Montag, 19. November 2018

Schlüsselerlebnisse


Der Metronom auf dem Weg vom Hauptbahnhof nach Cuxhaven steht schon mehr als 10 Minuten auf Gleis 6 im Bahnhof Harburg. Ich sitze an einem Vierertisch, neben mir steht meine Tasche und schräg gegenüber am Fenster schläft ein junger Mann mit tief ins Gesicht gezogener Kapuze. Ein Pfiff kündigt die Weiterfahrt an. Ein Mann im besten Alter schafft es gerade noch in den Wagen. Noch ganz außer Atem lässt er sich auf den freien Platz mir gegenüber fallen. Ich lese in meinem Taschenbuch und merke erst beim zweiten Versuch meines Gegenübers, dass er mit mir spricht.
„Ist das Ihr Schlüssel? Vergessen Sie ihn nicht, wenn Sie aussteigen.“
Ich bin zwar gemeint habe jedoch nicht die geringste Ahnung, was er mit der Frage meint.
„Da, der Schlüssel da vor Ihnen, wohl ein Fahrradschlüssel.“



Und dann entdecke ich ihn auch. Er liegt ganz unscheinbar in der kleinen Mulde, die einen Getränkebehälter am Rutschen hindern soll.
„Nein, mein Schlüssel ist das nicht.“
Ich wende mich wieder meinem Buch zu und der inzwischen zur Ruhe gekommene Mann mir gegenüber verfällt in den typischen Pendlerschlaf. Erstaunlich, dass Berufspendler immer kurz vor ihrem Ausstiegsbahnhof aufwachen. In Buxtehude ist die gemeinsame Fahrt für ihn zuende. Mit einem knappen „Tschüß!“ endet unsere kurze Bekanntschaft, wir werden uns wohl nie wiedersehen.
Der junge Mann am Fenster schiebt kurz seine Kapuze zurück und schließt dann wieder seine Augen. Das war nicht sein Bahnhof.
Ab Buxtehude sitzt mir eine Frau gegenüber, vielleicht eine Verkäuferin. Sie mustert aufmerksam ihre Umgebung. Einmal begegnen sich unsere Blicke.
„Das Buch, das Sie da gerade lesen, gefällt es Ihnen?“
Ich bin etwas überrascht.
„Na, das Buch von dem Evers. Ist doch Klasse?!“
„Ja, es liest sich sehr schön.“
„Vergessen Sie nicht Ihren Schlüssel, wenn Sie aussteigen“, meint sie mit einem leichten Kopfnicken zum Schlüssel, der unter dem Buch sichtbar wurde.
„Dann stehen Sie an Ihrem Fahrrad, suchen noch den Schlüssel, dabei fährt der längst weiter nach Cuxhaven.“
Durchsage: „Nächster Halt Horneburg.“
Der Kapuzenmann quält sich an den Knien der Frau vorbei.
„Ist das Ihr Schlüssel?“ frage ich den Schlüssel in seine Richtung haltend.
Er guckt durch mich hindurch und wendet sich wortlos in Richtung Ausgang.
„Hatte der was?“ fragt mich die Frau. „Der hat ja nuscht nicht gesagt. Ausländer vielleicht?“
Dann erzählt sie mir noch, wie sie einmal ihren Fahrradschlüssel an der Ostsee im Sand verloren hatte. Über 5 Kilometer musste sie laufen, um das passende Werkzeug zum Knacken des Schlosses zu holen. Sie beschreibt mir den Weg durch den Wald so genau, dass ich immer mehr das Gefühl bekomme, den Weg zu kennen. Bei Kilometer drei ihres Berichtes endet ihre Abenteuergeschichte abrupt.
„Stade? Oh, wir sind gleich in Stade. Hätte ich fast vergessen. Sie fahren noch weiter?“
„Ja, ich muss noch bis Hemmoor.“
„Ja dann, schönen Tag noch.“

Zwei Mädchen setzen sich auf die freien Plätze an meinem Tisch. Noch nicht ganz in Hammah und ich habe ein ungefähres Bild von Nadine, einer Klassenkameradin der beiden. Wenn nur die Hälfte stimmt von dem, was ich aufschnappe, dann klaut sie, belügt ihre Eltern, ist fast jedes Wochenende betrunken, fängt mit fast jedem Jungen der Schule etwas an und postet fiese Dinge auf Facebook, „die alte Schlampe“.

Zwischen Himmelpforten und Hechthausen lerne ich Nadine kennen. Die beiden mir gegenüber haben sie am Wagenende gesehen.
„Nadine, Nadine, hier sind wir. Kann sie da sitzen?“ Das Mädchen zeigt auf den Platz neben mir.
„Ja klar!“
Ich nehme meine Tasche und stelle sie in den Gang.
Nadine setzt sich neben mich auf den Fensterplatz und ist sofort mit den beiden im regen Austausch. Dieses nette Mädchen sollte doch gerade noch so „Megascheiße“ sein. Davon merke ich nichts.
„Nächster Halt  Hemm-moor!“
Ich verstaue mein Buch, greife meine Tasche und will gehen, da spüre ich, dass etwas an meiner Jacke zieht. Nadine! Was ist das denn nun?
„Sie haben Ihren Schlüssel vergessen.“
Was klingt sie nett und dieses natürliche Lächeln.
Ich mache eine halbe Drehung zum Tisch und stecke den Schlüssel in die Jackentasche.
„Danke! Das wäre beinahe schiefgegangen.“

Seitdem reist der Schlüssel mit mir wann immer ich allein nach Hamburg fahre. Im Metronom wähle ich stets einen Platz am Tisch. Den Schlüssel deponiere ich meist in der Bechermulde und warte geduldig darauf, von Mitreisenden angesprochen zu werden. Lesestoff nehme ich nur mit, um die Zeit bis zum ersten Gespräch zu überbrücken. Langeweile während der Bahnfahrt nach Hamburg gibt es nicht mehr. Manchmal helfe ich etwas nach, wenn meine Mitreisenden nicht von sich aus fragen, ob das mein Schlüssel sei. Dann nehme ich den Schlüssel scheinheilig in die Hand und Frage:
„Ist das vielleicht Ihr Schlüssel?“
Eines Tages, wenn ich genügend Begegnungen dank meines Schlüssels habe, werde ich vielleicht einmal eine Geschichte darüber schreiben.

Nachtrag 1:
Ich komme in die Küche und sehe auf dem Tisch meinen Schlüssel liegen.
„Ach so“, sagt meine Frau, „den habe ich in deiner Hosentasche gefunden. Ist das dein Schlüssel?“
„Ja.“
„Dann steck ihn bitte ein.“

Nachtrag 2:
Nur wenige Tage später verstaue ich die Fahrräder auf dem Autofahrradträger. Weil sie eine Nacht in Berlin auf dem Träger zubringen müssen, sichere ich sie mit zwei zusätzlichen einfachen Ringschlössern. Am ersten Schloss befindet sich ein Schlüssel. Nach dem Schlüssel für das zweite Schloss suche ich gewohnheitsgemäß in meiner Hosentasche. Ich finde ihn unter meinem Schlüsselbund und schließe unsere Fahrräder zusammen. Gerade will ich den Schlüssel ins Seitenfach der Fahrertür packen, da mache ich eine erstaunliche Entdeckung.
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