Sonntag, 20. Dezember 2015

Warum der Weihnachtsmann nicht aus Lappland kommt



Als Popat in mein Leben trat stand das seine kurz vor dem Ende. Er musste damals in der Mitte der achtziger gewesen sein. Hinter ihm lag ein bewegtes Leben mit zwei Weltkriegen. Irgendjemand im Dorf wusste zu erzählen, dass Popat mit 13 Geschwistern in einem Insthaus auf einem Gut  aufgewachsen sein sollte. Genaues wusste niemand, auch die Gemeindeschreiberin von Groß Kramersdorf nicht, die Ende April  45 die Daten des Flüchtlings Popat aus Klein Kröpaan, einem Gutsdorf im ehemaligen Kreis Goldap, aufgenommen hatte. Er nannte ihr nur seinen Nach- oder Vornamen, eben Popat, und dass er am 26. Juni 1876 geboren wurde.
Auf die Frage, welchen Beruf er ausübte, antwortete er: „Nachtwächter.“
Wenn er mit einem Treck aus seiner Heimat gekommen war, musste er seine Leute irgendwo verloren haben. Er kam jedenfalls allein nach Bad Segeberg, der Kreisstadt, und wurde von dort unserem Dorf zugewiesen. Popat trug, als er ins Dorf kam, Knobelbecher vom Militär und Arbeitsbekleidung mit schwerer Lodenjoppe, wie sie zu der Zeit die Landarbeiter überall im Lande trugen. Sein einziges Gepäckstück bestand aus einem Paket, in dem sich, wie sich später herausstellte, ein roter Mantel und eine rote Mütze mit Lammfellbesatz  befanden. Papiere hatte er nicht und auf die Frage nach irgendwelchen Verwandten zuckte er nur mit den Schultern.
Bei Heimatort trug Maria Reimers, die Hilfe des Bürgermeisters, auf seine Antwort „Gutshof Klein Kröpaan, Kreis Goldap“ ein.
Spätere Nachforschungen seitens der Ämter ergaben eine kleine Sensation: Im  ehemaligen Kreis Goldap gab es weit und breit kein Dorf oder Gut mit dem Namen  Klein Kröpaan. Nur den Nachtwächter von Klein Kröpaan, Popat, den gab es!
Und der wohnte in einem kleinen Verschlag neben Cordes Hühnerstall, der vor der Zwangseinquartierung des Nachtwächters mit dem Weihnachtsmannkostüm,  den frischgeborenen Ferkeln mit der Muttersau sozusagen als Wöchnerin Station diente.
Popat besaß kein Geld und bis endlich eine kleine Rente an ihn ausgezahlt wurde, bekam er umschichtig von den Bauern des Dorfes sein Essen.  Als Gegenleistung wurde allerdings von ihm erwartet, dass er wieder in seinem früheren Beruf als Nachtwächter arbeitet.
Fortan musste Popat die Nacht über mit einem Stock bewaffnet durch das Dorf gehen. Alle Stunde sollte er in ein Horn tuten, als Nachweis, dass er auch wachte.  Vielleicht sollte das Tuten auch Gesindel  verscheuchen. Die großen Dorfbengel spielten dem armen Nachtwächter manchen Streich und taten so, als wären Einbrecher am Werke. Popat, altersgeschwächt und ängstlich, versteckte sich und nahm erstmal einen kräftigen Schluck aus seiner Buddel, um den nötigen Mut für weitere Nachforschungen zu haben. Wenn er sich schon leicht angetrunken wieder hervortraute, waren die Jungen verschwunden. Gegen Morgen torkelte der gute Mann dann in sein Domizil.
Er rief oft laut über den Hof: “Kiekeriki, ik go jetzt in minen Höhnerstall!”
Jedes Jahr am Heiligen Abend wechselte Popat in seinen Zweitberuf. Er schlüpfte bereits zeitig am Nachmittag des 24. Dezembers in sein rotes Weihnachtsmannkostüm, legte einen alten Getreidesack mit etwas Stroh über die Schulter, kämmte ausnahmsweise seinen langen, sonst leicht verfilzten weißen Bart und begab sich mit einer Rute aus Birkenreisern auf seine jährliche Weihnachtsrunde
von Haus zu Haus. Manche Eltern benutzten ihn als Erziehungsmittel, einige steckten ihm von ihren Kindern unbemerkt ein paar Geschenke zu, die er dann überreichen durfte. Viele Eltern in unserem Dorf wollten keinen und diesen Weihnachtsmann schon gar nicht. Oftmals kauften sie sich mit einem Gläschen Steinhäger vom unerwünschten Auftritt frei.
Ich machte meine Bekanntschaft mit Popat Weihnachten 1954. Vierjährig blickte ich auf den Tannenbaum mit seinen leuchtenden Kerzen. Das Schlagen der Rute gegen das Fenster des Weihnachtszimmers erschreckte mich zu Tode. Hinter der Scheibe sah ich den  Weihnachtsmann, der mit lauter Stimme Einlass verlangte. 
Von diesem Moment an war der Weihnachtsmann für mich ein Schreckgespenst und ich verdarb meinen Eltern und Geschwistern den Heiligen Abend mit meinem anhaltend lauten Angstgeschrei.
Es brauchte Wochen, bis ich zur Ruhe kam.

