Natürlich
weiß ich, dass es keine Hexen gibt! Aber das war nicht immer so. Vielleicht
1956, damals war ich gerade 6 Jahre alt, da gab es noch eine. Sie hieß Tante
Emma. Zugegeben, ein seltsamer Name für eine Hexe, änderte aber nichts daran,
dass sie eine Hexe sein musste. Tante Emma bewohnte die alte Schule, eine
reetgedeckte, schon etwas windschiefe Kate gegenüber unserer Hofauffahrt. Alle
Indizien wiesen darauf hin, dass Tante Emma in die Reihe der Hexen und bösen
Feen gehörte, die ich aus den Märchen der Gebrüder Grimm kannte. Da halfen auch
die steten Beteuerungen meiner Mutter nicht, dass Tante Emma nur eine einsame,
alte Frau sei, die es mit allen herzensgut meine.
Warum sollte
sie Recht haben, wenn doch Tante Emma in jeder, na ja, in fast jeder Beziehung
den Hexen glich, die ich aus den erzählten oder vorgelesenen Märchen kannte.
Sie war uralt, schwarz gekleidet, ging mit schleppendendem Gang gebückt und auf
einen Stock gestützt, trug ein schwarzes Kopftuch, einige Zähne fehlten ihr und
auf der einen Backe wuchsen ihr schwarze Haare aus einer dicken Warze. Als wäre
das nicht schon genug, wurde sie auf ihren Spaziergängen ums Haus von einem
schwarzen Kater begleitet, mit dem sie sich wohl aus Ermangelung anderer
GesprächspartnerInnen, mit einer alten, hohen und leicht krächzenden Stimme
unterhielt. Es fehlte eigentlich nur noch der Rabe auf der Schulter. Sicherlich
gab es den auch, er war nur immer gerade fortgeflogen, wenn ich Tante Emma von
weitem sah.
Gerne
begleitete ich meine Mutter zum Kaufmann. Ich mochte den Laden, es roch nach
lauter Dingen, die rätselhaft waren, ich konnte mich an Auslagen sattsehen, die
es bei uns selten oder nie gab. Manchmal, wenn Hedwig, die Frau des
Ladenbesitzers Olejeniezcak (weil einfacher, nur „Schietsack“ genannt), einen
guten Tag hatte, durfte ich auch einmal in das Bonbonglas greifen. Getrübt
wurden die Erwartungen, wenn ich an der Hand der Mutter schon auf der
Lindenallee, die vom Haus zur Dorfstraße führte, Tante Emma in ihrem Garten
erblickte. Dann war klar, dass Mutter eben über die Straße musste, um ein paar
Worte mit ihrer Nachbarin zu wechseln. Und ich, im festen Griff ihrer Hand,
musste mit. Je näher wir der Hexe kamen, umso größer wurde meine Angst, dass
ich vielleicht gleich als Kaninchen über die Dorfstraße hoppeln würde. Ich
wusste ja, dass Hexen dazu und noch zu ganz anderen Dingen fähig waren. In
meiner Angst kam ich auch nicht auf die Idee, mich zu fragen, warum die Hexe
mich bis zu diesem Tag nicht schon lange einmal verhext hatte.
Außer diesen
vielen äußerlichen Übereinstimmungen gab es noch einige andere überzeugende
Beweise für die Richtigkeit meiner Annahme, dass es sich bei Tante Emma, die
natürlich keine Tante von mir war, um eine Hexe handeln müsse. Wenn wir Kinder
im möglichst weiten Bogen um das Hexenhaus gingen, wusste immer irgendein Kind
eine neue Hexengeschichte zu erzählen. Warzen und wunde Stellen hatte sie
fortgehext, schlimme Krankheiten geheilt und bei Klaus Hauschildt, der im Spaß
zu ihr gesagt hatte: „Wo geiht di dat, du olle Hex?“ ist zwei Tage später eine
tragende Kuh auf der Weide verendet.
