Sonntag, 11. Januar 2015

Die Hexe von Groß Kummerfeld



Natürlich weiß ich, dass es keine Hexen gibt! Aber das war nicht immer so. Vielleicht 1956, damals war ich gerade 6 Jahre alt, da gab es noch eine. Sie hieß Tante Emma. Zugegeben, ein seltsamer Name für eine Hexe, änderte aber nichts daran, dass sie eine Hexe sein musste. Tante Emma bewohnte die alte Schule, eine reetgedeckte, schon etwas windschiefe Kate gegenüber unserer Hofauffahrt. Alle Indizien wiesen darauf hin, dass Tante Emma in die Reihe der Hexen und bösen Feen gehörte, die ich aus den Märchen der Gebrüder Grimm kannte. Da halfen auch die steten Beteuerungen meiner Mutter nicht, dass Tante Emma nur eine einsame, alte Frau sei, die es mit allen herzensgut meine.
Warum sollte sie Recht haben, wenn doch Tante Emma in jeder, na ja, in fast jeder Beziehung den Hexen glich, die ich aus den erzählten oder vorgelesenen Märchen kannte. Sie war uralt, schwarz gekleidet, ging mit schleppendendem Gang gebückt und auf einen Stock gestützt, trug ein schwarzes Kopftuch, einige Zähne fehlten ihr und auf der einen Backe wuchsen ihr schwarze Haare aus einer dicken Warze. Als wäre das nicht schon genug, wurde sie auf ihren Spaziergängen ums Haus von einem schwarzen Kater begleitet, mit dem sie sich wohl aus Ermangelung anderer GesprächspartnerInnen, mit einer alten, hohen und leicht krächzenden Stimme unterhielt. Es fehlte eigentlich nur noch der Rabe auf der Schulter. Sicherlich gab es den auch, er war nur immer gerade fortgeflogen, wenn ich Tante Emma von weitem sah.
Gerne begleitete ich meine Mutter zum Kaufmann. Ich mochte den Laden, es roch nach lauter Dingen, die rätselhaft waren, ich konnte mich an Auslagen sattsehen, die es bei uns selten oder nie gab. Manchmal, wenn Hedwig, die Frau des Ladenbesitzers Olejeniezcak (weil einfacher, nur „Schietsack“ genannt), einen guten Tag hatte, durfte ich auch einmal in das Bonbonglas greifen. Getrübt wurden die Erwartungen, wenn ich an der Hand der Mutter schon auf der Lindenallee, die vom Haus zur Dorfstraße führte, Tante Emma in ihrem Garten erblickte. Dann war klar, dass Mutter eben über die Straße musste, um ein paar Worte mit ihrer Nachbarin zu wechseln. Und ich, im festen Griff ihrer Hand, musste mit. Je näher wir der Hexe kamen, umso größer wurde meine Angst, dass ich vielleicht gleich als Kaninchen über die Dorfstraße hoppeln würde. Ich wusste ja, dass Hexen dazu und noch zu ganz anderen Dingen fähig waren. In meiner Angst kam ich auch nicht auf die Idee, mich zu fragen, warum die Hexe mich bis zu diesem Tag nicht schon lange einmal verhext hatte.
Außer diesen vielen äußerlichen Übereinstimmungen gab es noch einige andere überzeugende Beweise für die Richtigkeit meiner Annahme, dass es sich bei Tante Emma, die natürlich keine Tante von mir war, um eine Hexe handeln müsse. Wenn wir Kinder im möglichst weiten Bogen um das Hexenhaus gingen, wusste immer irgendein Kind eine neue Hexengeschichte zu erzählen. Warzen und wunde Stellen hatte sie fortgehext, schlimme Krankheiten geheilt und bei Klaus Hauschildt, der im Spaß zu ihr gesagt hatte: „Wo geiht di dat, du olle Hex?“ ist zwei Tage später eine tragende Kuh auf der Weide verendet.
Ja mit Hexen war nicht zu spaßen. Hier und da nützen sie ja vielleicht; aber wehe, wenn sie es auf einen abgesehen haben. Siehst ja bei Klaus Hauschildt!
Und dann war da noch die Geschichte von unserem Nachbarn Bernhard Busch. Die Männer erzählten sie sich zu gerne, wenn sie schon einige Steinhäger im Dorfkrug bei Inge Hildebrandt am Küchentisch getrunken hatten. Ich habe sie selbst einmal gehört, als Mutter mich in den Krug geschickt hatte, um unseren Vater nach Hause zu holen. Da saßen die Väter meiner Spielkameraden und erzählten sich eine unheimliche Hexengeschichte über Tante Emma und Bernie Busch, die sie vor lautem Gelächter kaum zuende bringen konnten. Ich konnte nicht begreifen, was daran so lustig sein sollte, ging es doch um echte Hexerei und das in unserem Dorf und noch dazu in direkter Nachbarschaft unseres Hofes. Weil eben auch diese Geschichte ein eindeutiger Beweis für die Hexenkunst von Tante Emma darstellt, muss ich sie hier erzählen.
Bernie Busch, unser Nachbar, lebte unverheiratet mit einer oder zwei ebenfalls ledigen Schwestern auf unserem Nachbarhof. Ich kannte den Hof nur vom Vorbeigehen. Weil es keine Kinder dort gab und anscheinend auch keine nachbarschaftlichen Berührungspunkte, habe ich keine Erinnerungen daran, jemals bei Busch auf dem Hof gewesen zu sein. Die Buschs waren Sonderlinge und man erzählte sich im Dorf, dass es bei „denen“ ziemlich schlimm aussehen sollte, was immer das heißen sollte. Viel besser als die Bewohner kannte ich den Schäferhund des Hofes, der die Angewohnheit hatte, ganz oben im Giebel der Scheune mit heraushängenden Vorderpfoten in einem geöffneten Fenster zu liegen. Von seinem Platz aus hatte er die gesamte Dorfstraße bis zur ersten Kurve nach rechts oder links unter Kontrolle. Kam ich an dem Haus vorbei, setzte sofort ein heftiges Gekläffe ein, das mir Angst machte. Schön, dass der Hund nie auf der Dorfstraße  rumstromerte.
Dieser Nachbar, Bernhard Busch, litt immer heftiger unter zwei Warzen an der Fingerwurzel seiner rechten Hand. Zu jener Zeit wurden noch die meisten Arbeiten auf dem Hof mit Schaufel, Forke oder Hacke verrichtet. Immer wieder bluteten und schmerzten die Warzen. Da half auch kein Pflaster und zum Doktor ging man erst, wenn man kurz vor dem Sterben war. Als Bernie seiner Warzen irgendwann überdrüssig war, besann er sich auf die besonderen Fähigkeiten von Tante Emma. Die hat ihm dann verraten, wie er seine Warzen loswerden würde.  Bernie bekam von ihr den Auftrag, den nächsten Vollmond abzuwarten. Dann sollte er zwei Erbsen weich kochen und damit bei Mitternacht an das Stör Ufer gehen. Dort an der Stör -  bei unserem Dorf, kurz hinter der Quelle, nur ein Bach - sollte er sich mit dem Rücken zum Wasser hinstellen und genau um Mitternacht über jede Schulter eine von den weichgekochten Erbsen in den Fluss werfen.
