Samstag, 1. Oktober 2016

Genosse in Not!


Ein Brief per E-Mail versandt am 17.09.2016 an den Parteivorsitzenden der SPD, Herrn Sigmar Gabriel, Ministerpräsidenten von Niedersachsen, Herrn Stephan Weil, Ministerpräsidentin von NRW, Frau Hannelore Kraft, Landtagsabgeordnete Frau Petra Tiemann und  5 weitere SpitzenpolitikerInnen der SPD.

Anmerkung: Bis zum 3. Oktober 2016 gab es keine Antwort.  Nicht einmal eine Eingangsbestätigung. Vielleicht ist es auch ein wenig zu viel verlangt. Und, nun mal ganz ehrlich: Ich habe eigentlich auch keine Antwort erwartet. Dennoch hat es mir irgendwie gut getan, denen „da oben“ mal kräftig die Leviten gelesen zu haben.

Liebe Genossinnen und Genossen,
ich bin die Partei, Genosse seit 1976. Bisher hat die SPD immer meine Stimmen, mein Engagement  und meine Beiträge bekommen. Nun bekommt sie einen Brief von mir. Ich schreibe nicht aus Langeweile, es ist die Sorge um unsere Partei mit ihrer ruhm- und segensreichen Geschichte.
Ich bin müde, mich ständig in der Öffentlichkeit dafür rechtfertigen zu müssen, dass meine Partei ihren Grundsätzen untreu ist. Ich bin müde zu antworten: „Du hast ja Recht, aber…“
 Es macht mich traurig und wütend, dass über die Jahre viele unserer kreativsten Genossinnen und Genossen der Partei den Rücken gekehrt haben. Ich bin nicht wütend auf die Abtrünnigen. Ich zürne meinen Parteiführungen, die diesen Menschen keine Heimat mehr geboten haben. Oft verspüre ich den Wunsch, ihnen zu folgen. Dann aber denke ich, dass ich mir meine politische Heimat mit ihren wunderbar formulierten und jahrzehntelang praktizierten Grundsätzen nicht von meiner leichtfertig agierenden Parteispitze nehmen lassen will.

Warum spürt ihr nicht, dass Parteimitglieder und Wahlvolk gradlinige Politik mit klaren Aussagen im Interesse besonders der abhängig Beschäftigten und Benachteiligten in unserem Staat suchen, wünschen, fordern?
Verhindert den Eindruck, gemeinsame Sache mit denen zu machen, die nur ihre eigenen Interessen und niemals die der von ihnen abhängigen Menschen und die unseres Gemeinwesens verfolgen!

Abkehr von sozialdemokratischer Politik zu Heilsverkündern unterschiedlichster Richtungen werdet ihr nur verhindern können, wenn ihr den Menschen das Gefühl gebt, sie und ihre Sorgen ernst zu nehmen, wenn ihr sie optimal über die politischen Zwänge informiert und sie viel, viel mehr in Entscheidungsprozesse einbezieht.
Weil es so aktuell ist und meine (und eure) SPD auf dem besten Weg ist, einen weiteren Riesenschritt in Richtung  politische Bedeutungslosigkeit zu gehen, muss ich TTIP und CETA ansprechen. Im Umgang mit diesen Abkommen wird derzeit eklatant gegen Informations- und Beteiligungsbedürfnisse der Partei- und sonstigen Öffentlichkeit verstoßen.  Völlig unnötig setzt die Parteispitze sich dem Vorwurf der Arroganz und Oberflächlichkeit aus.

Euch ist der Appell von unserem Genossen Hans-Georg Tillmann bekannt. Ich muss nicht daraus zitieren. Ich kann ihm in vieler Hinsicht sehr gut folgen.
Wenn ihr schon hinsichtlich der Zukunftsauswirkungen von TTIP und CETA anderer Meinung seid als tausende eurer WählerInnen und GenossInnen, warum erweckt ihr dann auch noch den Eindruck, schnell etwas durchwinken zu wollen, bevor der Druck aus Öffentlichkeit und Partei zu groß wird?
Derartiges Verhalten stinkt nach Unredlichkeit selbst, wenn es nicht an dem ist!

Das mögen weder wir Genossinnen und Genossen in den Ortsvereinen noch unsere WählerInnen.