Ja mit Hexen
war nicht zu spaßen. Hier und da nützen sie ja vielleicht; aber wehe, wenn sie
es auf einen abgesehen haben. Siehst ja bei Klaus Hauschildt!
Und dann war
da noch die Geschichte von unserem Nachbarn Bernhard Busch. Die Männer erzählten
sie sich zu gerne, wenn sie schon einige Steinhäger im Dorfkrug bei Inge
Hildebrandt am Küchentisch getrunken hatten. Ich habe sie selbst einmal gehört,
als Mutter mich in den Krug geschickt hatte, um unseren Vater nach Hause zu
holen. Da saßen die Väter meiner Spielkameraden und erzählten sich eine
unheimliche Hexengeschichte über Tante Emma und Bernie Busch, die sie vor
lautem Gelächter kaum zuende bringen konnten. Ich konnte nicht begreifen, was
daran so lustig sein sollte, ging es doch um echte Hexerei und das in unserem
Dorf und noch dazu in direkter Nachbarschaft unseres Hofes. Weil eben auch
diese Geschichte ein eindeutiger Beweis für die Hexenkunst von Tante Emma
darstellt, muss ich sie hier erzählen.
Bernie Busch,
unser Nachbar, lebte unverheiratet mit einer oder zwei ebenfalls ledigen
Schwestern auf unserem Nachbarhof. Ich kannte den Hof nur vom Vorbeigehen. Weil
es keine Kinder dort gab und anscheinend auch keine nachbarschaftlichen
Berührungspunkte, habe ich keine Erinnerungen daran, jemals bei Busch auf dem
Hof gewesen zu sein. Die Buschs waren Sonderlinge und man erzählte sich im
Dorf, dass es bei „denen“ ziemlich schlimm aussehen sollte, was immer das
heißen sollte. Viel besser als die Bewohner kannte ich den Schäferhund des
Hofes, der die Angewohnheit hatte, ganz oben im Giebel der Scheune mit
heraushängenden Vorderpfoten in einem geöffneten Fenster zu liegen. Von seinem
Platz aus hatte er die gesamte Dorfstraße bis zur ersten Kurve nach rechts oder
links unter Kontrolle. Kam ich an dem Haus vorbei, setzte sofort ein heftiges
Gekläffe ein, das mir Angst machte. Schön, dass der Hund nie auf der Dorfstraße rumstromerte.
Dieser
Nachbar, Bernhard Busch, litt immer heftiger unter zwei Warzen an der
Fingerwurzel seiner rechten Hand. Zu jener Zeit wurden noch die meisten
Arbeiten auf dem Hof mit Schaufel, Forke oder Hacke verrichtet. Immer wieder
bluteten und schmerzten die Warzen. Da half auch kein Pflaster und zum Doktor
ging man erst, wenn man kurz vor dem Sterben war. Als Bernie seiner Warzen
irgendwann überdrüssig war, besann er sich auf die besonderen Fähigkeiten von Tante
Emma. Die hat ihm dann verraten, wie er seine Warzen loswerden würde. Bernie bekam von ihr den Auftrag, den
nächsten Vollmond abzuwarten. Dann sollte er zwei Erbsen weich kochen und damit
bei Mitternacht an das Stör Ufer gehen. Dort an der Stör - bei unserem Dorf, kurz hinter der Quelle, nur
ein Bach - sollte er sich mit dem Rücken zum Wasser hinstellen und genau um
Mitternacht über jede Schulter eine von den weichgekochten Erbsen in den Fluss
werfen.