Als es so weit war, der Vollmond schon hoch über der Lindenallee unseres Hofes stand, kochte Bernhard Busch seine Erbsen. Und, weil Erbsen keinen großen Wert darstellten und Bernie ein skeptischer Mensch war, hatte er eigenmächtig  die Dosierung erhöht. Nach dem Spruch: „Doppelt hält besser!“ kochte er sich vier Erbsen weich und begab sich damit auf unsere Störweide weit draußen vor dem Dorf. Bernie Busch befolgte alle Anweisungen der Hexe peinlich genau. Er machte trotz der kühlen Nachttemperaturen sogar seinen Oberkörper frei, wie es ihm Tante Emma aufgetragen hatte. Als er die Kirchenuhr von Gadeland zu Mitternacht schlagen hörte, drehte er sich mit dem Rücken zum Fluss, warf über jede Schulter zwei seiner mitgebrachten Erbsen, hörte in der Stille der Nacht sogar noch das zarte Geräusch der Erbsen beim Aufkommen auf der Wasseroberfläche. Er streifte sich zufrieden sein Hemd über und begab sich auf den Weg zurück zu seinem Hof.
In der folgenden Woche beobachtete der Bauer mit Freude, wie sich die Warzen an seinen Fingern zurückentwickelten. Er war zufrieden mit sich. So, wie es aussah, hatte er alles richtig gemacht. Zum Wochenende war dann die große Körperpflege fällig. Ein Badezimmer gab es nicht. Neben der Pumpe, auf einem kleinen Regal, lagen ein Stück Seife und Rasierzeug. Ein fleckiger Spiegel erinnerte Bernie Busch wöchentlich einmal daran, wie der Bauer auf dem Hof eigentlich aussieht. Immer am Sonnabend gönnte sich Bernie eine Rasur. Das war dann auch die Gelegenheit, sich von dem grauen Unterhemd zu trennen und ein paar Hände Wasser auf dem nackten Oberkörper und unter der Achsel zu verreiben. An diesem Sonnabend schien alles so wie immer zu sein. Als Bernie nach dem Entfernen des restlichen Rasierschaumes aus dem Gesicht einen Kontrollblick in den alten Spiegel warf, glaubte er seinen Augen nicht zu trauen. Dort wo sonst immer die zwei Brustwarzen waren, war nun nichts mehr.
Ja, die Hexe wird schon gewusst haben, warum sie ihm nur zwei weichgekochte Erbsen empfohlen hatte.
Die angetrunkenen Männer in Inge Hildebrandts Küche konnten sich kaum wieder einkriegen, als  die letzten Worte der Geschichte bereits unter dem dröhnenden Gelächter erstickten. Ich konnte nicht begreifen, was sie so komisch fanden. Schlimm war es eigentlich nicht, dass Bernie nun keine Brustwarzen mehr hatte, sie haben ja ohnehin keine Funktion bei uns Männern. Aber komisch war es auch nicht. Das, was da passiert war, war schließlich ein weiterer Beweis dafür, dass Tante Emma hexen konnte. Das sollte schließlich auch den Erwachsenen zu denken geben. Ich denke nun gerade wieder an die Kuh von Klaus Hauschildt.
Als ich einige Tage später wieder mit meiner Mutter unterwegs war, sah ich schon von weitem Tante Emma vor ihrem Haus. Ich zog an Mutters Hand und, als sie mich fragte, was los sei, sagte ich ihr, dass ich nun ganz sicher wüsste, dass Tante Emma eine Hexe sei. Sie nahm sich die Zeit, mich die Geschichte von Bernie Buschs weggehexten Brustwarzen erzählen zu lassen. Wahrscheinlich kannte sie die schon, lachte dennoch von Herzen und versuchte mir zu erklären, dass das doch nur eine Geschichte sei, die sich irgendeiner der Männer ausgedacht hatte. Ganz glauben mochte ich ihr nicht. Aber zumindest reichte ihre Erklärung, um meinen Widerstand zu brechen. Wir passierten gemeinsam den Garten von Emma und nichts Unheimliches geschah.
Wochen später, ich war schon Schulkind, widerfuhr mir, was alle Kinder im Dorf irgendwann einmal erlebten: Ich hatte mich im Stall mit dem Pilz der Kälberflechte infiziert. Leicht juckende Schorfplacken wuchsen zuerst auf den Händen und Armen später auch auf dem Oberkörper und im Gesicht. Nichts Schlimmes aber lästig. Als die Hausmittelchen (Senf aus der Tube) nicht helfen wollten und die Flechte sich immer weiter auszubreiten begann, fuhr meine Mutter mit mir auf dem Fahrrad  zu dem neuen Arzt in Gadeland. Herr Wiesner oder nur Herr Doktor versuchte es mit verschiedenen Salben und Tinkturen. Wir radelten einige Male nach Gadeland und die Flechte war immer dabei. Der Doktor war irgendwann am Ende mit seinem Latein und brachte die Konkurrenz ins Spiel. „Frau Petersen, kennen Sie nicht jemanden, der Krankheiten besprechen kann? Gerade bei Hauterkrankungen werden gute Erfolge erzielt.“ Als meine Mutter von Tante Emma erzählte, einer Frau in der Nachbarschaft von uns, die, wie ich ja wusste, sogar Warzen verschwinden lassen, Kühe sterben lassen und sicherlich auch Menschen verhexen konnte, war mir ziemlich klar, dass mein letztes Stündchen bald geschlagen hätte.
Es war keine schöne Zeit für mich, bis wir am nächsten Tag aufbrachen, um Tante Emma aufzusuchen. In meiner Kinderfantasie malte ich mir die schlimmsten Dinge aus. Auf der Schwelle des Hexenhauses drehte ich mich noch einmal um, als  wollte ich die Erinnerung von unserem Hof mit in eine andere, mir noch unbekannte Welt nehmen. In der Küche des Hexenhauses war es trotz der Glühlampe über dem Küchentisch nicht richtig hell. Das hing mit der Wattzahl der Glühlampe zusammen, wovon ich damals noch nichts wusste. Ich musste meinen Oberkörper frei machen und Tante Emma strich mit der Hand über meinen Körper, ohne ihn zu berühren. Dabei murmelte sie unverständliche Worte. Zu meinem großen Erstaunen trat keine spürbare Veränderung ein. Als ich mein Hemd wieder übergestreift hatte fühlte ich einmal ganz schnell mein Ohr, ob es vielleicht schon etwas länger geworden sei.
Nichts! Alles normal!
Auch zu Hause traten keine besorgniserregenden Veränderungen ein.
Aber dann entdeckten wir nach einigen Tagen, dass sich die Flechte zurückentwickelte. Nach einer Woche waren fast alle Flecken verschwunden. Tante Emma bekam einen Sack Kartoffeln für ihre erfolgreiche Tätigkeit. Mir wollten sie weismachen, dass Tante Emma keine Hexe sei, sondern eher eine Heilerin. Das könne man ja schließlich an meiner Heilung sehen. Für mich war es keine Heilung. Es war Hexerei, ein weiterer Beweis, dass Tante Emma hexen konnte. Gut, dass mein Vater den Sack Kartoffeln zu ihr gebracht hatte. Darüber hatte sie sich nämlich sehr gefreut. Vielleicht denkt sie später einmal daran, wenn sie vorhaben sollte, mich eigentlich in einen Stein zu verwandeln, es dann aber doch lieber zu lassen, weil die Kartoffeln ja so gut geschmeckt hatten.
Heute glaube ich schon lange nicht mehr an Hexerei und Tante Emma war natürlich auch keine Hexe. Aber, wie hat sie das bloß gemacht, damals mit den Warzen, der Kälberflechte und Großmutters Gürtelrose?
Keiner kann sagen, warum einige Menschen die Gabe haben bestimmte Erkrankungen ohne Medikamente zu heilen.
Oder ist da doch vielleicht ein ganz wenig Hexerei im Spiel?