Vertrauensbildend wäre, sofort den Zeitdruck aus den Entscheidungen herauszunehmen. Wir konnten bislang ohne TTIP und CETA leben und würden es auch noch 12 oder mehr weitere Monate können.  Dann nutzt die Zeit, alle Ängste und Sorgen der Bevölkerung gründlich auszuräumen. Und, wenn es euch nicht gelingt, die Argumente eurer KritikerInnen zu widerlegen, dann, verdammt noch mal, habt endlich mal den Mut, einen eigenen Weg zu denken und zu gehen.

Schiss vor Stimmenverlusten?

Braucht ihr nur zu haben, wenn ihr weiterhin den Eindruck vermittelt, fremdgesteuert, unkreativ und bürger- bzw. wählerfern zu agieren. Ja, dann werden uns weiterhin Stimmen verloren gehen und ich weiß nicht, wie lange ich noch dem Druck widerstehen kann, außerhalb der SPD sozialdemokratische Grundsätze zu vertreten und zu leben.

Liebe Genossinnen, liebe Genossen, besinnt euch auf die Grundsätze unserer Partei . Macht nicht nur sozialdemokratische Politik , sondern agiert auf dem Weg dorthin auch sozialdemokratisch und nichts anderes!
Ich wünsche mir noch einen langen weiteren gemeinsamen Weg. Aber mit "Weiter so!" sehe ich schwarz für unsere Partei.
 
Jörg Petersen
OV Nordkehdingen
Unterbezirk  Stade

Warum kommst du erst so spät?


Es ist schon bald 22 Uhr und ich radle allein durch Neukölln im Herzen Berlins. Ich, das Landei aus Kehdingen, mit dem Fahrrad im Dunkeln durch engen Großstadtverkehr, in dem eigene Regeln gelten. Regeln, die ich jahrelang in der Schule vermittelt habe, haben hier keine Gültigkeit. Ich fahre die Wildenbruchstraße entlang über die Sonnenallee in Richtung Karl Marx Straße vorbei an den vielen kleinen Geschäften und Bars. Vor den Türen sitzen die Menschen, aus den Häusern schallt die Musik Anatoliens oder des Nahen Ostens. Ein Gerüchemix von Speisen aller Herren Länder wabbert über die Straße.
„Ein bisschen, wie im Urlaub“, geht es mir durch den Kopf, nur würde ich da niemals nachts mit dem Fahrrad durch die Straßen fahren. Und allein schon gar nicht.
Ich bin an der Karl Marx Straße. Jetzt sind es nur noch 300 Meter bis zur Passage „Oper von Neukölln“, in der sich das Kino befindet, in das ich will. Die Ampel zeigt rot. Radfahrer mit und ohne Licht fahren links und rechts an mir vorbei. Kurz bevor die Ampel  umspringt, viel zu spät aus Neuköllner Sicht, erliege ich dem Gruppenzwang und trete in die Pedale, kreuze die Fahrbahn und fahre auf dem Fußweg entgegen der Fahrtrichtung zur Passage.
Noch immer etwas erstaunt, dass ich ohne Beschimpfungen und Beinahcrashs die letzten 300 Meter hinter mich gebracht habe, schließe ich mein Fahrrad an einen der Stahlbügel an.
 Lenas Worte gehen mir durch den Kopf.
„Entweder es steht da noch, wenn du aus dem Kino kommst, oder es ist weg. Dein Schloss ist für die Fahrraddiebe hier kein echtes Hindernis. Deine einzige Chance ist, dass keiner scharf auf dein uncooles Rad ist.“
Ich freue mich ausnahmsweise einmal darüber etwas „Uncooles“ zu besitzen und verlasse mein Fahrrad mit dem innigen Wunsch, dass es nicht Begehrlichkeiten weckt bei  jemandem, der es cool findet, etwas Uncooles zu besitzen.