In der Adventszeit vor dem nächsten Weihnachtsfest fragte ich immer wieder sorgenvoll, ob der Weihnachtsmann dieses Jahr wiederkommen würde. Sowohl Vater als auch Mutter beruhigten mich. Ich könne sicher sein, dass der Weihnachtsmann bestimmt nicht kommen würde. Sicherlich klangen sie nur deshalb so überzeugend, weil mein Vater schon Tage vor Weihnachten mit einer Fünferschachtel Schneehasen Zigarren und einer Flasche Doornkaat bei Popat im Hühnerstall aufschlug, ihm die Geschenke unter der Bedingung überreichte, dass der Weihnachtsmann  in diesem Jahr auf jeden Fall den Hermannshof auslassen müsse.

Ich war dem anderen Popat, dem Nachtwächter, inzwischen mehrfach im Dorf begegnet. Er bückte sich zu mir runter, tätschelte mir die Wange und sprach mit seinem ostpreußischen Dialekt auf mich ein. Meine Großmutter nahm mir jede Angst vor diesem ungepflegten, wilden Mann mit der merkwürdigen Sprache. Sie erklärte mir, dass Popat seine Heimat verlassen musste, alles verloren hat und nun bei Cordes im Hühnerstall lebt. Das wichtigste aber sei, dass er nachts durchs Dorf geht, Räuber vertreibt und darauf achtet, dass niemand im Schlaf vom Feuer überrascht wird. Nachdem die Großmutter mir auch noch das Horn erklärt hatte, betrachtete ich seine Messingtröte  mit äußerster Hochachtung. Dieser Popat war ein guter Mann. So alt und abgerissen wie er war, war er für mich der Garant für Sicherheit, ein Held, der mich in dunkler Nacht vor Räubern beschützte.