Freitag, 9. Januar 2015

2003 - Das Jahr, in dem Weihnachten starb




Mein lieber Freund, du fragst mich, was ich meinte mit meinen Worten am vergangenen Donnerstag. Du fragtest mich, was ich von Weihnachten halte und ich antwortete dir:
„2003 war das Jahr, in dem Weihnachten starb.“
Du blicktest mich ratlos an und, weil sich mir plötzlich eine unerwartete Mitfahrgelegenheit bot, blieb ich dir eine Erklärung schuldig. Höre mich an und versuche zu verstehen, warum es dein Weihnachten für mich nicht mehr gibt.

Nach langer, schwerer Krankheit hat der Herr .....
So in etwa könnte der Anfang eines Nachrufes auf Weihnachten lauten –
wenn es denn einen gäbe.
Je älter ich werde, desto mehr drängt sich beim Gedanken an Weihnachten das Bild von der Krankengeschichte eines Menschen auf.
Ja, am Anfang da war er noch stark und gesund, der Mensch.
Weihnachten in frühester Kindheit, da war die Welt noch in Ordnung. Ein Tannenbaum vom Fußboden bis zur Decke geschmückt mit roten Kerzen, Lametta, kleinen hölzernen Anhängern, Strohsternen, Kugeln, Lebkuchenmännchen, Kringeln...
Geschenke unter dem Tannenbaum, die Riesenüberraschungen darstellten, selbstverständlich nichts als Freude auslösten. Und dann der „Bunte Teller“: Er war aus Pappe mit Tannenzweigen und Kerzen bedruckt und bis oben gefüllt mit Nüssen, Lebkuchen, Mandarinen, Kringeln, Feigen, Datteln, Marzipan und Keksen! Alles Dinge, die es sonst nicht gab und nun im Übermaß für ungewohnten Genuss und oftmals auch Magenverstimmung sorgten. Nach wenigen Stunden bereits gab es große Lücken auf dem Teller und nach zwei Tagen waren höchstens noch ein paar ausgetrocknete Honigkuchenstücke zurückgeblieben.
Ja, weißt du noch, die Kringel? Bitterschokolade mit kleinen, runden und bunten Streuseln drauf, Geleekringel in Grün, gelb, Orange oder tiefrot.
Weihnachten war die Geschichte von Jesu Geburt im zugigen Stall, dargestellt mit Krippenfiguren, vorgelesen aus dem Lukasevangelium oder als Krippenspiel einstudiert und am heiligen Abend in der Kirche aufgeführt.
Als Weihnachten noch gesund war, gab es noch einen richtigen Weihnachtsmann mit einem schönen roten Mantel mit Lammfell besetzt, mit schwarzen Lederstiefeln, einem echten Bart, einer Reisig Rute und einem Sack, der kein Plastikbeutel war.
Um diesen Mann und seine Gehilfen, das Christkind und vielleicht noch den Knecht Ruprecht bei Laune zu halten, wurden Gedichte aufgesagt und Weihnachtslieder gesungen.
Jawohl, es wurden Lieder gesungen, von allen in der Familie – auch von denen, die sonst nie sangen, weil sie sich für unmusikalisch hielten. Keiner zierte sich und alle kannten die Texte, ohne nach der ersten Hälfte der ersten Strophe in Gesumme zu verfallen.
Weihnachten begann mit der Adventszeit, mit Plätzchenbacken, Adventskranz und dem Stiefel vor der Tür am Nikolaustag. Weihnachten begann mit dem Duft von Fichtennadeln, Weihnachtsmusik mit Adventskalender,  feierlichem Adventskaffee und selbstgebackenen Keksen.
Warme Stuben und Kerzen brachten Gemütlichkeit in der unfreundlichen und dunklen Jahreszeit.
Kennst du noch den Geschmack der harten aber würzigen braunen Plätzchen auf mit Butter bestrichenem Weiß- oder Feinbrot?
Ja, so war Weihnachten, als es noch ganz gesund war, in der Mitte des letzten Jahrhunderts.