Im Innenhof der Passage sind alle Tische und Bänke vor der Kneipe „Hofperle“  besetzt. Hundert und mehr Stimmen erzeugen zwischen den schallreflektierenden Häuserwänden ein Geräusch, wie das Rauschen des Verkehrs an einer vielbefahrenen Straße. Ich ertappe mich dabei wie ich mich umdrehe, um nach den anderen zu schauen. Da ist aber niemand, weil ich mich allein auf den Weg gemacht hatte. Ich bin 20 Minuten zu früh, hatte den Weg von früheren Fußmärschen viel länger in Erinnerung. Ich gehe in das leere Foyer, das ich zwei Tage zuvor voller Menschen erlebt hatte, und steure den Ticketschalter an.
„Einmal „Ein ziemlich kleiner Freund“ und eine Cola bitte!“
„Macht 8 € und „Zwofuffzich“ für de Cola. Is Kino 3 die Treppe runter im Keller. In 10 Minuten könn´ se rein.“
Ich nehme meine „Fritzcola“ und begebe mich wieder in den Innenhof. Hier scheint es nur fröhliche Menschen zu geben, die den lauen Abend gemeinsam genießen. Ich komme mir mit meiner Cola in der Hand irgendwie deplatziert  und etwas ausgeschlossen vor. War vielleicht doch nicht so eine gute Idee alleine in die Nachtvorstellung zu gehen. Ich bewege mich aus der Passage raus und finde mich vor einem Laden eines Jobcenters wieder. Im Fenster hängen interessante Angebote, die ich ohne Brille mehr rate als dass ich sie lese.
Noch 15 Minuten bis zum Beginn der Vorstellung.
Ich bummle zurück vorbei an den vielen fröhlich schnatternden Menschen ins leere Foyer. Hier setze ich mich auf einen Platz mit Blick auf den Eingang und die Kasse. Hin und wieder verkauft der Mann noch ein Ticket.
Eine Vorstellung muss gerade zuende gegangen sein. Für kurze Zeit Gedränge an der Ausgangstür und dann herrscht wieder Stille. Die Stimme des Ticketverkäufers erschrickt mich.
„Se könn´ nun runterjehn.“
Ich bleibe noch. Lieber hier sitzen als im abgedunkelten Kinosaal.
22.12 Uhr, also 3 Minuten vor Beginn, betrete ich das Kino 3 im Keller. Es ist ein eher kleiner Saal, der noch nicht sehr gefüllt ist. Genau genommen sitzt da nur eine junge Frau, die ich vor einigen Minuten schon in Begleitung eines  Mannes am Kartenschalter gesehen hatte. Nun ist sie hier also alleine. Und er? In einem anderen Film?
Ich setze mich drei Reihen hinter sie und stelle fest, dass es nicht so einfach ist, sich für einen Platz zu entscheiden, wenn alles frei ist und niemand sich an der Entscheidung beteiligt. Ich wähle den vorletzten Platz meiner Reihe irgendwo in der Mitte des Saales.
Zwei Personen nur wollen diesen so gelobten Film sehen?
Ein Mann kommt rein, es ist der Partner der Frau vor mir. Und dann zwei Mädchen oder besser junge Frauen. Ihnen scheint es gut zu gehen. Sie plappern angeregt und lachen. Noch verstehe ich kein Wort. Sie lassen sich in der Reihe hinter mir in die Sitze fallen ohne ihren Redestrom zu unterbrechen. Ein Pärchen betritt den Raum. Nichts Ungewöhnliches an den beiden. Er  hat sein Käppi verkehrt herum aufgesetzt und beide gucken beim Gehen auf ihr Handy. Ich spüre ein Grinsen in meinem Gesicht während ich denke, dass sie sich wohl nicht auf der Jagd nach irgendwelchen virtuellen Monstern ins Kino verirrt haben. Sie bewältigen die Stufe im Gang, ohne zu stolpern. Vielleicht hilft ihnen gerade eine App auf dem Handy, die Stolperfallen rechtzeitig zu erkennen. Vielleicht vier Reihen hinter mir finden sie ihren Platz. Ein kurzer Blick über die Schulter und ich sehe, dass ihre Gesichter immer noch leicht von den Displays ihrer Handys erleuchtet sind.
„Ob sie wohl auch noch während des Filmes mit ihren Handys arbeiten?“
22.15 Uhr, es passiert etwas auf der Leinwand. Ich bringe meinen Körper in eine vermeintlich kinotaugliche Lage. Die Fritzcola in der halbgefüllten  Flasche nimmt langsam die Temperatur meiner Hand an.
Ich sitze mit sechs Personen in der Nachtvorstellung im Kino 3 in der Neuköllner Oper.