Weihnachten stand wieder an!
Was für eine Vermessenheit von meinen Eltern zu glauben, dass der Weihnachtsmann sich tatsächlich mit einer Schachtel Zigarren und einer Flasche Schnaps bestechen lassen würde, seine weihnachtlichen Pflichten zu vernachlässigen. Popat hatte wahrscheinlich längst schon alle „Schneehasen“ aufgeraucht und die Schnapsflasche geleert, als er sich vor der Hofauffahrt zum Hermannshof entschied, doch noch einen kleinen Abstecher zur Petersen Familie zu machen.
Ich war inzwischen ein Jahr älter und als es am Fenster klopfte klammerte ich mich sofort ans Bein meiner Mutter. Geschrien habe ich nicht aber mit großer Angst verfolgt, wie mein Vater die Tür öffnete.
„Ich hatte dir doch gesagt, dass du dieses Jahr nicht mehr kommen sollst. Sieh zu, dass du vom Hof kommst.“
Der Weihnachtsmann trollte sich und redete in bestem Ostpreußisch vor sich hin. Ich kannte den Klang dieser Sprache. Unser tapferer Nachtwächter hat auch diese Stimme und Peter Krohn erst, der seit einigen Wochen bei uns auf dem Hof arbeitete.
Es kehrte Ruhe ein im Weihnachtszimmer. Wir machten uns fertig zum Essen.
Ich fragte meine Mutter:
„Hat das Christkind die Geschenke gebracht?“
„Ja.“
„Und wo wohnt es?“
„Im Himmel bei den Engeln.“
„Und der Weihnachtsmann kommt aus Ostpreußen!“
„Wie kommst du denn darauf?“
„Der spricht genauso, wie der Nachtwächter und der ist Flüchtling und kommt auch aus Ostpreußen, hat Großmutter gesagt.“

Noch Jahre später, als ich bereits in Hamburg lebte, erwischte ich mich beim Anblick der vielen Weihnachtsmänner in der vorweihnachtlichen Innenstadt immer mal wieder bei dem Gedanken:
„Arme Kerle, kommen aus Ostpreußen und  haben alle ihre Heimat verloren!“

Mrs Frampton does not like black bread – Pumpernickel/Graubrot.



Karin Obermeyer fertigte diese Übersetzung für ihren Partner Ron, meinen englischen Freund aus alten Tagen.

At the age of sixteen, in 1966, I had the chance to practice my English, which needed improving. Ron Frampton, the boyfriend of my friend’s sister, invited me to spend my summer holiday with his family in Lower Holditch, a tiny hamlet in West Dorset. Ron was nine years my senior, a motorcycle mechanic. In 1960, at the age of 20, he had started his own business with his younger brother Brian.

Here, in this totally isolated area in Dorset, I was supposed to grasp the basics of the English language. The prospect was bad and good.

The bad thing was; that most people spoke a dialect I could not understand. Other people, obviously, must have had a similar problem.

A girl I met on the beach one day asked me from where in the Midlands I was. (People in the Midlands are sometimes quite difficult to understand). Only after I had shown her my German passport was she convinced I was not from that part of the country. That seemed to be the end of our acquaintance.

The good thing was; that until I sat in the special school train back to Cologne and Hamburg, I never spoke a single German word. I had, in the almost six weeks in Dorset, learned many idiomatic expressions and words, especially concerning the auto technique and work tools. Even my English teacher Dr Lenz would not be able to do better in that subject. But most importantly, I had lost the fear of speaking English, never mind the mistakes I made. The Midlanders would accept them all.   

Ron’s parents were humble and wonderful people. All their lives they worked for the gentry around Ford Abbey. (According to Ron, they were in-house servants in the Axminster and Lyme Regis area.) They never had time or money to travel. And now, at their old age, with time available, money was still missing and there was no desire to travel anywhere.

A few years back Ron met Marion, a German girl, who worked in the neighbourhood for a year as an au-pair.   Mr and Mrs Frampton knew her very well, and when Ron decided to visit her in Hamburg, they were greatly concerned. They watched with suspicion Ron’s adventures and travels to far away Germany.

The Frampton family treated me with great kindness and hospitality. Mrs Frampton was easy to talk to. She spoke accent free English and showed much interest in my life abroad and my family. Mr Frampton was as difficult to understand as he was lovable. He had a very deep, penetrating voice, and a tendency to drag several words into one. Ron called him ‘The Old Man’. He, the old man, liked standing with his hands in the pockets and a pipe in his mouth, watching the chickens and his sons at work.   

In the evenings I watched the news with the old folks. It was a good thing that pictures accompanied the speakers as it seemed to me that they all talked too fast.

