Ich kenne
den Trompeter nun schon einige Jahre. Also, so richtig gut kenne ich ihn
eigentlich auch nicht. Auf jeden Fall kenne ich ihn besser als er mich.
Oder
vielleicht doch nicht?
Er, der große Meister aus Dresden, besitzt das
Reetdach Haus neben der Ferienwohnung, die wir uns alljährlich im Sommer
mieten. Die Wohnung liegt im ersten Stock und, ob wir wollen oder nicht, wir
blicken schon beim Frühstück auf sein Grundstück und auf ihn, den großen Freund
der Freikörperkultur.
Anfangs glaubte ich ja noch, dass er nicht merken würde,
dass wir ihn sehen können. Über die Jahre, wir waren schon „die Stader“ für ihn
und begrüßten uns zu Urlaubsbeginn wie uralte Bekannte, versuchte er nicht mehr
über schwer einsichtige Pfade durch seinen Garten zu pirschen. Völlig entblößt mit
schon leicht exhibitionistischer Tendenz, suchte er förmlich den Kontakt, einen
kurzen Wortwechsel mit uns, den Feriengästen von nebenan.
Vorletzten Sommer war er auch wieder zeitgleich mit uns in
seinem Ferienhaus nur schien er der Freikörperkultur abgeschworen zu haben.
Erst später und endgültig in diesem Supersommer wurde deutlich, dass er seinem
Körper nur eine kleine Pause gegönnt hatte: Es war im vorigen Sommer wohl
einfach zu kalt, regnerisch und stürmisch.
Ja, dann
aber in diesem Sommer war er wieder ganz der Alte. Nur wenn er zum Einkaufen
oder zu einem seiner Konzerte aufbrach und an dem Tag, als wir ihn so richtig
kennenlernten, fast schon Freunde wurden, war er bekleidet. Wir saßen im Garten
bei unseren Vermietern als der große Meister an der Trompete zum
Nachbarschaftsbesuch kam und sich zu uns an den Tisch setzte. Für einen
Bruchteil einer Sekunde schloss ich die Augen und sah den großen Star mir
gegenüber mit gekreuzten Beinen und splitterfasernackt. Es wollte sich gerade
ein Grinsen über mein Gesicht ausbreiten als mich die Stimme des Weltmusikers
wieder in die Wirklichkeit zurückholte.
„Wir haben
uns doch dieses Jahr schon irgendwo an der Elbe gesehen. Wo war dat denn noch?
Otterndorf?“
„Ja, das war
in Otterndorf. Ich war mit einem befreundeten Ehepaar in ihrem Konzert.“
„Hat´s denn
wenigsten gefallen?“
„Auf jeden
Fall, es war ein schönes Erlebnis und besonders mein Freund Herbert, der einige
Platten von ihnen besitzt und auch schon mehrere ihrer Konzerte miterlebt hat,
schwärmte von dem Konzert in der Otterndorfer Kirche.“
„Wenn se
wollen, können se nächste Woche in die Schifferkirche von Wustrow kommen. Ich
gebe da ein Benefizkonzert zum Erhalt der Kirche. Ich gebe ihnen zwei Karten.
Hab´immer ein Kontingent frei. Dann kriegen sie auch reservierte Plätze mit
Blick zur Orgel.“
Wir nahmen
das Angebot dankend an und warteten am kommenden Dienstag in der vollbesetzten Kirche
gespannt auf den Konzertbeginn. Plötzlich ging ein Raunen durch die Reihen. Der
große Meister mit dem schlechtsitzenden schwarzen Anzug und dickknotiger
dunkler Krawatte schlurfte mehr als er ging mit seiner Trompete unterm Arm quer
durch die Kirche hin zur Treppe, über die man zur Empore vor der Orgel gelangt.
Seine Frisur erinnerte ein wenig an den alternden Einstein: grau, lang, wild.
Das Konzert war grandios gut. Zwei Trompeten und eine Orgel,
die schon durch frühere Benefizkonzerte wieder zu schönem, vollem Klang
gefunden hatte. Der große Ludwig aus Dresden machte seine Späße von der Empore
und stöhnte wegen der unerträglichen Hitze selbst hier in der Kirche. Seit
Wochen schon überschritt das Thermometer fast täglich die 30° Marke.
