via anonymous free email accounts and mobile phones. Keep in mind that scammers DO NOT use their real names when defrauding people.
The criminals either abuse names of real people or companies or invent names or addresses.
Any real people or companies mentioned below have NO CONNECTION to the scammers![1]
So läuft der Hase also, Jana, du bist also nur eine Strohfrau der betrügerischen Nigerianer??! Bekomme ich jetzt Ärger mit den Nigerianern? Diesen Online-Betrügern? Jeden Morgen erwarte ich auf dem Bildschirm nach dem Computerstart den Hinweis:
 „Your new password is deposited in Nigeria!
Und, Jana, wer bist du wohl wirklich?
Ich will es gar nicht mehr wissen!


[1] Der sogenannte „419“ Betrug ist eine Form des Betruges, die von Kriminellen aus Nigeria und anderen afrikanischen Ländern zur Anwendung kommt. Opfern des Betruges wird eine größere Summe Geldes versprochen, wie zum Beispiel ein Lotteriegewinn, eine Erbschaft oder Geld auf irgendeinem Bankkonto etc. Opfer gelangen niemals in den Genuss dieses nicht vorhandenen Glückes, aber sie werden beschwatzt, ihrerseits Geld an diese Kriminellen zu schicken, die natürlich unerkannt bleiben. Sie verbergen ihre wahre Identität und ihren Aufenthaltsort, indem sie falsche Namen und falsche Postadressen benutzen und über freie, anonyme E-Mailadressen und Handys kommunizieren.
Merke dir, dass solche Betrüger niemals ihren tatsächlichen Namen benutzen, wenn sie Leute abzocken wollen. Sie missbrauchen entweder Namen existierender Personen oder Firmen oder sie erfinden Namen und Adressen. Keine der unterzeichnenden Personen oder Firmen haben irgendeinen wahren Bezug zu den Betrügern.