Wann und wie Weihnachten letztlich krank wurde ist nicht genau festzustellen. Die Krankheit kam über das Fest ohne anfangs als Krankheit erkannt zu werden, sie schlich sich förmlich in kleinsten Schritten ein.
Wann war es denn noch?
Vielleicht, als ich nicht mehr kritiklos hinnahm, was der Weihnachtsmann oder das Christkind zum Weihnachtsfest ins Haus brachten?
Waren die ersten Anzeichen vielleicht schon, dass ich Wünsche hatte und feststellen musste, dass sie nicht alle erfüllt wurden?
Unzufriedenheit und die schon bald einsetzenden Zweifel an der Existenz von Weihnachtsmann und Christkind sind zweifellos die ersten Anzeichen der später richtig schweren Krankheit. Mit der Gewissheit, dass die Gaben nicht vom Weihnachtsmann sondern den Eltern oder anderen netten Menschen stammten, hatte Weihnachten seinen ersten spürbaren und heftigen Krankheitsschub gehabt.
Tannenbaumkringel begannen schleichend ihre Faszination zu verlieren. Süßigkeiten auf den „Bunten Tellern“ trockneten ein und wurden irgendwann nach dem Fest entsorgt.
Das bevorstehende Ende Weihnachtens zeichnete sich ab, als in der Familie darüber diskutiert wurde, ob es einen Tannenbaum geben sollte oder nicht und, dass wir uns eigentlich nichts mehr schenken müssten.