Güttler, ja,
der große Güttler aus Dresden, der sich so unermüdlich und erfolgreich für den
Wiederaufbau der Frauenkirche eingesetzt hatte, bat nach seinem ersten
Trompetensolo sein Publikum um Nachsicht und zog sich die Krawatte über den
Kopf, wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn und öffnete
den Kragenknopf.
Es folgte
ein Stück für Trompete und Orgel. Die Hitze setzte dem Meister bös zu. Er zog
sich die Anzugjacke aus.
„Er wird
doch nicht“, dachte ich, schloss die Augen und sah vor mir auf der Empore …
Ja, was sah
ich denn wohl?
Die Musik
setzte wieder ein und riss mich aus meinem Tagtraum. Noch darüber schmunzelnd,
dass mein Urlaubsnachbar, der Güttler Ludwig, dem ich diese Karten zu verdanken
hatte, nackt in der Wustrower Kirche ein Benefizkonzert gibt, sah ich, dass er nicht
(oder nicht mehr) nackt war.
Das Konzert
ging unspektakulär zuende. Ludwig Güttler lud zur Programmstunde.
Ich mache mir eigentlich nichts aus
Autogrammen.
Ich habe
schon den Papst, Rudi Dutschke, den russischen Botschafter und Frau Blaschke,
die aus dem Schmidt´s Theater auf der Reeperbahn, getroffen und von allen holte
ich mir kein Autogramm. Mit Ludwig Güttler aus dem Elbvenedig Dresden sollte
diese lange und glückliche Zeit ohne Autogrammabhängigkeit ein Ende finden.
Ich reihte
mich also in die Schlange der Autogrammjäger ein, suchte mir zwei CD´s aus dem
Köfferchen und hielt sie dem Meister zum Unterschreiben hin. Trotz der kaum
erträglichen Hitze war sein Körper noch komplett bedeckt. Lediglich zwei
weitere Hemdenknöpfe waren geöffnet und ließen den Blick auf die gebräunte
Brust des Freikörperfreundes frei. Er blickte zu mir auf als die Reihe an mir
war und sofort ging ein Erkennen über sein Gesicht.
„Ah, der
Nachbar aus Stade. Gut, dass se Musik gekauft haben, gut für mich.“
Während er
noch über seinen eigenen Witz lachte, fragte er mich, was er denn auf die CD´s
schreiben solle.
„Auf die
eine nur Ludwig Güttler, Wustrow und Datum.“
„Fertig! Und
was kommt auf die andere?“
„Für meinen
Freund Herbert.“
„So wie
man´t spricht?“
„Ja, genau
so.“
„Also
schreib ich das jetzt so, in Ordnung?“
„Ja, ist
schon gut.“
Ich sah ohne
Brille etwas unscharf, wie er sich auf meiner CD „für Herbert“ verewigte.
Zufrieden
verließ ich die Schifferkirche zu Wustrow. In der Tasche hatte ich mein erstes
Autogramm. Ein Autogramm von einem leicht exhibitionistischen Trompeter der
Spitzenklasse. „Für Herbert“ stand über Ludwig Güttlers Namenszug. Ich gehörte
jetzt zu den Autogrammjägern. Das erste hatte ich jedenfalls.
Zumindest
bis zu Herberts Geburtstag, dann nämlich sollte er die CD bekommen, mein Freund
Herbert, mit dem Schriftzug „Für meinen Freund Herbert“.
„Das hat
aber ganz schön gedauert.“
„Ja, aber
dafür habe ich nun eine CD für Herbert mit einem Autogramm von Güttler
höchstpersönlich.“
„Zeig mal
her.“
Ich reiche
Ulla die CD. Sie guckt ein wenig zu lang auf das Autogramm.
„Und warum
steht da `Für meinen Freund Herwart´?“
Ja, so
ergeht es einem eben, wenn zwei Menschen mit alten Ohren und alten Augen
miteinander kommunizieren. Was soll`s, mein Freund Herbert wird sich trotzdem
über die Musik freuen. Und, so ganz jung ist er ja auch nicht mehr. Vielleicht sieht er´s nicht und wenn doch, hat
er immer ein passendes Geschenk für unseren gemeinsamen Bekannten Herwart.