Kaum ein Fest ist so von Tradition bestimmt, wie das
Weihnachtsfest. Fast alle Familien stellen einen Weihnachtsbaum auf, immer
weniger aber immer noch viel mehr als sonst im Jahr besuchen die Kirche und,
sehr zur Freude des Einzelhandels, gehören jede Menge Süßigkeiten, Geschenke
und, man staune, auch immer noch tausende fettiger Karpfen zum Fest. Zu alledem
haben sich millionenfach individuelle, familiäre Rituale gebildet, die für die,
die sie praktizieren, nicht vom Weihnachtsfest zu trennen sind. Dazu gehören
der traditionelle Weihnachtsbaumschmuck,
genau festgelegter Festablauf, Weihnachtsmannbesuch, Traditionsgerichte, der Omabesuch, Hemd und/oder Socken für den
Ehemann oder ein obligatorischer
Spaziergang am 1. Weihnachtstag und Vieles mehr.
Im Großen
und Ganzen sieht es bei uns eigentlich auch nicht anders aus.
Eigentlich.
Und doch verläuft
unser Weihnachtsfest ganz anders als noch vor wenigen Jahren. Stück für Stück
sind Traditionen weggebrochen, Familienrituale haben ihre Bedeutung verloren
und wurden letztlich aufgegeben.
Es begann
schon vor sehr langer Zeit, dass wir die Weihnachtsgottesdienste nicht mehr
besuchten, weil sie uns mehr belasteten als Freude zu bereiten. Später wurden
die Geschenke reduziert, übriggeblieben ist bis heute die Abmachung, sich nur
ein Buch zu schenken. Meistens halten wir uns daran. Unglaublich, welche
Stressentlastung sich dadurch in der Vorweihnachtszeit ergeben hat. Wir
schreiben keine Weihnachtspost werden aber trotzdem noch von vielen Menschen
hartnäckig mit Weihnachts- und Neujahrswünschen bedacht. Das ist auch nett so und
per Telefon oder Mail reagieren wir auf die Post. Nur schreiben wollen und
können wir nicht. Weihnachtlicher Schmuck im Haus ist auf ein überschaubares
Maß zusammengeschrumpft, der Adventskranz besteht aus Tuja hat aber immerhin
noch vier Kerzen.
Da fällt mir
gerade ein, dass es in diesem Jahr im ganzen Haus nicht einen Weihnachtsstern
gibt. Dafür aber einen prächtigen Strauß großköpfiger, rotgelber Tulpen. Das
hat es bei uns auch noch nie zum Weihnachtsfest gegeben. Immerhin hat sich die
Tradition mit den großen Amaryllis Blüten gehalten.
Es werden
auch keine Plätzchen mehr bei uns gebacken. Wer soll sie essen? Wir beiden
haben genug mit den Plätzchen, die uns von all den Plätzchenbäckern zugeschoben
werden, die selbst nicht wissen, wie sie mit dem Produkt ihres
vorweihnachtlichen Backaktionismus
fertig werden sollen. Außer dem köstlichen Duft aus dem Backofen
vermissen wir nichts.
Ja, was
bleibt dann noch?
Der
Tannenbaum, ein festliches Essen und das behagliche Beisammensein mit der
Familie.
Für Essen
ist gesorgt. Die letzten Steaks aus unserem Galloway Abo von Jens Mahler aus
Hüll werden wir uns gegen Abend mit leckerem Salat bereiten. Schön
unkompliziert und wir wissen, dass es uns köstlich schmecken wird.
Beisammensein
mit der Familie?
Da ist nichts
außer Ulla und mir. Unsere Lena steht
kurz vor der Entbindung unseres ersten Enkelkindes und möchte sich nicht zwei
Mal kurz hintereinander der weiten und in ihrem Zustand beschwerlichen Zugreise
von Berlin hierher aussetzen. Wir hatten sie am 3. Advent in Oldenburg am
Bahnhof abgeholt und sind dann gemeinsam zur Oma weitergefahren. Dort haben wir
mit unserem Traditionsweihnachtsessen,
Rindsrouladen mit Rotkohl (alles schon in Freiburg vorgekocht),
Weihnachten gefeiert. Mit ihren über 90 Jahren hätte die Oma nichts davon
gehabt, wenn ihre ganze Familie an den Weihnachtstagen über sie hergefallen
wäre. Nach einem Masterplan ihrer Kinder wurden die Weihnachtsbesuche also vom
3. Advent bis zum 2. Weihnachtstag gestreckt.
Und alle
unsere zahlreichen Geschwister?