Weihnachten – todkrank – aber doch nicht am Sterben?!
Was war es, was mir 2003 Weihnachten endgültig nahm?
Nun, im Jahre 2003, im Spätsommer, nahm ich erstmals bewusst wahr, wie der Handel erst ganz zaghaft und dann im Oktober schon sehr heftig versuchte, in mir Weihnachtsgefühle hervorzurufen. Ganz langsam begann es in meinem Supermarkt. Die ersten Paletten mit Spekulatiuskeksen,  Lebkuchen  und Marzipan zogen wohlplatziert die Aufmerksamkeit, auch meine, auf sich.
Moment mal, Lebkuchenherzen jetzt schon, in der ersten Septemberwoche?
Ich äußere gegenüber der neben mir stehenden Verkäuferin meine Überraschung und mein Unverständnis.
„Was sollen wir machen, der Kunde verlangt es.“
„Ich nicht!“
Sie zuckt mit der Schulter.
Tatsächlich bauen sich die Berge mit Weihnachtsgebäck stetig ab, um dann wieder mit neuer Ware auf Ursprungshöhe gebracht zu werden.
Der Kunde wünscht es eben so!
Ende Oktober bereits sehe ich erste Weihnachtsdekorationen, Lichterketten und Tannenbaumkerzen brennen. 
November: Kein Geschäft, keine Kommune kann sich dem Zwang entziehen, mit meist eher fantasieloser Deko auf der Weihnachtskonsumwelle mitzuschwimmen.
„Wollt ihr euren Vorgarten nicht etwas weihnachtlich schmücken?“
Wir wollen nicht und drohen mit unserer Ignoranz in eine Außenseitersituation zu geraten.
Die ersten Weihnachtsmänner sind in den Einkaufsstraßen zu sehen.
Ja! Richtig gelesen, Weihnachtsmänner!! Es gibt ihn nicht mehr, „den Weihnachtsmann“. Es gibt Weihnachtsmänner! An jeder Ecke, einer plünniger[1] und schäbiger kostümiert als der andere. Billigste Frotteemäntel mit weißen Kunststoffrändern, Jeans und Turnschuhe, die darunter hervorschauen.
Was für Menschen sind diese „Weihnachtsmänner“, die die Geschäftsstraßen in den Städten in Mengen bevölkern?
Sind sie noch Freudenspender, wenn sie lustlos drei Mal ihr „Ho,Ho,Ho“ aus der Tiefe ihres Brustkorbes herausstoßen?
Was wollen sie uns sagen mit diesem dreimaligen  „Ho, Ho, Ho“?
Früher, als Weihnachten noch nicht vor dem „Aus“ stand, da sprach der Weihnachtsmann noch in einer Sprache, die die Kinder verstanden. Er legte äußersten Wert auf ein hochwertiges Kostüm und bemühte sich, Freude zu verbreiten.
Freude verbreiten? Nein, das ist nicht die Aufgabe dieser armseligen Weihnachtsmänner. Konsum sollen sie anheizen und dabei sollen sie möglichst wenig Kosten verursachen.
Wen stören diese unkreativen, fantasielosen Handlanger derer, die uns und Weihnachten für ihren Profit schamlos missbrauchen?
Die Antwort: Niemanden! Und das macht mich traurig.
Dezember: Die Weihnachtsmanndichte in den Städten erhöht sich mit herannahendem Fest noch einmal erheblich. Außerdem kann ich mich nicht einmal in meinem EDEKA – Aktiv - Markt der ständigen Berieselung durch Weihnachtsmusik entziehen. Hinzu kommen die Weihnachtsmärkte allerorten. Sie sind austauschbar, wie die gesamten Fußgängerzonen, in denen sie aufgebaut sind. Das Karussell dreht 12 Stunden ohne Unterbrechung seine Runden begleitet von lauter Musik, Weihnachtsmusik natürlich.  Mütter, die mit ihren Kindern in der Stadt unterwegs sind, befinden sich im ständigen Kampf mit ihrem Nachwuchs. Nicht selten bekommen die Kleinen ihren Willen, ihre Karussellfahrt, weil den Müttern das Geschrei ihrer Kinder zwischen all den Menschen unangenehm ist. Für diese Kinder ist die Vorweihnachtszeit wie Kirmes oder Schützenfest. Ja, sogar noch schöner, weil mit etwas Glück vier Wochen Karussellfahren drin sind.
Abends irgendwann schweigt das Karussell, Bude für Bude schließt bis endlich nur noch die Punschstände geöffnet sind. Selten verirrt sich jemand dorthin, der Lust auf ein Heißgetränk hat, und dann weiter seinen Beschäftigungen nachgeht. Schon einmal aufgefallen, dass sich an diesen Buden Abend für Abend die gleichen Menschen nach Feierabend versammeln?
Armselige Menschen, die hier allabendlich ihren Kummer und Frust im Glühwein (natürlich „mit Schuss“) ertränken. Mir graut vor diesen Ansammlungen trauriger Menschen mit roten Mützen und oftmals roten Augen, die den Alkohol und Gleichgesinnte benötigen, um ihren Alltag bewältigen zu können. Wie traurig wird es erst, wenn sie im Anschluss an die „Punschseligkeit“ in ihre leeren Wohnungen kommen oder alkoholisiert ihren Familien zum Problem werden.
Immer noch Dezember:
Eine Weihnachtsfeier jagt die nächste. Im Kollegenkreis mit fröhlichem Julklapp.
Was wickle ich bloß Michaela Baukloh ein? Warum musste ausgerechnet ich sie ziehen???
Kegelverein:
Sehr originell in diesem Jahr das andere Julklapp mit Horrorgeschenken. Die Gelegenheit, mein Geschenk vom letzten Jahr wieder in den Umlauf zu bringen. Kam es vielleicht gar von Wilhelm Pentgraf, den ich in diesem Jahr beschenken sollte?
Der VdK, Ortsverein Friedeberg, erwartet wieder eine humorvolle Geschichte von mir und im Kindergarten soll ich zum x-ten Male den Weihnachtsmann machen. Der SPD - Ortsverein lädt zum Grünkohlessen und ist damit genau so originell, wie der Yachtclub Friedeberg, der nur zwei Tage später ebenfalls zum Grünkohl lädt. Freut sich der Wirt vom Friedeberger Hof, dass er nur einmal Grünkohl kochen muss. Zum Grünkohlessen des Heimatvereines Kleinhüll und Umgebung werde ich nicht gehen. Werde mich mit einer ausgedachten Weihnachtsfeier in Stade entschuldigen. Andernfalls könnte es mir mit dem Grünkohl so ergehen wie mit Salaten, die mit Balsamico Essig angerichtet werden. Von einem auf den anderen Tag konnte ich diese Salate nicht mehr riechen, geschweige denn essen.
Nein! Mit dem Grünkohl soll es nicht auch so weit kommen. Dafür esse ich ihn viel zu gerne!
Immer noch Dezember, bereits zweite Hälfte und immer noch keine Geschenke besorgt! Nicht schon wieder Notkäufe. Ich will diese schlecht gespielte Freude über ein halbherzig ausgesuchtes Geschenk nicht mehr ertragen.
Mein Freund, du erwähntest die Weihnachtsgottesdienste, auf die du nicht verzichten möchtest. Deren Besuch stellte ich schon vor 2003 ein. Ich konnte mich nicht mehr auf die Predigt konzentrieren, weil ich nur immer daran denken musste, was diese Menschen alle in die Kirche treibt. Das ganze Jahr sieht man sie dort nicht. Am Heiligabend soll es auf einmal nicht ohne Kirche gehen? Da sitzen sie nun, überlassen der Orgel, dem Pfarrer und einigen älteren Mütterchen die musikalische Gestaltung des Gottesdienstes. Kleine Kinder, viel zu jung, um begreifen zu können, was dort um sie herum geschieht, reagieren mit Geschrei und bisweilen sogar Getobe auf die ihnen unverständliche, sie überfordernde Situation. Eltern wollen nicht sehen und hören, was sich dort in ihrer Gegenwart abspielt.
Es gibt keinen Raum für Besinnung.
Jugendliche feixen in den Kirchenbänken, stecken die Köpfe über gerade eingegangene Meldungen auf dem Mobiltelefon zusammen. Nicht Weihnachten hat sie in die Kirche geführt. Sie kommen, weil der Pfarrer die Konfirmation in Frage stellt, wenn sie fern bleiben, oder, weil sie Julia und Dennis aus ihrer Klasse in der Rolle von Maria und Josef im Krippenspiel sehen wollen. Hemmungslos wird während des Gottesdienstes fotografiert, besonders heftig natürlich während des Krippenspieles. Julia und Dennis sind noch nicht wieder zu Hause, da schwirren bereits Fotos von ihnen versehen mit hämischen und verletzenden Kommentaren durch das weltweite Netz.
Gut, dass mir das noch eingefallen ist. Krippenspiel! Nein, mein Freund, ich möchte keine Krippenspiele mehr ansehen. Lieblose Kostümierung, langweilig vorgetragener Text, schräges Flötenspiel, … da entschädigt auch nicht ein tölpeliger Josef, der über ein Schaf ungewollt direkt in die Arme der verschreckten Maria fällt und damit völlig unbeabsichtigt für ausgelassene Heiterkeit im Kirchenschiff sorgt.
 „Alles hat seine Zeit“, steht in der heiligen Schrift beim Prediger Salomo. Weihnachten, wie es sich heute darstellt, hat für mich seine Zeit gehabt. Ich brauche dieses Weihnachten nicht mehr. Lasst euch nur weiter manipulieren und bevormunden von denen, die Weihnachten -  und euch natürlich - schamlos missbrauchen, allein um Umsätze und Gewinne alljährlich auf ein Neues zu steigern.   Macht, was ihr wollt; aber ich bin nicht mehr dabei!
Ja, euer Weihnachten ist 2003 für mich gestorben. Mein Weihnachten kennt keinen Vorweihnachtsstress mehr. Mein Weihnachten lebt von schönen Erinnerungen an längst vergangene Zeiten, lebt von Ruhe, Ausgeglichenheit und Besinnlichkeit im Kreise der Familie oder guter Freunde. Gutes Essen darf ruhig auch dabei sein. Es ist frei von Zwängen, lebt von der Reflektion des Jahres und dem Nachdenken darüber, welchen kleinen Teil ich zur Schaffung einer besseren Welt beitragen kann.
Und, mein Freund, was soll ich sagen, ich vermisse nichts.