„ Mehr nicht?“ geht mir durch den Kopf.
Noch nicht ganz zuende gedacht, da huscht noch eine weitere Person in das Kino, verharrt etwas unentschlossen im Gang und entscheidet sich dann für einen Sitz eine Reihe vor mir. Sie sitzt nur zwei Plätze links von mir und ich kann gut ihr Gesicht erkennen, wenn helles Licht von der Leinwand reflektiert. Eine Afrikanerin, jung und allem Anschein nach allein.
Die Werbung läuft. Die Frau vorne Legt ihre Füße mit Schuhen auf die Vorderreihe, ihr Begleiter hat es sich schon auf ihrer Schulter gemütlich eingerichtet. Vom „Käppi“ und seiner Begleiterin höre und sehe ich nichts. Sie sind wahrscheinlich noch mit ihren Handys beschäftigt.
Die beiden Frauen hinter mir haben sich mit Essbarem aus Rascheltüten gemütlich eingerichtet, vier nackte Füße ruhen auf den Rückenlehnen meiner Nachbarsitze. Sie reden und ich ertappe mich beim Zuhören. Lauter belangloses Zeug über gemeinsame Bekannte, über ihre Mütter und so weiter. Immer begleitet von Gekicher und Lachen. Sind echt gut drauf die beiden.
Die Afrikanerin weiß, was sich gehört, ihre Füße sind ebenso wie meine auf dem Boden. Ihr Blick geradeaus auf die Leinwand gerichtet. Selbst als ein sehr witziger Vorspann des demnächst anlaufenden Filmes „Tschick“ lief, verzieht  sie keine Miene.
„Acht Personen in einem Großstadtkino. Was die wohl bewogen hat, in diesen Film zu gehen? Was sind das für Menschen?“
Wie ein Ohrwurm arbeitet es in mir. Warum bin ich gerade mit diesen 7 Menschen aus der Millionenstadt Berlin heute Abend hier im Kino?
Der Film beginnt und er ist nett, witzig – ausgesprochen unterhaltsam wie ich es erwartet hatte. Trotz eines harten Tages stellt sich bei mir kein Schlafbedürfnis ein wie beim Fernsehen auf dem heimischen Sofa.
„Es liegt am Film“, analysiere ich „und daran, dass ich mich alleine nachts auf den Weg gemacht habe und bestimmt auch daran, dass ich die ganze Zeit daran denken muss, warum die anderen hier sitzen.“
Die Afrikanerin lacht nicht, wenn wir anderen lachen. Sie verzieht nicht einmal das Gesicht. Ich ertappe mich dabei, dass bei jeder witzigen Passage mein Blick zu ihr geht. Es rührt sich nichts in ihrem Gesicht. Versteht sie vielleicht die Sprache nicht? Nein, dann geht man doch nicht ins Kino. Und alleine?
Ich ja auch.
Der Film geht etwas unerwartet zuende. Das passiert mir immer wieder mit dieser Art Filmen, sie könnten endlos weitergehen. Ich stehe als erster auf, weil ich ein Nachspannbanause bin. Kann die schnelle Schrift so schlecht lesen. Dann bleibe ich doch noch stehen und mir widerfährt etwas – mal wieder – als wäre ich ferngesteuert.
Das Kino wird hell und alle erheben sich. Da rufe ich in das Kino: „Alle bitte mal herhören. Ich lade euch alle auf ein Getränk in die Hofperle ein.“
Die wenigen Leute bleiben stehen. Sie sehen zu mir mit fragendem, leicht  amüsiertem Blick. Sie erwarten etwas von mir, ich muss erklären.
„Ich arbeite an einer Studie über die Motive von Kinobesuchern, also warum sie in Spätvorstellungen, äh.. und so.“
Der Innenhof ist leer. Weg ist das Stimmengewirr, nur ein Tisch der Hofperle ist besetzt. Fast alle sind mitgekommen. Das Handypärchen, das erste Paar, die jungen Frauen, schließlich soll es ja ein Gratisgetränk geben. Nur die Afrikanerin war weg. Aber nicht lange. Ich habe sie nicht kommen sehen, hörte plötzlich eine Stimme hinter mir.
„Was soll´s hab ik mir jedacht, ich bleibe noch, der Abend ist ohnehin jeloofen.“
Und dann steht sie da, die Stimme, neben mir und es ist die Afrikanerin, die eine waschechte Berlinerin ist. Wieder einmal bin ich Opfer eingefahrener  Denkmuster geworden.
Afrikanerin! Das mir das nun wieder passiert ist.