Sie feiern
mit Kindern und Enkelkindern in ihren Familien. Das behagliche Beisammensein
mit der Familie reduziert sich also in diesem Jahr am Weihnachtsabend auf Ulla
und mich. Das ist nichts Neues, das
haben wir sonst auch das ganze Jahr, wenn nicht gerade einer einen Abendtermin
hat.
90% aller
deutschen Familien feiern Weihnachten mit einem Weihnachtsbaum. Wir gehörten
auch sehr, sehr lange zu den 90%. Bis zu jenem Jahr, als ich unseren
Weihnachtsbaum verschenkt hatte, weil ich meinte herausgehört zu haben, dass
Ulla keinen Baum mehr wolle. Das stellte sich dann ja als Irrtum heraus und wir
fanden in letzter Minute noch eine Lösung mit dem Leihbaum von unseren
verreisten Nachbarn.
Aber das ist
eine andere Geschichte.
Also schön ist
der Gedanke an ein Weihnachtsfest ohne Baum nicht. Und so eine Gelegenheit wie
mit dem Leihbaum hat man nur einmal. Wir haben jedenfalls zu Weihnachten nie
mehr einen Schlüssel zu den Häusern unserer Nachbarn bekommen. Im vergangenen
Jahr gab es wieder einen Tannenbaum, wie wir ihn sonst auch immer hatten:
Duftende Fichte vom Fußboden bis zur Decke und geschmückt mit unserem
traditionellen Tannenbaumschmuck.
Aber dieses
Jahr? Wie sollen wir es in diesem Jahr halten? Wir sind erstmalig nur zu zweit
und wir sind uns ziemlich schnell einig gewesen, dass wir in diesem Jahr
wirklich mal auf einen Baum verzichten könnten.
Wenn das
denn immer so leicht wäre.
Auf
Traditionen verzichten geht nicht ohne Emotionen ab.
Ich habe die
emotionale Dimension unserer Entscheidung unterschätzt. Tannenbäume wohin man
sieht: Von Familienvätern unterm Arm geklemmt, auf Autodächern transportiert
und bei Hans Jürgen an den Verkaufsgestellen.
Sabine
schneit kurz rein und bringt uns ein
kleines Fichtenbäumchen im Topf, nicht größer als 30 cm.
„Habe gedacht,
so ganz ohne Baum sollt ihr nun doch nicht sein.“
Wie lieb von
ihr. Ja, den Topf können wir gut ins Weihnachtszimmer stellen.
Sabines Bäumchen: Klein aber Fichte!!!
Am Freitag,
zwei Tage vor Heiligabend fahre ich zu Hans Jürgen, nur mal so. Mal sehen, wie
es so läuft bei ihm.
„Na, immer
noch keinen Weihnachtsbaum? Wieder einen beim Nachbarn ausleihen?“
Hans Jürgen
kennt natürlich die Geschichte mit dem verschenkten Tannenbaum.
„Nöö“, sage
ich, „das klappt auch nur einmal. Kriegen ja auch keinen Schlüssel mehr zu
Weihnachten.“
„Also wirklich
keinen Baum dieses Jahr?“
„Sind ja nur
zu zweit.
Wenn du so einen kleinen hättest. Vielleicht
könnte ich dann …“
„Klein
machen kann ich sie alle. Such´ dir mal einen aus, ich hol´ schon mal die
Säge.“
Ja, so
verkauft man Weihnachtsbäume.
Ich fand einen
Baum mit ansprechendem Oberteil. Hans Jürgen trennt den unteren Ast Kranz ab.
„Mehr?“
„Ja, noch
einen.“
Bis es dann
ein kleiner Baum war, musste noch ein weiterer Kranz dran glauben. Eingenetzt
passte der Baum gerade ins Auto.
