Als Popat in
mein Leben trat stand das seine kurz vor dem Ende. Er musste damals in der
Mitte der achtziger gewesen sein. Hinter ihm lag ein bewegtes Leben mit zwei
Weltkriegen. Irgendjemand im Dorf wusste zu erzählen, dass Popat mit 13
Geschwistern in einem Insthaus auf einem Gut aufgewachsen sein sollte. Genaues wusste
niemand, auch die Gemeindeschreiberin von Groß Kramersdorf nicht, die Ende
April 45 die Daten des Flüchtlings Popat
aus Klein Kröpaan, einem Gutsdorf im ehemaligen Kreis Goldap, aufgenommen
hatte. Er nannte ihr nur seinen Nach- oder Vornamen, eben Popat, und dass er am
26. Juni 1876 geboren wurde.
Auf die
Frage, welchen Beruf er ausübte, antwortete er: „Nachtwächter.“
Wenn er mit
einem Treck aus seiner Heimat gekommen war, musste er seine Leute irgendwo
verloren haben. Er kam jedenfalls allein nach Bad Segeberg, der Kreisstadt, und
wurde von dort unserem Dorf zugewiesen. Popat trug, als er ins Dorf kam,
Knobelbecher vom Militär und Arbeitsbekleidung mit schwerer Lodenjoppe, wie sie
zu der Zeit die Landarbeiter überall im Lande trugen. Sein einziges Gepäckstück
bestand aus einem Paket, in dem sich, wie sich später herausstellte, ein roter
Mantel und eine rote Mütze mit Lammfellbesatz
befanden. Papiere hatte er nicht und auf die Frage nach irgendwelchen
Verwandten zuckte er nur mit den Schultern.
Bei
Heimatort trug Maria Reimers, die Hilfe des Bürgermeisters, auf seine Antwort „Gutshof
Klein Kröpaan, Kreis Goldap“ ein.
Spätere
Nachforschungen seitens der Ämter ergaben eine kleine Sensation: Im ehemaligen Kreis Goldap gab es weit und breit
kein Dorf oder Gut mit dem Namen Klein
Kröpaan. Nur den Nachtwächter von Klein Kröpaan, Popat, den gab es!
Und der
wohnte in einem kleinen Verschlag neben Cordes Hühnerstall, der vor der
Zwangseinquartierung des Nachtwächters mit dem Weihnachtsmannkostüm, den frischgeborenen Ferkeln mit der Muttersau
sozusagen als Wöchnerin Station diente.
Popat besaß
kein Geld und bis endlich eine kleine Rente an ihn ausgezahlt wurde, bekam er
umschichtig von den Bauern des Dorfes sein Essen. Als Gegenleistung wurde allerdings von ihm
erwartet, dass er wieder in seinem früheren Beruf als Nachtwächter arbeitet.
Fortan musste Popat
die Nacht über mit einem Stock bewaffnet durch das Dorf gehen. Alle Stunde sollte
er in ein Horn tuten, als Nachweis, dass er auch wachte. Vielleicht sollte das Tuten auch Gesindel verscheuchen. Die großen Dorfbengel spielten
dem armen Nachtwächter manchen Streich und taten so, als wären Einbrecher am
Werke. Popat, altersgeschwächt und ängstlich, versteckte sich und nahm erstmal
einen kräftigen Schluck aus seiner Buddel, um den nötigen Mut für weitere
Nachforschungen zu haben. Wenn er sich schon leicht angetrunken wieder
hervortraute, waren die Jungen verschwunden. Gegen Morgen torkelte der gute
Mann dann in sein Domizil.
Er rief oft
laut über den Hof: “Kiekeriki, ik go jetzt in minen Höhnerstall!”
Jedes Jahr am
Heiligen Abend wechselte Popat in seinen Zweitberuf. Er schlüpfte bereits
zeitig am Nachmittag des 24. Dezembers in sein rotes Weihnachtsmannkostüm,
legte einen alten Getreidesack mit etwas Stroh über die Schulter, kämmte
ausnahmsweise seinen langen, sonst leicht verfilzten weißen Bart und begab sich
mit einer Rute aus Birkenreisern auf seine jährliche Weihnachtsrunde
von Haus zu
Haus. Manche Eltern benutzten ihn als Erziehungsmittel, einige steckten ihm von
ihren Kindern unbemerkt ein paar Geschenke zu, die er dann überreichen durfte.
Viele Eltern in unserem Dorf wollten keinen und diesen Weihnachtsmann schon gar
nicht. Oftmals kauften sie sich mit einem Gläschen Steinhäger vom unerwünschten
Auftritt frei.