The family had told me to be very careful and maybe even leave the room when wrestling was broadcast (which, at that time, was fairly regularly). This quiet old man seemed to undergo a complete transformation – he got really excited, he actually took part in the fight. He threw his arms in the air and waved them about so that no-one near him was safe.  He gave Mum a black eye one day when she was sitting next to him on the sofa; another time he dismantled part of the sofa in his enthusiasm.  Only when I saw his behaviour with my own eyes did I believe it.

Mrs Frampton soon became aware of my eating habits; I ate little. She missed the ravaging hunger her boys had shown when they were my age. The simple explanation was that the food tasted too British; I just ate enough to stay alive. After a while Mrs Frampton obviously realised what the problem was and asked me one day what we ate in Germany. We must have sat for an hour talking about food, when I finally arrived at black bread, – Schwarzbrot/Graubrot/Pumpernickel. In those days, what we called Toastbrot, was the only bread known and available in that part of the world. The white-haired lady was astonished – she had never heard of anything like that. Would people really want to eat it? A life without white bread was unthinkable for her.

As there were no mobile phones in those days, and land-line phone calls to Germany were complicated and expensive, I wrote a postcard to my parents in Hamburg, asking them to send me, per express, a loaf of black bread. I told them that I was craving it – I did not tell them that I wanted to show my hosts what it looked and tasted like.  My dad, who missed the German Graubrot badly, while imprisoned in Egypt during the war, took action immediately. Within two weeks a parcel arrived, packed as perfectly as only my dad could have done it. A loaf of black bread! I ate one slice immediately, without butter, and the rest of it I left on the kitchen table, for the family to try some real bread. 

In the parcel was a letter from my dad: “My dear son, this should help you for the time being. Never forget that your father had to eat white bread for more than six months. Give my regards and best wishes to your hosts.”    

When we gathered around the kitchen table that evening, I asked Mrs Frampton what she thought of the bread. “Oh,” she said, “was that eatable bread? I had no idea. I fed it to the chickens.”

Ron and his dad burst out laughing and we all joined in. The British chickens obviously survived the German bread. Perhaps, much later, members of the Frampton family might have learnt to appreciate and love the taste of black bread, with an egg, for breakfast.

Much later the conversation with my dad went like this:

“The bread was good; I had one slice of it.”

“What happened to rest of it?”

“It was given to the chickens.”

Samstag, 19. Dezember 2015

Mrs. Frampton liebt das deutsche Schwarzbrot nicht



1966 hatte ich, 16jährig, nicht nur schwache Noten in Englisch sondern auch eine sehr günstige Gelegenheit bei Familie Frampton in Lower Holditch Bungalow, Grafschaft Devon meine Englischkenntnisse aufzubessern. Ron Frampton, der englische Freund der Schwester eines Freundes von mir hatte mich für die Sommerferien zu seiner Familie eingeladen. Ron war 10 Jahre älter als ich, Automechaniker und hatte gerade in einer neuerbauten „Nissenhütte“ gemeinsam mit seinem Bruder Brian eine Autoreparaturwerkstatt eröffnet.
Hier, in der absoluten Abgeschiedenheit Devons, sollten die Grundlagen für meine zukünftigen Hochleistungen im Fach Englisch gelegt werden. Die Voraussetzungen dafür waren gut und schlecht zugleich.
Schlecht war, dass die meisten Menschen um mich herum ein derart regional geprägtes Englisch sprachen, dass ich sie kaum verstehen konnte. So auch ein englisches Mädchen, das ich am Strand traf. Für sie waren Abweichungen vom „Hochenglisch“ so normal, dass sie, nachdem sie mein schlechtes Englisch hörte, wissen wollte, aus welchem Teil der Midlands, wo bekanntlich das schlampigste Englisch gesprochen wird, ich denn käme. Meine Beteuerungen, dass ich aus Deutschland  komme, tat sie als plumpe Anmache ab, bis ich ihr meinen Reisepass unter die Nase hielt. Ja, von daher waren die Bedingungen nicht so günstig.
Gut war, dass ich bis ich im Schülersonderzug nach Köln mit Kurswagen nach Hamburg saß kein Deutsch gesprochen habe. Ich habe in den fast sechs Wochen eine Menge Redewendungen und neue Vokabeln gelernt, besonders im Bereich Kfz-Technik und Werkzeuge. Da konnte mir selbst Dr. Lenz, mein Englischlehrer, nicht mehr viel vormachen. Das wichtigste allerdings, was ich gelernt und mir bis heute bewahrt habe: Ich habe meine Angst englisch zu sprechen verloren, egal, wie fehlerhaft es sein mochte. Für die Midlands hätte es allem Anschein damals schon gereicht!