Während die Runde auf ihr Getränk wartet, ist es still. Selbst die beiden jungen Frauen sind etwas verunsichert, was hier eigentlich passiert. Es ist dann der mit dem Käppi, der das Schweigen bricht.
„Was für eine Untersuchung machst du da? Ist ja komisch, jeden Abend im Kino?“
Mir ist nicht mehr wohl, ich muss aus dieser Nummer raus.
„Also, das ist keine richtige Untersuchung.“
Und dann habe ich erzählt von meinen Gedanken im Kino und meiner Neugierde, was gerade uns acht hier am Tisch an diesem Abend im Kino zusammengeführt hat. Natürlich wollten wohl alle den Film sehen, aber was gibt es noch zu wissen und dass mir dann die Einladung so rausgerutscht ist und ich schon „Scheiße“ gedacht habe, als ich noch im Kino zu ihnen sprach.
Mit einem Mal reden alle, nein fast alle. Die Begleiterin des Käppis spielte weiter am Handy. Sie hat überhaupt nicht mitbekommen, was hier in den letzten Minuten passiert ist. Das Käppi selber hat das Handy griffbereit auf dem Tisch liegen. Ja und die Afrikanerin, die mit ziemlicher Sicherheit eine Deutsche ist, sagt auch nichts. Immerhin folgt sie den Gesprächen am Tisch.
„Also“, sagt die lockige Frau, die hinter mir gesessen hatte, „ich erzähl mal, wie wir zum Kino gekommen sind. Also meine Mutter glaubt nicht, dass ich Single bin oder sie will es nicht glauben. Sie gibt mir heute Nachmittag Geld für zwei Kinokarten für mich und „meinen nicht vorhandenen Freund“. Vermute mal, dass sie über den Umweg etwas über meinen Freund erfahren will.“
Sie und ihre Freundin lachen.
 „Und dann habe ich mich bedankt und habe Carla angerufen, ob sie mitkommt. Weil Carla noch einen Termin hatte, sind wir erst in die Spätvorstellung. So einfach ist das.“
„Das ist dann ja ein billiger Abend“, meint das Käppi, „und Getränke auch noch frei. Wir waren auf der Karl Marx unterwegs und da habe ich zu ihr gesagt – eij, kannst du mal das Handy weglegen- hab ich zu ihr gesagt lass uns mal gucken was in der Oper läuft. Evi hat den Film gegoogelt und dann sind wir eben rein.“
„Habt ihr denn etwas vom Film mitbekommen?“
Irritierte Blicke auch von Evi.
„Na ja, meine ja nur. Ihr habt doch immer mit euren Handys rumgemacht.“
„Ejh Alter, kannst nicht texten und filmgucken zur gleichen Zeit?“
„Kann vielleicht schon, will aber nicht.“
Ich habe das Gefühl, dass ich für Evi von einem anderen Stern bin. Die Nichtafrikanerin schaltet sich ein und meint, dass texten, lesen und Film ansehen doch nun echt kein Problem sei.
„Und“, fragt der Lockenkopf zum Paar, das noch nichts gesagt hat, „habt ihr ihm auch etwas zu erzählen?“
„Ich heiße übrigens Jörg, nur mal so eben.“
„Ich bin Alex und der, mein Freund, heißt Jussuf. Willst du erzählen, Jussuf oder soll ich?“
„Mach du man.“
„Wir kennen uns seit einer Woche und haben  heute Nachmittag rumgealbert, dass man doch erst hätte ins Kino gehen müssen bevor irgendetwas anderes läuft. Da hat Jussuf gesagt  dann können wir ja heute gehen, damit auch alles stimmt bei uns. Dann haben wir uns das Kinoprogramm von Neukölln genommen und diesen Film rausgesucht.“
„Und, hat euch der Film gefallen?“
Sie fanden ihn alle gut nur die Nichtafrikanerin sagte nichts.
„Wie hat dir denn der Film gefallen?“  frage ich sie.
„Ich heiße Conny. Ich fand den Film schon ganz schön. Es war aber irgendwie nicht mein Tag heute. Ich habe mich darüber geärgert, dass ich alleine im Kino saß. Das hatte ich mir anders gedacht. Mein Freund hat mich um Viertel nach zehn angerufen und meinte, dass er nicht von der Arbeit wegkönne. Ich stand unten und hatte schon zwei Karten. Ich wollte sie zurückgeben. Da hat der Typ gesagt, dass er nur eine zurücknimmt, ich sei ja schließlich da.
 Hab mich nur geärgert: Über meinen Freund, über den Typen an der Kasse und dann auch noch über mich. Ich hätte gar nicht rein gehen dürfen.“
„Ich habe dich beobachtet. Du hast nicht einmal gelacht und ich dachte schon, dass du kein Deutsch kannst.“ Und dann ein wenig leiser: “Dachte du wärest aus Afrika.“