Ich machte
meine Bekanntschaft mit Popat Weihnachten 1954. Vierjährig blickte ich auf den
Tannenbaum mit seinen leuchtenden Kerzen. Das Schlagen der Rute gegen das
Fenster des Weihnachtszimmers erschreckte mich zu Tode. Hinter der Scheibe sah
ich den Weihnachtsmann, der mit lauter
Stimme Einlass verlangte.
Von diesem
Moment an war der Weihnachtsmann für mich ein Schreckgespenst und ich verdarb
meinen Eltern und Geschwistern den Heiligen Abend mit meinem anhaltend lauten
Angstgeschrei.
Es brauchte
Wochen, bis ich zur Ruhe kam.
In der
Adventszeit vor dem nächsten Weihnachtsfest fragte ich immer wieder sorgenvoll,
ob der Weihnachtsmann dieses Jahr wiederkommen würde. Sowohl Vater als auch
Mutter beruhigten mich. Ich könne sicher sein, dass der Weihnachtsmann bestimmt
nicht kommen würde. Sicherlich klangen sie nur deshalb so überzeugend, weil
mein Vater schon Tage vor Weihnachten mit einer Fünferschachtel Schneehasen
Zigarren und einer Flasche Doornkaat bei Popat im Hühnerstall aufschlug, ihm
die Geschenke unter der Bedingung überreichte, dass der Weihnachtsmann in diesem Jahr auf jeden Fall den Hermannshof
auslassen müsse.
Ich war dem
anderen Popat, dem Nachtwächter, inzwischen mehrfach im Dorf begegnet. Er
bückte sich zu mir runter, tätschelte mir die Wange und sprach mit seinem
ostpreußischen Dialekt auf mich ein. Meine Großmutter nahm mir jede Angst vor
diesem ungepflegten, wilden Mann mit der merkwürdigen Sprache. Sie erklärte
mir, dass Popat seine Heimat verlassen musste, alles verloren hat und nun bei
Cordes im Hühnerstall lebt. Das wichtigste aber sei, dass er nachts durchs Dorf
geht, Räuber vertreibt und darauf achtet, dass niemand im Schlaf vom Feuer
überrascht wird. Nachdem die Großmutter mir auch noch das Horn erklärt hatte,
betrachtete ich seine Messingtröte mit
äußerster Hochachtung. Dieser Popat war ein guter Mann. So alt und abgerissen
wie er war, war er für mich der Garant für Sicherheit, ein Held, der mich in
dunkler Nacht vor Räubern beschützte.
Weihnachten
stand wieder an!
Was für eine
Vermessenheit von meinen Eltern zu glauben, dass der Weihnachtsmann sich
tatsächlich mit einer Schachtel Zigarren und einer Flasche Schnaps bestechen
lassen würde, seine weihnachtlichen Pflichten zu vernachlässigen. Popat hatte
wahrscheinlich längst schon alle „Schneehasen“ aufgeraucht und die
Schnapsflasche geleert, als er sich vor der Hofauffahrt zum Hermannshof
entschied, doch noch einen kleinen Abstecher zur Petersen Familie zu machen.
Ich war
inzwischen ein Jahr älter und als es am Fenster klopfte klammerte ich mich
sofort ans Bein meiner Mutter. Geschrien habe ich nicht aber mit großer Angst
verfolgt, wie mein Vater die Tür öffnete.
„Ich hatte dir
doch gesagt, dass du dieses Jahr nicht mehr kommen sollst. Sieh zu, dass du vom
Hof kommst.“
Der
Weihnachtsmann trollte sich und redete in bestem Ostpreußisch vor sich hin. Ich
kannte den Klang dieser Sprache. Unser tapferer Nachtwächter hat auch diese
Stimme und Peter Krohn erst, der seit einigen Wochen bei uns auf dem Hof
arbeitete.
Es kehrte Ruhe
ein im Weihnachtszimmer. Wir machten uns fertig zum Essen.
Ich fragte
meine Mutter:
„Hat das
Christkind die Geschenke gebracht?“
„Ja.“
„Und wo wohnt
es?“
„Im Himmel bei
den Engeln.“
„Und der
Weihnachtsmann kommt aus Ostpreußen!“
„Wie kommst du
denn darauf?“
„Der spricht genauso,
wie der Nachtwächter und der ist Flüchtling und kommt auch aus Ostpreußen, hat
Großmutter gesagt.“
Noch Jahre
später, als ich bereits in Hamburg lebte, erwischte ich mich beim Anblick der
vielen Weihnachtsmänner in der vorweihnachtlichen Innenstadt immer mal wieder
bei dem Gedanken:
„Arme Kerle,
kommen aus Ostpreußen und haben alle
ihre Heimat verloren!“