Rons Eltern waren sehr liebenswerte und bescheidene Menschen, die ihr ganzes Leben als Butler und Haushaltshilfe auf dem nahen Herrensitz Fort Abbey gearbeitet haben. Für Reisen hatten sie nie die Zeit und das Geld. Jetzt, im Rentenalter, war die Zeit da, das Geld fehlte immer noch. Rons Aktivitäten über die Landesgrenzen hinaus bis nach Hamburg im fernen Deutschland beobachteten sie mit großer Skepsis. Marion, den Grund für seine Reisen, kannten sie. Marion hatte ein Jahr in der Nachbarschaft als Au-pair gearbeitet.
Mir haben die beiden von Anbeginn größte Freundlichkeit und Gastfreundschaft entgegengebracht. Mit Mrs. Frampton konnte ich mich am besten unterhalten. Sie sprach einwandfreies Englisch und war sehr interessiert, alles über mein Leben und meine Familie zu erfahren. Mr. Frampton war genauso schwer zu verstehen wie er liebenswert war. Er hatte eine sehr tiefe, schnarrende Stimme und zog leicht mal zwei drei Worte zusammen. Ron nannte ihn „the old man“. Er stand gerne mit den Händen in den Hosentaschen und der Pfeife im Mund und schaute dabei den Hühnern oder seinen Söhnen beim Autoschrauben zu.
Abends habe ich mit dem alten Mann Nachrichten geguckt. Gut, dass es auch Bilder gab. Irgendwie haben die Sprecher immer etwas zu schnell gesprochen. Die Familie hatte mich davor gewarnt in der Stube zu bleiben, wenn „Wrestling“ (Catchen) übertragen würde. Dann würde der Alte alles um sich herum vergessen. Er greift selber in die Kämpfe ein, rudert mit den Armen und schlägt in die Luft. Niemand ist in seiner Umgebung sicher.  Mom hatte er, als sie noch mit ihm zusammen auf dem Sofa saß, ein blaues Auge verpasst. Ein anders Mal hat er im Kampfesrausch das neue Sofa zerlegt. Es gab damals eine Art Wrestling Liga und fast jeden Tag irgendwelche Wettkampf Übertragungen. Ich wollte die Warnungen der Familie nicht glauben. Dieser ruhige, alte Mann. Und dann erlebte ich ihn während der Wrestlingkämpfe. Gut, dass ich hinten an der Tür saß, auf einem Stuhl, und nicht wie bei den Nachrichten neben Mr. Frampton auf dem Sofa.
Mrs. Frampton bemerkte ziemlich bald meine Zurückhaltung beim Essen. Sie vermisste bei mir den Heißhunger, den sie von ihren Söhnen kannte, als sie in meinem Alter waren. Es gab eine einfache Erklärung: Es schmeckte eben alles so britisch!  Ich habe gegessen, um nicht zu verhungern, und habe dabei schnell erkannt, was ich gut und was ich weniger gut essen konnte. Mrs. Frampton fragte nicht, ob es mir schmecke oder nicht. Sie hatte längst schon gespürt, was los war. Stattdessen fragte sie mich eines Tages, was wir denn so in Deutschland essen würden. Wir saßen wohl  noch eine Stunde am Küchentisch, nachdem alle anderen längst die kleine Küche verlassen hatten. Als ich bei den Vorzügen von Schwarzbrot im Vergleich zu dem Weizentoastbrot, das es in England als einzige Brotsorte gab, angekommen war, schüttelte die weißhaarige Frau mit großem Erstaunen ihren Kopf. Von schwarzem Brot hatte sie noch nie etwas gehört.
„Und das ist wirklich Brot?“
„Klar, es wird aus Roggenmehl gebacken und enthält Sirup.“
Einmal mehr in ihrem Leben freute sich Mrs. Frampton in England geboren zu sein. Ein Leben ohne Brot konnte sie sich nicht vorstellen und für sie war ein Leben ohne die weiße Weizenpappe ein Leben ohne Brot.