Kettenreaktion




„Für Naturwissenschaften haben wir kein Talent“, pflegte meine Mutter immer zu sagen, wenn ich wieder einmal mit einer missglückten Klassenarbeit in Chemie oder Physik nach Hause kam. Vielleicht hatte ich wirklich kein Talent, vielleicht glaubte ich es auch nur, weil sie es immer und immer wiederholte seit sich bei mir die ersten Misserfolge in diesen Disziplinen eingestellt hatten.
In der Mittelstufe am Gymnasium hatte ich es in den Naturwissenschaften und Mathematik mit Helmut Hauffe, einem Bauernsohn aus Wesselburen in Dithmarschen, als Lehrer zu tun. Meine Ergebnisse waren oftmals mangelhaft; dann aber, kurz vor den Zeugnissen, gerade noch ausreichend. Ein „Sitzenbleiben“ konnte ich immer knapp vermeiden. So auch kurz vor dem Übergang in die 11. Klasse. Es war eine Zitterpartie an deren Ende ich in allen drei Problemfächern ein „Ausreichend“ bekam. Heute bin ich mir nicht mehr so sicher, ob meine Leistungen tatsächlich ausreichend waren, oder ob ich meine Versetzung in die Oberstufe des Gymnasiums ganz anderen Umständen zu verdanken hatte.
Welche Rolle spielte zum Beispiel die Tatsache, dass ich den Hobbyornithologen und Nachtigallen Spezialisten Hauffe auf Sprosser Vorkommen auf der Prinzeninsel im Plöner See aufmerksam machte und ihn dann auch noch für Tonbandaufnahmen dorthin begleitete?
Oder war er mir vielleicht nur wohlgesonnen, weil ich, ebenso wie er, auf einem Bauernhof aufgewachsen bin?
Wer weiß es schon?
Kettenreaktionen in Chemie! Die letzte Stunde endet mit der Definition an der Wandtafel. Ich übertrug sie in mein Heft, ohne eine wirkliche Ahnung zu haben, worum es dabei tatsächlich ging. Zu Beginn der Stunde trug Hauffe in seiner von Dithmarschen geprägten Sprache mit spitzem „sp“ und „st“ noch einmal die Definition vor:
„Eine Kettenreaktion ist eine physikalische oder chemische Umwandlung, Reaktion, die aus gleichartigen, einander bedingenden Teilreaktionen besteht. Dabei ist ein Produkt einer Einzelreaktion, Reaktant, Ausgangsprodukt,  Edukt, für eine Folgereaktion. Die Reaktionskette kann linear oder verzweigt sein.“
Dann schlug er sein Notenbüchlein auf und, während er seine Liste überflog, murmelte er vor sich hin, wer denn heute wohl dran sei, die Definition zu erklären.
„Schörch, bei dir fehlt noch´n lütt büschen für ´ne vier. Versuch´ ma´ zu erklären, kann auch mit eigenen Worten sein.“
Das hätte nun nicht kommen dürfen. Während der Rest der Klasse befreit weiteratmete, weil der Kelch an ihnen vorübergegangen war, schnürte sich mir der Hals zu. Kröger hätte wahrscheinlich schon eine 6 notiert. So aber war Hauffe nicht. Er war Pädagoge durch und durch. So schnell gab er die Hoffnung nicht auf, selbst mir noch so viel zu entlocken, dass es für eine 4 ausreichte.
„Na Schörch, denk doch mal dran, was uns das Wort Kettenreaktion sagt!“
Das war der Schlüssel, der Bann war gebrochen. Ich begann zu sprechen:
„Also das war, als ich noch auf unserem Bauernhof lebte. Ich spielte mit einigen Nachbarkindern auf dem Heuboden. Das war streng verboten, weil man leicht durch die Bodenluke auf den harten Zementboden des Futterganges oder durch den löchrigen Bretterboden in den Stall fallen konnte. Wir haben aber trotzdem da gespielt, weil es so viel Spaß machte…“
„Nu komm mal auf´n Punkt, Schörch, Kettenreaktion ist das Thema.“
„Ja, ich bin von ganz oben vom Heu gerutscht. Die Rutschpartie endete ausgerechnet über einem wurmstichigen Bodenbrett, das der plötzlichen Punktbelastung nicht mehr standhielt und zerbrach. In einer Wolke aus Staub, Heu, Holzwurmmehl und Bretterteilen landete ich auf dem Rücken einer Kuh.
 Paula hieß  sie.
Unter der Kuh saß mein Vater mit seinem langgestreckten steifen Bein, das ihn allzeit an den unseligen Krieg erinnerte, auf einem kleinen Melkschemel. Den halbvollen Milcheimer hatte er zwischen die Knie geklemmt. Als ich auf Paula landete hat sie sich sehr erschrocken und ist mit einem Fuß  in den Milcheimer getreten. Der ist dann umgefallen und mein Vater auch. Ich bin vom  Paulas Rücken heruntergefallen und lag in dem Gemisch aus Milch und Kuhscheiße neben meinem Vater. Bevor wir beide wirklich wussten, was hier soeben geschehen war, holte mein Vater aus und gab mir eine kräftige Ohrfeige, wohl weniger, um mich zu bestrafen, eher vor Schreck. Dann hat er mir hochgeholfen und gefragt, ob mir etwas fehle.“
Die Klassenkameraden lachten schon die ganze Zeit. Ich konnte nicht einordnen, ob sie mich auslachten oder über die Geschichte lachten.
Vielleicht beides.
Als ich zu Hauffe blickte, sah ich, dass auch er sich kaum halten konnte vor Lachen.
„Tscha, Schörch, eine 4 hast du schon. Wenn du nun auch noch sagen kannst wer von Paula und deinem Vater Reaktant oder Edukt war, dann bekommst du eine mündliche 1. Dann können wir noch maa über ´ne 3 im Zeugnis reden.“
Das konnte ich dann aber nicht, hatte ja schließlich kein Talent für Naturwissenschaften, wie meine Mutter ja immer zu sagen pflegte. Aber, immerhin, ich hatte eine 4 im Zeugnis. In Chemie!!!
Es entsprach dem Humor von Helmut Hauffe, dass er meine Geschichte als Bildergeschichte zum Tafelbild machte.
Ach ja, dort stand dann auch zu lesen, was mir zur 3 in Chemie gefehlt hatte.
Ich war in der Geschichte anfangs Reaktant, Paula, unsere großfleckige Holsteiner Schwarzbunte, Edukt, mutierte dann zum Reaktanten (Tritt in den Milcheimer). Mein Vater war erst Edukt, wie er so in die Kuhscheiße flog und mit seiner Ohrfeige wurde er zum Reaktanten, der mich zum Edukt machte.
Alles klar? Merken! Das ist eine Kettenreaktion!