[1] „plünnig“ kommt aus dem Niederdeutschen und leitet sich von dem Substantiv „Plünnen“ (abgetragene, ausrangierte Kleidung) ab.

Weihnachtsbaum verschenkt - Was nun?




Weihnachten ohne Weihnachtsbaum? Ehrlich gesagt, ich kann es mir kaum vorstellen. Weihnachtsbäume haben jedes meiner bislang 63 miterlebten Weihnachtsfeste begleitet. Warum sollte das in diesem Jahr zu meinem 64. Weihnachtsfest anders sein?
Ungefähr zwei Wochen vor dem Fest  fahre ich bei Hans-Heinrich auf den Hof, um etwas mit ihm abzusprechen. Hans-Heinrich steckt voll im Weihnachtsbaumgeschäft. Ungefähr einen halben ha, südlich seines Hauses und Gartens gelegen, bepflanzt er mit Weihnachtsbäumen. Die meisten Bäume sind Douglasien, gelegentlich pflanzt er auch einige Fichten. Die sind nicht mehr in Mode, aber, im Gegensatz zu den Douglasien verströmen sie den typischen Fichtennadelduft, wenn sie zu Weihnachten in der geheizten Stube stehen. Nur wenige Liebhaber, einer von ihnen bin ich, suchen noch nach Fichten.
Ole, der größte und gutmütigste aller Deutscher Schäferhunde, die ich kenne, begrüßt mich als erster auf dem Rappschen Anwesen. Ich kann kaum die Autotür aufbekommen, weil er sich davor aufgebaut hat und erst mit sanftem Druck durch das Autoblech zur Seite weicht. Bevor ich Hans-Heinrich die Hand gebe, muss Ole seine Kraueleinheiten bekommen.
„Geht los jetzt mit dem Baumverkauf“,  meint Hans-Heinrich mit Blick auf einige Tannenbäume, die an die Verkaufsstellage gelehnt auf Käufer warten.
„Hast du noch ein paar Fichten im Bestand?“
Hans-Heinrich führt mich zur Schonung hinter dem Garten. Der Boden ist sehr weich und ich muss aufpassen, dass nicht Wasser und Matsch oben in meine Halbschuhe laufen. Er bleibt gleich zu Beginn der Plantage vor einem Fichtengrüppchen stehen. Ich sehe sofort meinen Weihnachtsbaum 2014. Es stimmte alles: Fichte, gerade  und gleichmäßig gewachsen und so groß, dass er den Raum zwischen Teppich und Zimmerdecke komplett ausfüllen würde.
„Den nehme ich!“
Hans-Heinrich nimmt ein Namensschildchen mit Bindfaden aus der Tasche seiner Arbeitsjacke, presst auf die für ihn typische Art seine Zungenspitze zwischen die Lippen, so dass sie gerade eben herausschaut, und schreibt meinen Namen mit dem Edding auf das Schild. Während er das Schildchen im oberen Drittel an den stattlichen Baum befestigt, teilt er mir mit, dass sie den Baum rechtzeitig vor dem Fest zu uns nach Hause bringen würden.
25 Euro, ein echter Freundschaftspreis. Auch, wenn Fichte nicht mehr allzu hoch in der Beliebtheitsskala steht, müsste sie etwas teurer sein. Hans-Heinrich ich danke dir.
Ich fahre vom Hof mit dem Gefühl, meinen Part für das Weihnachtsfest zur vollsten Zufriedenheit erledigt zu haben. Es gibt noch andere Dinge im Leben als Weihnachtsbäume. Bis der Baum geliefert wird, muss er mich nicht mehr beschäftigen. Schön, dass alles geregelt ist.

Eine Woche vor dem Fest
Uschi ruft an und fragt, ob sie am Freitag vorbeikommen können. Sie wollen ihre Tannenbäume aus Oederquart abholen. Klar können sie und wir verabreden uns mittags zum Fisch.
Freitagvormittag, ich komme ins Haus.
„Das hättest du ruhig mit mir besprechen können“, meint Elke mit vorwurfsvoller Stimme.
„Was?“
„Na, das mit dem Tannenbaum. Das kannst du doch nicht einfach so entscheiden. Ich wollte in diesem Jahr keinen, ich will das nicht mehr mit den Nadeln und sowieso, dafür, dass die Kerzen nur einmal am Heiligabend leuchten. Ich will das nicht mehr und Ines will auch keinen Baum – höchstens einen ganz kleinen.“
„Ich dachte doch nur… Wieso kommst du darauf? Ist der Tannenbaum hier?“
„Ja, Christian hat ihn gebracht und Susanne (unsere Haushaltshilfe) hat ihn eben in den Schuppen getragen, damit er abtrocknen kann. Nein, wirklich, ich will das nicht und finde es auch nicht gut, dass du einfach einen gekauft hast, ohne vorher mit mir zu reden.“
Ich schweige, weiß nicht, was ich noch sagen soll. Viele Dinge gehen mir durch den Kopf. Erinnerungen an die vielen Weihnachtsbäume, die ich in meinem Leben erlebt habe, Kinderweihnacht selbst als Kind und später mit unseren Kindern erlebt und das Bild, wie Anne ihren letzten Weihnachtsbaum um das eine oder andere Schmuckteil ergänzte. Im Tageblatt hatte ich gelesen, dass der Weihnachtsbaum in Deutschland einfach dazu gehört. „Selbst Traditionsverweigerer stellen einen Nadelbaum auf“, stand dort zu lesen.
Und nun sollte es keinen Weihnachtsbaum geben? Soll ich mich durchsetzen? Nein, auch keine Lösung, dann muckschen Ines und Elke die ganzen Weihnachtstage rum. Ist es das wert? Nein, ich akzeptiere einfach, dass wir zu den 10% aller deutschen Haushalte mit drei und mehr Personen zählen, die laut Aussage der Schutzgemeinschaft Deutscher Wald keinen Weihnachtsbaum aufstellen.