Als es so
weit war, der Vollmond schon hoch über der Lindenallee unseres Hofes stand,
kochte Bernhard Busch seine Erbsen. Und, weil Erbsen keinen großen Wert
darstellten und Bernie ein skeptischer Mensch war, hatte er eigenmächtig die Dosierung erhöht. Nach dem Spruch:
„Doppelt hält besser!“ kochte er sich vier Erbsen weich und begab sich damit
auf unsere Störweide weit draußen vor dem Dorf. Bernie Busch befolgte alle
Anweisungen der Hexe peinlich genau. Er machte trotz der kühlen
Nachttemperaturen sogar seinen Oberkörper frei, wie es ihm Tante Emma aufgetragen
hatte. Als er die Kirchenuhr von Gadeland zu Mitternacht schlagen hörte, drehte
er sich mit dem Rücken zum Fluss, warf über jede Schulter zwei seiner
mitgebrachten Erbsen, hörte in der Stille der Nacht sogar noch das zarte
Geräusch der Erbsen beim Aufkommen auf der Wasseroberfläche. Er streifte sich
zufrieden sein Hemd über und begab sich auf den Weg zurück zu seinem Hof.
In der
folgenden Woche beobachtete der Bauer mit Freude, wie sich die Warzen an seinen
Fingern zurückentwickelten. Er war zufrieden mit sich. So, wie es aussah, hatte
er alles richtig gemacht. Zum Wochenende war dann die große Körperpflege
fällig. Ein Badezimmer gab es nicht. Neben der Pumpe, auf einem kleinen Regal,
lagen ein Stück Seife und Rasierzeug. Ein fleckiger Spiegel erinnerte Bernie Busch
wöchentlich einmal daran, wie der Bauer auf dem Hof eigentlich aussieht. Immer
am Sonnabend gönnte sich Bernie eine Rasur. Das war dann auch die Gelegenheit,
sich von dem grauen Unterhemd zu trennen und ein paar Hände Wasser auf dem nackten
Oberkörper und unter der Achsel zu verreiben. An diesem Sonnabend schien alles
so wie immer zu sein. Als Bernie nach dem Entfernen des restlichen
Rasierschaumes aus dem Gesicht einen Kontrollblick in den alten Spiegel warf,
glaubte er seinen Augen nicht zu trauen. Dort wo sonst immer die zwei
Brustwarzen waren, war nun nichts mehr.
Ja, die Hexe
wird schon gewusst haben, warum sie ihm nur zwei weichgekochte Erbsen empfohlen
hatte.
Die angetrunkenen
Männer in Inge Hildebrandts Küche konnten sich kaum wieder einkriegen, als die letzten Worte der Geschichte bereits unter
dem dröhnenden Gelächter erstickten. Ich konnte nicht begreifen, was sie so
komisch fanden. Schlimm war es eigentlich nicht, dass Bernie nun keine
Brustwarzen mehr hatte, sie haben ja ohnehin keine Funktion bei uns Männern.
Aber komisch war es auch nicht. Das, was da passiert war, war schließlich ein
weiterer Beweis dafür, dass Tante Emma hexen konnte. Das sollte schließlich
auch den Erwachsenen zu denken geben. Ich denke nun gerade wieder an die Kuh
von Klaus Hauschildt.
Als ich
einige Tage später wieder mit meiner Mutter unterwegs war, sah ich schon von weitem
Tante Emma vor ihrem Haus. Ich zog an Mutters Hand und, als sie mich fragte,
was los sei, sagte ich ihr, dass ich nun ganz sicher wüsste, dass Tante Emma
eine Hexe sei. Sie nahm sich die Zeit, mich die Geschichte von Bernie Buschs
weggehexten Brustwarzen erzählen zu lassen. Wahrscheinlich kannte sie die
schon, lachte dennoch von Herzen und versuchte mir zu erklären, dass das doch
nur eine Geschichte sei, die sich irgendeiner der Männer ausgedacht hatte. Ganz
glauben mochte ich ihr nicht. Aber zumindest reichte ihre Erklärung, um meinen
Widerstand zu brechen. Wir passierten gemeinsam den Garten von Emma und nichts
Unheimliches geschah.