Nun hat sie erstmals herzhaft gelacht.
„Ich bin Neuköllnerin, in der Fuldastraße aufgewachsen. Mein Vater war hier in Berlin stationiert und er wollte nicht zurück in die Staaten und meine Mutter ist zu ihm nach Berlin gekommen. Sie sind schon 29 Jahre deutsche Staatsbürger und ich besitze nur die deutsche Staatsbürgerschaft. In den USA habe ich noch Großeltern und viele Verwandte. Aber sei beruhigt, du bist nicht der einzige, der auf meine Hautfarbe hereingefallen ist. Der Gipfel war als ein Kontrolleur der BVG mich ansprach mit den Worten: Ich Kontrolleur du mir Fahrkarte zeigen. Nach dem ersten Erstaunen sagte ich in meinem besten Berlinerisch. Wat, du willst ´n Kontrolleur sein? Wo haste denn Deutsch jelernt? Kann ja kaum eener verstehen. Er ist weitergegangen ohne dass ich meine Karte zeigen musste. So etwas kann dir passieren als Deutsche mit der verkehrten Hautfarbe.“
Alle haben an ihren Lippen gehangen und nun, als sie schwieg, ist es ein oder zwei Sekunden still. Und dann fragt Carla: „Nun weißt ja alles über uns aber wir wissen nicht warum du so alleene unterwegs bist.“
„Das kann ich euch ganz schnell sagen. Meine Frau und ich besuchen unsere Tochter in Alttreptow. Ich hatte von diesem Film gehört und wollte ihn unbedingt sehen und die beiden hatten mich auch begleiten wollen. Heute waren wir auf Radtour in der Uckermark. 70 Kilometer sind wir gefahren und waren erst um 20 Uhr wieder zurück in Berlin. Die beiden Frauen wollten nicht mehr los, sie waren zu kaputt.  Ich hatte vorhin noch etwas auf dem Sofa geschlafen und fühlte mich ausgeruht genug, um die Vorstellung ohne einzuschlafen  überstehen zu können. Da bin ich dann einfach alleine los und mal ehrlich gesagt, es macht keinen Spaß alleine ins Kino zu gehen. Der Film war aber gut, hat mir sehr gefallen.“
„Besonders die Szenen, wie der große Hund sein Herrchen immer wieder umrannte“, warf Conni mit strahlendem Lachen, wie es ihr während der Vorstellung nicht ein einziges Mal gelungen war, in die Runde.
Nach dem zweiten Getränk kommt die Bedienung an den Tisch, um uns, den nunmehr letzten Gästen der Hofperle, mitzuteilen, dass  jetzt geschlossen würde. Der Lockenkopf schaut auf die Uhr und meint zu Carla: „Ist Zeit für uns, woll´n wir?“
Das war das Zeichen für den allgemeinen Aufbruch. In weniger als einer Minute löst sich unsere Gruppe auf. Die Menschen, mit denen ich die letzten 3 Stunden verbracht hatte, verschwinden wieder in die Anonymität, aus der sie gekommen waren.
Ich gehe durch die fast menschenleere Passage. Dort, wo vor drei Stunden noch dichtgedrängt ein Fahrrad neben dem anderen gestanden hat, steht nun nur noch eines und das ist, Gott sei Dank, meines.
Ich fahre zurück durch Neukölln. Die Stadt hat sich verändert: Die Geschäfte sind geschlossen und nur vor einigen Kneipen sitzen noch die letzten Nachtschwärmer. Der Verkehr ist fast zum Erliegen gekommen und ich fahre sämtliche Ampelfarben ignorierend aber mit vorzüglicher Beleuchtung durch die Stadt, als würde ich immer schon hier leben.

Am nächsten Morgen werde ich gefragt, wie der Film war und wann ich wieder zu Hause war. Erstaunte Blicke über den Frühstückstisch.
„Und warum bist du erst so spät gekommen?“
„Ich habe noch das ganze Kino nach der Vorstellung in die Hofperle eingeladen.“
„Kannst du vielleicht einmal ernst sein, bitte?!“
Und dann habe ich ihnen meine Geschichte erzählt vom Käppi und seiner Freundin, dem Lockenkopf und Carla, Jussuf , Alex und Connie der Afrikanerin, die eine Deutsche aus Neukölln ist.
Skeptische Blicke.
„Das hast du wirklich gemacht?“
„Hmm.“

Bestimmt bin ich der erste Kinobesucher in Neukölln, der nach dem Film alle Gäste einer Vorstellung zu einem Getränk eingeladen hat.