Nein, in
diesem Jahr wollen wir ja keinen Baum. Nun ist da aber einer und Ulla muss das
ja nicht unbedingt wissen. Genügt ja, wenn sie ihn Weihnachten sieht. Ich muss
nur den Baum irgendwo verstecken und das gelingt im Kellerniedergang. Den
benutzt Ulla nämlich im Winter nie.
So weit hat
alles ganz gut geklappt. Kann mir ja immer noch überlegen, ob ich ihn wirklich
aufstelle. Kann ihn ja noch heimlich hinterm Schuppen entsorgen. Wäre nur
schade um die 25 Euro. Und wenn Ulla dann am Heiligabend bedauern würde, dass
wir uns nun doch gegen einen Baum entschieden haben, könnte ich auftrumpfen und
sagen: „Ich hab´ da noch einen Baum hinterm Schuppen. Soll ich ihn
hereinholen?“
Nein, erst
einmal Plan A: Baum heimlich ins Haus holen, in der Nacht von Sonnabend auf
Sonntag unbemerkt im Weihnachtszimmer aufstellen, schmücken, Fakten schaffen!
Während Ulla
am Sonnabendnachmittag mit dem Kochen von Feigenmarmelade beschäftigt ist, kann
der Tannenbaum unbemerkt vom Kellereingang in meine Kellerwerkstatt gelangen.
Vorsichtshalber schließe ich die Werkstatt ab. Manchmal holt sie sich von dort
einen Besen. Man kann ja nie wissen.
Und wenn sie
fragt, warum die Werkstatt abgeschlossen ist, sage ich ihr einfach: „Vor
Weihnachten muss man nicht alles wissen!“
Damit wird
sie sich zufriedengeben. Könnte ja sein, dass ich ihr mal nach langer Zeit
wieder etwas zu Weihnachten bastele.
Ulla räumt
im Obergeschoss Wäsche ein. Ein idealer Zeitpunkt um den Baum zu vermessen. Er
ist immer noch kein kleiner Baum und ich säge einen weiteren Ast Kranz ab. Ein
neues Problem taucht auf: Ich habe keinen Tannenbaumfuß für so einen kleinen und
dünnen Baum.
Noch kann
ich den Baum hinter den Schuppen legen und so tun, als sei in diesem Jahr nie
ein Baum im Haus gewesen.
Dann fällt
mir ein, dass gerade vor wenigen Tagen in einer Quizz Sendung davon gesprochen
wurde, dass in einigen Gegenden Deutschlands noch bis weit ins letzte
Jahrhundert die Tannenbäume an der Decke
aufgehängt wurden – teilweise, besonders im Osten, sogar kopfüber.
Das muss es
ja nun nicht gerade sein. Nur hängen genügt schon.
Ich muss
grinsen beim Gedanken, dass Ulla am Weihnachtsmorgen in die Stube kommt und
dann hängt da ein Tannenbaum kopfüber, also mit der Spitze nach unten.
Nein, ich
muss es nun wirklich nicht mit den Überraschungen übertreiben.
Die Zeit
reicht noch, um einen starken von grünem Kunststoff ummantelten Draht mit einer
Öse zu versehen und am Baum zu befestigen. Einen Haken gibt es schon in der
Decke über unserem traditionellen Weihnachtsbaumplatz.
Es ist alles
bereit für die nächtliche Geheimaktion. Ich muss nur noch sehen, dass ich Ulla
überrede nicht zu spät ins Bett zu gehen. Dass ich noch etwas länger aufbleiben
will, wird sie nicht wundern. Das passiert öfter.
Wir gucken
uns eine Ratesendung an und ich bin mir sicher, dass ich ab 22 Uhr das
Erdgeschoss für mich habe.
„Hast du
schon gesehen, da kommt ein ganz lustiger Spielfilm um zehn im 3. Programm. Den
können wir uns ja noch ansehen.“
„Ja, ist
gut“, sage ich und dachte, dass ich dabei vielleicht einige Minuten vorschlafen
kann, um fit für Teil 2 von Plan A zu sein.