Ich hatte eine Idee. Noch war Zeit. Es gab damals kein Handy und auch das Telefonieren war unverhältnismäßig teuer. Also schickte ich eine Postkarte an meine Eltern in Hamburg mit der Bitte, mir per Express (wegen der Verderblichkeit) ein Schwarzbrot zu schicken. Ich hatte nicht geschrieben, dass ich es brauchte, um meine Gastgeberin mit einer anderen Brotsorte bekannt zu machen. Mein Vater, der während der englischen Kriegsgefangenschaft in Ägypten die Sehnsucht nach Schwarzbrot kennengelernt hatte, hatte volles Verständnis für seinen Sohn und machte sofort den Versand des Brotes zur Chefsache. Keine 14 Tage nachdem ich meinen Hilferuf abgesandt hatte, fand ich ein so korrekt gepacktes Päckchen auf dem Küchentisch, wie nur mein Vater es hinbekam. Ich packte es aus, das erwartete Schwarzbrot lag vor mir, unverdorben. Eine Scheibe aß ich sofort ohne Butter und Aufstrich.
Im Begleitbrief stand:
„Mein lieber Junge, das soll dir erst einmal helfen. Halte die letzten zwei Wochen durch. Denke immer daran, dein Vater musste das englische Brot bis zu seiner Auswechselung über 6 Monate essen. Herzliche Grüße an Ron und deine Gastgeber!“
Ich ließ das Brot auf dem Küchentisch liegen und freute mich schon auf die Gesichter meiner Gastgeber, wenn sie das erste Mal in ihrem Leben richtiges Brot essen.
Als wir am Abend alle um den Küchentisch saßen, fragte ich Mrs. Frampton, ob sie das Brot auf dem Tisch gefunden hätte.
„Oh“, sagte sie, „kann man das essen? Das wusste ich nicht. I gave it to the chickens.“
Sie hat es an die Hühner verfüttert!
Ich muss wohl genauso verdutzt ausgesehen haben, wie sie. Als Ron und sein Vater schallend lachten, mussten auch wir mitlachen.
Die britischen Hühner haben das deutsche Brot überlebt. Vielleicht haben die Framptons später noch einen leicht unbekannten Beigeschmack von deutschem Schwarzbrot im Frühstücksei wahrgenommen.
Wieder in Hamburg angekommen, fragte mein Vater schon bald, ob das Brot gut angekommen wäre und wie lange es denn gereicht hätte.
„Das Brot war gut, ich habe eine Scheibe gegessen, es war köstlich.“
„Und was war mit dem anderen Brot?“
„She gave to the chickens.“
Das war eine kleine Kostprobe von meinem aktuellen englischen Sprachstand.