Freitagmittag, meine Schwester Uschi und mein Schwager Norbert kommen auf den Hof. Schon bald nach dem Essen müssen sie aufbrechen, um ihre beiden Tannenbäume noch vor der Dämmerung in der Kajedeicher Schonung zu finden. Draußen vor der Tür fragt Norbert nach einer Säge. Ich nehme sie im Schuppen vom Haken und stolpere fast über meinen Weihnachtsbaum. Wozu brauche ich ihn? Zurückgeben kann ich ihn auch nicht. Weihnachten, das Fest der Freude, warum nicht den Baum verschenken?
„Könnte dieser Baum nicht für euch passen? Wir brauchen in diesem Jahr keinen, Elke will´s nicht.“
Uschis Blick etwas ratlos als wollte sie sagen: „Spaß, oder?“
Kein Spaß und nach etwas Beratung, ob die Größe passen könnte, wurde das Geschenk dankbar angenommen und auf dem Autodach verschnürt. Der 64. Weihnachtsbaum in meinem Leben verschwindet hinter der Ausfahrt vom Grundstück und muss Weihnachten ohne mich in Hamburg feiern.

Freitagnachmittag am Kaffeetisch.
„Und, was machen wir nun mit dem Baum?“
„Welchem Baum?“
„Dem draußen im Schuppen.“
„Da ist keiner mehr.“
„Und wieso nicht?“
„Weil ich ihn verschenkt habe.“
„Du hast unseren Baum einfach so verschenkt? An Uschi und Norbert?“
„Ja, du wolltest doch keinen.“
„Hab ja nicht gesagt, dass ich keinen will. Nur einen kleinen, nicht so groß.“
„Nun ist er weg.“

Sonntag, wir fahren beim Gärtner vor, um noch eine Blume für Maria zu kaufen. An der Hauswand lehnen einige Bäume, deren Spitzen mir höchstens bis zur Schulter reichen. Elke sieht sie, verharrt mit den Augen eine Sekunde auf den Weihnachtsbäumchen.
„Und, wenn wir so einen kleinen nehmen?“
Ich antworte nicht. Es arbeitet in meinem Kopf. Wie würde es mit einem kleinen Baum aussehen? Ich werde mich mit Ines, unserer Tochter, beraten, sie kommt am Dienstag.

Dienstagnachmittag, am Tag vor Weihnachten, ruft Hans-Heinrich an, um etwas zu besprechen.
„Da kommen doch immer noch Leute und suchen einen Weihnachtsbaum, sogar im Dunkeln.“
„Vielleicht komme ich auch noch, vielleicht morgen früh. Ich brauche eventuell noch einen kleinen Baum.“
„Na, denn komm´ mal!“

Dienstagabend, der Zug kam etwas verspätet in Hemmoor an. Weihnachtswetter: Böen bis hin zu Orkanstärke treiben den Regen waagerecht über die Straße. Wir freuen uns, dass es im Auto warm und trocken ist.
„Ines, ich muss noch etwas mit dir besprechen. Wir haben in diesem Jahr keinen Tannenbaum.“
„Na und, erwartest du nun einen Zusammenbruch, du weißt doch, dass es mir nichts ausmacht. Das geht schon in Ordnung, allein aus ökologischer Sicht!“
Ja, aus ökologischer Sicht. Hatte ich noch gar nicht so gesehen. Im Tageblatt stand, dass 24 Millionen Weihnachtsbäume im Jahr in Deutschland verkauft würden. Bliebe es beim Weihnachtsfest ohne Baum bei uns, könnte ein Baum ein weiteres Jahr lang Sauerstoff für die ohnehin schon viel zu belastete Luft produzieren. Nur 23 Millionen und 999 Tausend verkaufte Weihnachtsbäume würden das Tannenbaumgeschäft 2014 nicht wahrnehmbar belasten. Wir albern etwas rum, bis ich doch noch einmal auf mein ursprüngliches Anliegen zurückkomme. Ich erzähle ihr von dem Tannenbaum, den ich verschenkt habe und, dass ich auf Elkes zaghaften Vorschlag, es doch einmal mit einem kleineren Baum zu versuchen, nicht reagiert hätte, weil ich erst mit ihr, Ines, darüber sprechen wollte.
„Es ist so, Ines, ich habe den Baum verschenkt, weil ich dachte, dass nicht ich es immer sein muss, der sich mit seinen Wünschen bezüglich Weihnachtsbaum durchsetzt. Ich wollte nicht, dass es wegen des Baumes Unstimmigkeiten zu Weihnachten gibt. Das ist mir die Angelegenheit dann doch nicht wert.“
„Dann ist doch alles gut jetzt, oder!?“
„Eben nicht, Elke hat ja den Vorschlag gemacht, dass wir einen kleinen Baum nehmen könnten, Ich habe darauf nicht reagiert. Hatte das Gefühl, dass sie das nur vorgeschlagen hat, damit ich nicht traurig bin. Ich glaube, es ist nicht ihr echter Wunsch. Sie will doch eigentlich überhaupt keinen Baum in der Stube haben. Ich könnte ja noch einen von Hans-Heinrich holen aber dann muss ich immer nur daran denken, dass der kleine Baum ein Kompromiss ist, den keiner will.“
„Ich könnte damit leben.“

Dienstagabend beim Abendessen
„Ines, in diesem Jahr haben wir keinen Tannenbaum, Jörg hat ihn verschenkt.“
„Hab schon gehört.“
„Er will auch keinen kleinen Baum. Habe ich ihm vorgeschlagen.“
„Ich kann auch ohne.“
„Und ich“, schalte ich mich in die Unterhaltung ein, „will es nun ohne Weihnachtsbaum probieren.“