Mitternacht
hatte ich dann freie Bahn.
„Hast du an
eine Flasche Wasser gedacht?“
Nicht, dass
sie noch einmal herunterkommt, wenn ich hier den Weihnachtsmann mache.
„Ist alles
oben. Gute Nacht!“
Nach einigen
Minuten höre ich die Türen von Bad und Schlafstube klappen. Es wird still im
Haus. Ich schleiche mich in den Keller, besorge mir Trittleiter und den Karton
mit dem Weihnachtsbaumschmuck. Dann noch ein Gang und auch der eingenetzte Baum
ist im Weihnachtszimmer. Ich hänge die Öse über den Haken, trete zwei Schritte
zurück und sehe, wie unser Weihnachtsbaum langsam auspendelt.
Noch im Netz, aber er hängt schon!
Was tun? Ich
schiebe den runden Stubentisch unter den Baum. Das sieht gut aus. Nun schwebt
der Baum nur noch 20 cm über der Tischplatte. Mit dem Teppichmesser trenne ich
das Nylonnetz auf und der Baum entfaltet sich.
So klein
wirkt der Baum gar nicht mehr, wenn er 70 cm über dem Teppich beginnt und dann
bis an die Decke reicht.
1 Uhr
morgens beschließe ich, dass unser Weihnachtsbaum 2017 gut genug geschmückt
ist. Zufrieden lösche ich die Lichter und lege mich schlafen.
24.
Dezember. Ich wache auf und blicke auf die Uhr. 7.30 Uhr, das Haus ist still.
So ist es häufig bei uns: Ich gehe als Letzter ins Bett und bin der Erste, der
wieder wach ist. An Weiterschlafen ist nicht zu denken. Also gehe ich leise
nach unten, koche mir den ersten Kaffee und begebe mich mit der
Weihnachtsausgabe des Tageblattes auf das Sofa im Wohn- und Weihnachtszimmer.
Schon ganz
schön cool wie unser Weihnachtsbaum im leichten Luftzug ganz langsam hin und
her schwingt. Ich bin gespannt, wie Ulla die plötzliche Veränderung in unserem
Wohnzimmer aufnehmen wird: Top oder Flopp?
Es regt sich
etwas im Haus, ich höre die Treppe. Im nächsten Moment betritt Ulla das Wohnzimmer.
Die geöffnete Tür verdeckt den Weihnachtsbaum, ihr Blick richtet sich weg vom
Baum zum Sofa.
„Oh, gibt es
schon Kaffee?“
„Ja, in der
Küche.“
Sie dreht
sich um und ich genieße den Moment der Überraschung.
„Nein, wo
kommt der denn her?“
"Wo kommt der denn her?"
Sie macht
einen Schritt auf den Baum zu und setzt sich auf die Sessellehne.
„Was ist? Ist
dir nicht gut?“
„Ich dachte
gerade, dass mir wieder schwindelig wird. Der Baum schien zu schwanken. Tut er
immer noch.“
Nun kann es
weitergehen mit den Resten unserer Weihnachtstradition. Der Tannenbaum ist
nicht nur akzeptiert, er ist ausdrücklich willkommen. Und dass er hängt, statt
zu stehen ist auch in Ordnung. Am Nachmittag sitzen wir beide wie alle Jahre
zuvor am Kaffeetisch im Weihnachtszimmer. Wir trinken und essen von dem „guten“
Geschirr, gucken auf den Tannenbaum mit seinen brennenden Kerzen und essen
Klöben von meiner Schwester Ute gebacken nach dem Rezept unserer Mutter. Da sag
noch einer, es gäbe in unserem Hause keine Traditionen. Es gibt sie schon noch,
auch wenn sie ständigen Veränderungen unterworfen sind. Wer weiß, vielleicht
steht der Baum 2018 wieder statt zu hängen, vielleicht ist es wieder eine
duftende Fichte statt der Nordmanntanne und das Alleinsein hat sich dann auch
erübrigt wenn im nächsten Jahr vielleicht die junge Familie mit unserer
Enkeltochter dabei ist.