Montag, 7. Dezember 2015

Horrorfest Halloween



Die Entdeckung Amerikas hat der Menschheit manchen Segen bereitet, wenn wir mal an die vielen sinnvollen und praktischen Erfindungen denken, die aus Amerika zu uns nach Europa gekommen sind.
Bei einigen Errungenschaften aus den Vereinigten Staaten wünschte ich mir allerdings, dass Amerika niemals entdeckt worden wäre, wobei das noch nicht unbedingt eine Garantie dafür gewesen wäre, dass nicht irgendwo anders auf der Welt jemand auf ähnlich dumme Gedanken gekommen wäre.
Auf Halloween zum Beispiel könnte ich nur zu gerne verzichten. In Irland und dann mit den irischen Auswanderern nach Amerika  eingeführt mag der Halloweenbrauch auch dort eine gewisse Tradition und Berechtigung haben.
Was aber haben wir damit zu tun? Kaum einer weiß über die Ursprünge des Brauches.
Halloween hat in unseren Regionen keine traditionellen Wurzeln, der Brauch ist uns von der Konsumindustrie übergestülpt worden. Mit Süßigkeiten, Kostümen, Scherzartikeln und Dekoartikeln lässt sich vortrefflich Geld verdienen.
Ich will da nicht mitmachen, will mich nicht manipulieren lassen.
Wenn das man so einfach wäre.
Bevor ich zum Wochenendeinkauf aufbreche, erinnert mich Ulla noch an Halloween.
„Denkst du daran ein paar Süßigkeiten mitzubringen, heute ist Halloween!“
Sie hat ja Recht. Stell dir vor, da stehen diese Wohlstandsbettelkinder vor der Tür, schmettern dir „Süßes oder Saures“ entgegen und du kannst ihnen nichts geben, um sie schnell wieder loszuwerden.

Ich stehe im Supermarkt vor dem Regal mit den Süßigkeiten. Die Entscheidung fällt nicht schwer. Es sollen die Mini Schokoriegel sein. Die haben den Riesenvorteil, dass ich sie auch gerne mag und vielleicht bleiben ja einige von der Schokogier der  Haloweenmonster verschont.
Ich nehme doch lieber vier statt drei Großpacks Mini Mars und Co mit. Besser ist besser. Stehst am Ende da und hast nichts. Was dann?
Haus verlassen und Abendspaziergang weg vom Haus? Nein! Nicht jetzt im Dunkeln und regnen tut es auch ein wenig.
Licht aus und auf den Fußboden legen? Na ja, muss ja nicht gleich der Fußboden sein. Einfach so tun, als sei niemand zu Hause. Ist auch irgendwie blöd, sich so im eigenen Haus verstecken.

Da müssen wir nun durch. Beim jährlichen Motorradtreffen verlassen wir schon immer Freiburg und schlafen die Nacht auswärts. Nun auch noch am Halloweentag?
Nein, zu viel Aufmerksamkeit für diesen ungeliebten, aufgezwungenen Brauch.
Wie schon gesagt, da müssen wir jetzt durch!

Auf dem Rückweg vom Einkauf wäre es beinahe passiert. Ich biege in eine der Straßen unserer Siedlung und um Haaresbreite wäre ich in eine Gruppe von Halloweenmüttern gefahren. Sie begleiten ihre kleinen „Monster“ auf deren Betteltour durch die Siedlung. Während ihre Kleinen an der Haustür auf Beutezug gehen kauern sie rauchend und miteinander flüsternd im Schatten von Hecken und Büschen, den Nachwuchs immer im Blick.
Kaum, dass die Haustüren zuklappen, müssen die Kleinen berichten, was es bei Tegtmeyer gebracht hat. Die waren letztes Jahr ziemlich knauserig.
Dieses Jahr war es  nicht so schlecht. Hat ihnen wohl im vergangenen Jahr jemand gesteckt, dass sie weit unter der Norm gelegen haben.
Bevor es weiter geht an die nächste Tür wird erst einmal umgepackt. Die Mütter übernehmen  die Last. Weiß inzwischen ja jeder, dass es für die Skelette  der unausgewachsenen Kinderkörper nicht gut ist, wenn Lasten über längere Zeit auf einer Seite getragen werden.
„Süßes oder Saures“ schallt von der nächsten Haustür. Die Gelegenheit, die mit Alkohol gefüllten Pralinen mit der Kirsche auszusortieren. Eine Runde Mon Cheri  für alle.  Es reicht mal eben, weil Petra gerade fastet.
Gewarnt durch meinen „Beinahcrash“ fahre ich vorsichtig weiter.
War das nicht M. mit seiner Tochter. Sie ist drei Jahre alt, versteht nicht, warum ihre Eltern ihr die merkwürdige Kleidung angezogen haben. Sie geht brav an der Hand ihres Papas. Angst kennt sie nicht, der Papa ist ja dabei. Tagelang haben die Eltern ihr die  Betteldrohung beigebracht, ohne dass das arme Kind auch nur annähernd eine Ahnung hatte, was es da lernte. Halloween Nachmittag war es so weit. Sie konnte „Thütheth oder Thaureth“ wie mit englischem „th“ sagen.  Alles war perfekt Kostüm und der Spruch saßen, M. und seine Frau konnten ihr gerade windelfreies Töchterchen ins Rennen um die Haloweenkalorien schicken.
Ich bin fast zu Hause. Da, wo unsere Straße abzweigt, steht eine weitere Müttergruppe, kleine „Halloweenies“ stürzten im Beuterausch eine Auffahrt runter und müssen von ihren Müttern wegen des herannahenden Autos im letzten Moment gestoppt werden.
Keine Angst! Ich bin ja inzwischen vorgewarnt.