Wochen
später, ich war schon Schulkind, widerfuhr mir, was alle Kinder im Dorf
irgendwann einmal erlebten: Ich hatte mich im Stall mit dem Pilz der
Kälberflechte infiziert. Leicht juckende Schorfplacken wuchsen zuerst auf den
Händen und Armen später auch auf dem Oberkörper und im Gesicht. Nichts
Schlimmes aber lästig. Als die Hausmittelchen (Senf aus der Tube) nicht helfen
wollten und die Flechte sich immer weiter auszubreiten begann, fuhr meine
Mutter mit mir auf dem Fahrrad zu dem
neuen Arzt in Gadeland. Herr Wiesner oder nur Herr Doktor versuchte es mit
verschiedenen Salben und Tinkturen. Wir radelten einige Male nach Gadeland und
die Flechte war immer dabei. Der Doktor war irgendwann am Ende mit seinem
Latein und brachte die Konkurrenz ins Spiel. „Frau Petersen, kennen Sie nicht
jemanden, der Krankheiten besprechen kann? Gerade bei Hauterkrankungen werden
gute Erfolge erzielt.“ Als meine Mutter von Tante Emma erzählte, einer Frau in
der Nachbarschaft von uns, die, wie ich ja wusste, sogar Warzen verschwinden
lassen, Kühe sterben lassen und sicherlich auch Menschen verhexen konnte, war
mir ziemlich klar, dass mein letztes Stündchen bald geschlagen hätte.
Es war keine
schöne Zeit für mich, bis wir am nächsten Tag aufbrachen, um Tante Emma
aufzusuchen. In meiner Kinderfantasie malte ich mir die schlimmsten Dinge aus.
Auf der Schwelle des Hexenhauses drehte ich mich noch einmal um, als wollte ich die Erinnerung von unserem Hof mit
in eine andere, mir noch unbekannte Welt nehmen. In der Küche des Hexenhauses
war es trotz der Glühlampe über dem Küchentisch nicht richtig hell. Das hing
mit der Wattzahl der Glühlampe zusammen, wovon ich damals noch nichts wusste.
Ich musste meinen Oberkörper frei machen und Tante Emma strich mit der Hand
über meinen Körper, ohne ihn zu berühren. Dabei murmelte sie unverständliche
Worte. Zu meinem großen Erstaunen trat keine spürbare Veränderung ein. Als ich
mein Hemd wieder übergestreift hatte fühlte ich einmal ganz schnell mein Ohr,
ob es vielleicht schon etwas länger geworden sei.
Nichts!
Alles normal!
Auch zu
Hause traten keine besorgniserregenden Veränderungen ein.
Aber dann
entdeckten wir nach einigen Tagen, dass sich die Flechte zurückentwickelte.
Nach einer Woche waren fast alle Flecken verschwunden. Tante Emma bekam einen
Sack Kartoffeln für ihre erfolgreiche Tätigkeit. Mir wollten sie weismachen,
dass Tante Emma keine Hexe sei, sondern eher eine Heilerin. Das könne man ja
schließlich an meiner Heilung sehen. Für mich war es keine Heilung. Es war
Hexerei, ein weiterer Beweis, dass Tante Emma hexen konnte. Gut, dass mein
Vater den Sack Kartoffeln zu ihr gebracht hatte. Darüber hatte sie sich nämlich
sehr gefreut. Vielleicht denkt sie später einmal daran, wenn sie vorhaben
sollte, mich eigentlich in einen Stein zu verwandeln, es dann aber doch lieber zu
lassen, weil die Kartoffeln ja so gut geschmeckt hatten.
Heute glaube
ich schon lange nicht mehr an Hexerei und Tante Emma war natürlich auch keine
Hexe. Aber, wie hat sie das bloß gemacht, damals mit den Warzen, der Kälberflechte
und Großmutters Gürtelrose?
Keiner kann
sagen, warum einige Menschen die Gabe haben bestimmte Erkrankungen ohne
Medikamente zu heilen.
Oder ist da
doch vielleicht ein ganz wenig Hexerei im Spiel?