Heilig Abend, wir sitzen in der Küche und haben ein köstliches Weihnachtsessen mit Rindsrouladen, Rot- und Rosenkohl, Kartoffeln mit Sauce hinter uns. Die Rumpfbescherung steht bevor. Rumpfbescherung, weil wir uns eigentlich nichts mehr schenken. Elke hat ein paar Kleinigkeiten für Ines besorgt und Ines hat ein Geschenk für ihre Eltern dabei. Außerdem hat Ines aus Berlin einige Gaben von Moni mitgebracht.
Bescherung ohne Tannenbaum, und sei sie noch so abgespeckt, geht gar nicht. Aber so soll es nun einmal in diesem Jahr sein.
„Habt ihr eigentlich einen Schlüssel für Brauns Haus?“
„Ja, haben wir.“
Pause
„Die sind doch bis morgen Mittag bei ihren Kindern?“
„Ja.“
„Dann brauchen die doch keinen Tannenbaum.“
„Du meinst doch nicht …“
„Doch, wir gehen da jetzt rüber und leihen uns den Weihnachtsbaum aus. Morgen früh bringen wir ihn zurück.“
„Ines, du spinnst!“
„Komm, Jörg, wir ziehen uns an und holen Brauns Baum.“
Elke schüttelt den Kopf über die Spinnerei ihrer Tochter und beginnt damit, die Küche aufzuräumen.
Während ich in die Stiefel steige und mir den Mantel überwerfe kommen mir Zweifel.
„Ines, sollen wir wirklich?“
„Ja, wir sollen. Komm!“
Sie ist so entschlossen, Widerspruch ist zwecklos. Wir verlassen das Haus, in den Häusern um uns herum feiern die Familien Weihnachten. Nur bei Britta und Bernhard, drei Häuser weiter, ist alles finster. Hoffentlich sieht uns jetzt niemand, denke ich noch, während ich die Haustür aufschließe. In der Wohnstube finden wir den geschmückten Weihnachtsbaum. Er sieht ein wenig anders aus, als wir es gewohnt sind, statt echter Kerzen gibt es Elektrokerzen und auch sonst gibt es Baumschmuck, der uns fremd ist. Insgesamt macht er einen etwas traurigen Eindruck, als spüre er, dass er, obwohl Sinnbild für Weihnachten schlechthin, nun am Heiligen Abend völlig unbeachtet in Brauns Wohnzimmer stehen muss. Ich öffne die Terrassentür und wir stellen gemeinsam den Baum nach draußen. Lichter aus und alle Türen wieder gewissenhaft schließen. Ob die Nachbarn, Owe und Gisela, etwas mitbekommen haben? Vielleicht sind sie gerade bei Giselas Mutter? Soll ich sie nicht doch lieber anrufen?
Elke ist noch in der Küche beschäftigt. Ines und ich bugsieren das Bäumchen in unsere Wohnstube. Es scheint so, als sei nichts beim Transport durch die Finsternis verloren gegangen.
„So“, meint Ines, „hier steht er richtig. Ist doch die Stelle, wo wir ihn sonst auch immer haben. Stecker rein und „Oh, Tannenbaum“ singen!“
Elke kommt in dem Moment in die Stube, als Ines gerade ihre Gaben unter dem Baum ablegt.
„Was ist hier denn los? Wo kommt denn der Baum her?“
„Von Brauns!“
„Ich glaube es nicht, spinnt ihr!?“
„Nein, ist doch alles optimal! Bei Brauns hat er keine Aufgabe, du willst doch einen kleinen Baum, Jörg ist nicht ohne Baum und für die Umwelt haben wir auch noch etwas getan!“
„Geht doch nicht! Brauns? Bernhard und Britta kommen morgen doch wieder!“
„Dann ist der Baum auch wieder zurück. Ein Leihbaum sozusagen. Entspann dich!“
Restweihnachten läuft nach Plan. Elke schüttelt immer wieder den Kopf, wenn ihr Blick auf den geliehenen Weihnachtsbaum fällt.

Erster Weihnachtstag, noch vor dem Frühstück stöpsel ich den Tannenbaum aus und schaffe ihn zurück in Brauns Wohnstube. Wie stand er denn noch? Ach ja, mit dem Kabel zum Schrank. Noch ein Kontrollblick. Täusche ich mich? Sieht der Baum nicht glücklicher aus als gestern? Scheint ihm gut getan zu haben, der kleine Ausflug zu den Nachbarn. Es ist alles in Ordnung, Brauns können nach Hause kommen. Auf der Straße kommen mir Gisela und Owe entgegen.
„Frohe Weihnacht, hast du bei Brauns mal nach dem Rechten gesehen?“
„Ja“, sag ich, „wollte nur mal sehen, ob jemand den Tannenbaum geklaut hat.“
„Ja, ja, passiert ja so einiges. Aber ein geklauter Tannenbaum wäre ja ´mal etwas Neues!“
Wir gehen unserer Wege nicht, ohne uns noch einmal gegenseitig alles Gute zu wünschen.
Nein, denke ich für mich, geklaut war er ja nun wirklich nicht – nur ausgeliehen und pünktlich wieder zurückgebracht.

Erster Weihnachtstag, nachmittags.
Es klingelt. Britta und Bernhard stehen vor der Tür. Sie wünschen uns ein frohes Fest und wir bitten sie rein ins „Weihnachtszimmer“.  Britta blickt in die Ecke, in der sonst immer unser Weihnachtsbaum steht.
„Oh, ihr habt wirklich keinen Tannenbaum. War das nicht merkwürdig, Weihnachten ohne Weihnachtsbaum?“
„Nein, wir hatten ja einen.“
„Schon rausgeschmissen?“
„Nein wir hatten dieses Jahr einen Leihbaum.“
„Leihbaum?“
„Ja, einen Leihbaum, komplett geschmückt. Ist aber schon wieder zurück.“ Grinsend ergänze ich: „Wenn er über 24 Stunden bei uns steht gilt nämlich schon der Zweitagestarif.“
Britta und Bernhard blicken irritiert zu Elke, Elke verdreht die Augen und zeigt mir einen Vogel.
Beim Abschied sagt Bernhard zu Britta: „Du, Liebling, das mit dem Leihbaum wäre doch auch etwas für uns. Gerade, wenn wir nächstes Jahr wieder unterwegs sind.“
Ich lache mit ihm, obwohl ich schon beim Lachen denke:
„So geht es natürlich nicht, Familie Braun! Wenn ihr euch erst nach Heilig Abend einen Leihbaum holt, woher auch immer, wo können wir uns dann im nächsten Jahr unseren Leihbaum herholen!?“