Ich komme ins Haus und höre aus der Stube:
„Hast du an die Süßigkeiten gedacht?“
„Ja. Es kommen gleich welche, ich habe sie schon an der Abzweigung zu unserer Straße getroffen.“
Ich fülle die Schokoriegel in eine Glasschüssel und stelle sie griffbereit in den Hausflur. Zwei Teile nehme ich mit in die Stube. Ich kann das. Einfach so, brauche auch keinen Spruch aufzusagen.
Wir sitzen in der Stube in Erwartung der Halloweentrupps und vernaschen inzwischen schon den zweiten Schokoriegel.
„Wir sind als Kinder Rummelpott gelaufen. Das kennt heute niemand mehr.“
„War eigentlich nicht anders. Zumindest was das Einfordern von süßen Leckereien anging. Verkleidung musste auch sein, “ sagte ich zu Ulla.
„Wieso eigentlich Verkleidung beim Rummelpottlaufen?“
„Man sollte doch nicht erkannt werden, wenn man allzu geizigen Leuten ein Spottlied sang.“
Und dann begannen wir die alten Verse zusammenzubekommen.
„Rummel, rummel rusch, de Nigger sit in Busch…“
„Geht heute gar nicht!“ meint Ulla und fuhr schmunzelnd fort „ Anni Berger würde die Kinder ohne etwas wegschicken und sie als Rassisten beschimpfen.“
Ja, da kannte die Berger keinen Spaß. Bei Rassismus hört er auf, der Spaß!
Ich muss auch bei der Vorstellung von Anni Bergers Reaktion lachen. Mir fällt das Schmählied wieder ein. Wie ging es noch?
"Witten Tweern, swatten Tweern,
disse Olsch, de gifft nich geern!"
„Ich erinnere das noch ein wenig anders. Ich meine, dass es hieß:
Witten Tweern, swatten Tweern, Ohle Wieber geevt nich gern!“
„Kann auch sein. Auf jeden Fall mussten wir schon ein wenig mehr leisten, als nur „Süßes oder Saures“ rufen.“
Der Spielfilm ist zuende, 22 Uhr. Ulla blättert die Fernsehzeitung durch. Plötzlich blickt sie auf:
„Es war keiner hier.“
„Was meinst du?“
„Kein Halloweenbesuch! Jetzt kommt auch nichts mehr.“

Schon ein bisschen enttäuschend, hatte ich mich doch extra noch auf den Weg gemacht, Süßigkeiten einzukaufen.
Und nun?
Niemand gekommen!
Ob diese Helikoptermütter hinter den Büschen telepathische Fähigkeiten haben und ihren Kindern am Haloweentag ein Horrorerlebnis ersparen wollten?
Na ja, so schlimm sind wir ja nun auch wieder nicht!

Die Enttäuschung hielt sich aber in Grenzen, als mein Blick auf dem Weg zur Küche auf die bis oben mit Schokoriegeln gefüllte Glasschale fiel.
So schlecht war Halloween dann in diesem Jahr doch nicht. Nichts Saures, dafür aber jede Menge Süßes!