Anton ist
mit meinem Leben in Freiburg verbunden, wie die Schule, das
Lebensmittelgeschäft oder die PostzustellerInnen, die über all die Jahre mit
mir älter geworden sind. Anton bin ich in meinen allerersten Jahren in Freiburg
begegnet. Ich wohnte damals noch im ehemaligen Überlandwerk, dort, wo sich
heute ein Teil des Gartens vom DRK Pflegeheim befindet. Anton klingelte und
stellte sich vor: „Guten Tag, Anton, der Scherenschleifer. Schleife alles,
Scheren, Messer und Gartengeräte. Haben Sie etwas für mich?“
Auf Anhieb
fiel mir nichts ein. Irgendwie fühlte ich mich etwas überrumpelt. Aber ich bat
ihn, zu warten, bis ich meine Küchenmesser durchgesehen hätte. Tatsächlich gab
es zwei Kartoffelschäler und ein Brotmesser, die ich ihm überlassen konnte.
Anton fuhr rückwärts die Auffahrt hoch, öffnete die Kofferraumklappe, nahm eine
Kabeltrommel in die Hand und hielt nach einer Steckdose Ausschau.
„Geben Sie
her, ich habe hier im Flur eine Steckdose.“
Gleich,
nachdem die Stromverbindung hergestellt war, surrte der Elektromotor im
Kofferraum des Autos los. Mit leichtem Sirren zog Anton die Klingen über den
Schleifstein. Nach zwei oder drei Minuten überreicht er mir die Messer.
„Einsfuffzich,
wenn´s geht passend.“
Von nun an
kam Anton jedes Jahr ein oder zwei Mal. Eine Eigenheit von ihm war, dass er
nach dem Klingeln immer ein paar Schritte von der Tür zurückwich. Eine andere
bestand darin, dass er von sich immer sprach, wie von einem Fremden. Ich hörte
ihn niemals sagen: „Hier bin ich wieder!“ oder „Ich bin´s, Anton.“ Wenn er kam,
sagte er immer:
„Anton ist
wieder da.“
Manchmal
fügte er noch den „Scherenschleifer“ ein. Anton wurde mir über die Jahre
vertraut, wie der Schornsteinfeger. Wir haben ihn nie weggeschickt, ohne dass
er zumindest ein Messer oder einen Spaten für uns geschliffen hat. Ich sah ihm
gerne bei der Arbeit zu, wenn die Funken um ihn herum aus dem Kofferraum seines
Autos flogen. Eine Schutzbrille oder Arbeitshandschuhe trug er nicht bei der
Arbeit.
Einmal im
Sommer, es war recht heiß, arbeitete Anton im nicht mehr ganz weißen Unterhemd.
Seine Hände waren ziemlich schwarz vom
ständigen Umgang mit Eisen. Eine eingebrannte, in die Haut eingezogene
Schwärze, die nicht so aussah, als ließe sie sich am Abend mal eben mit einer
Bürste und etwas Seife beseitigen.
Anton reicht
mir eine fertig geschärfte Heckenschere. Ich will zufassen und verharre in der
Bewegung. Mein Blick haftet an Antons Unterarm, auf dem deutlich eine
eintätowierte Nummer zu sehen ist. Diese Nummern kannte ich bis zu diesem Tage
nur aus Geschichtsbüchern. Gedanken schießen mir durch den Kopf. Unser Anton
war KZ Häftling?! Wie alt ist er wohl? Höchstens 1935 geboren. Vielleicht auch
erst 40 geboren. Auf jeden Fall 10 Jahre älter als ich, nur 10 Jahre?! Dann war
er als Kind im Lager. Vielleicht sieht er heute nur älter aus, als er
tatsächlich ist. Anton eines der Romakinder, an denen verbrecherische Ärzte
sehr zweifelhafte, unwissenschaftliche und zutiefst menschenverachtende Experimente durchgeführt
haben?
Anton erkennt
mein Entsetzen über die soeben gemachte Entdeckung und geht zur Tagesordnung über. Er drückt mir die Schere
in die Hand und erzählt wie andere vom letzten HSV Spiel im Volksparkstadion:
„Auschwitz,
Eltern alle tot, viele Verwandte sind nicht zurückgekommen aus den Lagern. Alle
Roma. Hast du noch etwas zu schleifen?“
Anton fuhr
vom Hof und ließ mich mit meinen Fragen und meinem Entsetzen zurück. Ich will
bei seinem nächsten Besuch unbedingt mit ihm reden, will ihn fragen, ob er mir
mehr über seine Nummer auf dem Unterarm erzählen mag.
In den
Folgejahren gab es immer gute Gründe, warum ich nicht zum Fragen kam. Manchmal
kam er, als nur Ulla im Hause war oder ich war schon auf dem Sprung zum
nächsten Termin. Ich hatte die Nummer auch schon einmal schlichtweg vergessen.
Nun haben
wir das Jahr 2015 und mühen uns in unserer Ferienwohnung mit einem
grottenstumpfen Messer ab, um durchwachsenen Speck in kleine Würfel zu
schneiden. Ein Fall für Anton. Anton kommt natürlich nicht hierher an die
Ostsee. Anton war schon lange nicht mehr bei uns.
„Ulla, weißt
du, wann Anton das letzte Mal bei uns war?“
Auch sie
kann sich nicht mehr erinnern:
„Vielleicht
vor zwei Jahren?“
Anton ist
weggeblieben und wir haben es nicht bemerkt bis uns dieses stumpfe Küchenmesser
an der Ostsee an unseren Scherenschleifer erinnert hat.
Ich versuche
mich an meine letzte Begegnung mit ihm zu erinnern. Er hatte von unterwegs
angerufen und gefragt, ob wir etwas zu schleifen hätten. Ich zögerte etwas,
weil ich in Gedanken alle Gerätschaften durchging, die eventuell eine
Behandlung durch Anton vertragen könnten. Bevor ich antworten konnte, presste
er mit etwas Verlegenheit in der Stimme heraus:
„Ich habe
kein Geld mehr und mein Tank ist leer. Wenn du für 5 oder 10 Euro zu schleifen
hast, genügt es um genug Benzin für den restlichen Heimweg zu kaufen.“
„Ja,
klar Anton, halt dich aber nicht zu
lange auf, ich muss gleich aus dem Haus.“
Anton muss
schon in unserer Straße gestanden haben.
Keine zwei Minuten nach unserem Telefonat klappte er den Schleifstein im
Kofferraum eines alten Mazda auf.
Er war
selig, dass seine Heimfahrt gesichert war. Kaum, dass ich ihn ausbezahlt hatte,
verabschiedete ich mich, um im Haus meine Tasche zu packen. Wieder habe ich es
nicht geschafft, mit diesem freundlichen und genügsamen Mann ins Gespräch über
seine Geschichte zu kommen.
Das nächste
Mal!
Nun liegt
diese Begegnung wohl schon mindestens zwei Jahre zurück. Einige Male habe ich
unsere Küchenmesser selbst geschärft und dachte dabei sicherlich:
„Es ist
eigentlich Zeit, dass Anton mal wieder kommt.“
Er ist über
zwei Jahre nicht mehr bei uns gewesen. Kein gutes Zeichen! Die letzten Jahre
hatte er immer seinen Besuch telefonisch angekündigt, um sicher zu gehen, dass
er nicht vergebens an unserer Haustür klingelt.
Das nächste
Mal, Anton, will ich mit dir reden.
Ich fürchte
nur, ein nächstes Mal wird es nicht mehr geben.
Anton, wir
haben nicht bemerkt, dass du nicht mehr bei uns gekommen bist. Uns hatte
scheinbar nichts gefehlt. Nun aber, da wir dein Ausbleiben entdeckt haben
fehlst du mir.