Freitag, 24. Juli 2015

Lass uns reden, Anton!


Anton ist mit meinem Leben in Freiburg verbunden, wie die Schule, das Lebensmittelgeschäft oder die PostzustellerInnen, die über all die Jahre mit mir älter geworden sind. Anton bin ich in meinen allerersten Jahren in Freiburg begegnet. Ich wohnte damals noch im ehemaligen Überlandwerk, dort, wo sich heute ein Teil des Gartens vom DRK Pflegeheim befindet. Anton klingelte und stellte sich vor: „Guten Tag, Anton, der Scherenschleifer. Schleife alles, Scheren, Messer und Gartengeräte. Haben Sie etwas für mich?“

Auf Anhieb fiel mir nichts ein. Irgendwie fühlte ich mich etwas überrumpelt. Aber ich bat ihn, zu warten, bis ich meine Küchenmesser durchgesehen hätte. Tatsächlich gab es zwei Kartoffelschäler und ein Brotmesser, die ich ihm überlassen konnte. Anton fuhr rückwärts die Auffahrt hoch, öffnete die Kofferraumklappe, nahm eine Kabeltrommel in die Hand und hielt nach einer Steckdose Ausschau.

„Geben Sie her, ich habe hier im Flur eine Steckdose.“

Gleich, nachdem die Stromverbindung hergestellt war, surrte der Elektromotor im Kofferraum des Autos los. Mit leichtem Sirren zog Anton die Klingen über den Schleifstein. Nach zwei oder drei Minuten überreicht er mir die Messer.

„Einsfuffzich, wenn´s  geht passend.“

Von nun an kam Anton jedes Jahr ein oder zwei Mal. Eine Eigenheit von ihm war, dass er nach dem Klingeln immer ein paar Schritte von der Tür zurückwich. Eine andere bestand darin, dass er von sich immer sprach, wie von einem Fremden. Ich hörte ihn niemals sagen: „Hier bin ich wieder!“ oder „Ich bin´s, Anton.“ Wenn er kam, sagte er immer:

„Anton ist wieder da.“

Manchmal fügte er noch den „Scherenschleifer“ ein. Anton wurde mir über die Jahre vertraut, wie der Schornsteinfeger. Wir haben ihn nie weggeschickt, ohne dass er zumindest ein Messer oder einen Spaten für uns geschliffen hat. Ich sah ihm gerne bei der Arbeit zu, wenn die Funken um ihn herum aus dem Kofferraum seines Autos flogen. Eine Schutzbrille oder Arbeitshandschuhe trug er nicht bei der Arbeit.

Einmal im Sommer, es war recht heiß, arbeitete Anton im nicht mehr ganz weißen Unterhemd. Seine Hände waren ziemlich schwarz  vom ständigen Umgang mit Eisen. Eine eingebrannte, in die Haut eingezogene Schwärze, die nicht so aussah, als ließe sie sich am Abend mal eben mit einer Bürste und etwas Seife beseitigen.

Anton reicht mir eine fertig geschärfte Heckenschere. Ich will zufassen und verharre in der Bewegung. Mein Blick haftet an Antons Unterarm, auf dem deutlich eine eintätowierte Nummer zu sehen ist. Diese Nummern kannte ich bis zu diesem Tage nur aus Geschichtsbüchern. Gedanken schießen mir durch den Kopf. Unser Anton war KZ Häftling?! Wie alt ist er wohl? Höchstens 1935 geboren. Vielleicht auch erst 40 geboren. Auf jeden Fall 10 Jahre älter als ich, nur 10 Jahre?! Dann war er als Kind im Lager. Vielleicht sieht er heute nur älter aus, als er tatsächlich ist. Anton eines der Romakinder, an denen verbrecherische Ärzte sehr zweifelhafte, unwissenschaftliche und zutiefst  menschenverachtende Experimente durchgeführt haben?

Anton erkennt mein Entsetzen über die soeben gemachte Entdeckung und geht zur  Tagesordnung über. Er drückt mir die Schere in die Hand und erzählt wie andere vom letzten HSV Spiel im Volksparkstadion:

„Auschwitz, Eltern alle tot, viele Verwandte sind nicht zurückgekommen aus den Lagern. Alle Roma. Hast du noch etwas zu schleifen?“

Anton fuhr vom Hof und ließ mich mit meinen Fragen und meinem Entsetzen zurück. Ich will bei seinem nächsten Besuch unbedingt mit ihm reden, will ihn fragen, ob er mir mehr über seine Nummer auf dem Unterarm erzählen mag.

In den Folgejahren gab es immer gute Gründe, warum ich nicht zum Fragen kam. Manchmal kam er, als nur Ulla im Hause war oder ich war schon auf dem Sprung zum nächsten Termin. Ich hatte die Nummer auch schon einmal schlichtweg vergessen.

Nun haben wir das Jahr 2015 und mühen uns in unserer Ferienwohnung mit einem grottenstumpfen Messer ab, um durchwachsenen Speck in kleine Würfel zu schneiden. Ein Fall für Anton. Anton kommt natürlich nicht hierher an die Ostsee. Anton war schon lange nicht mehr bei uns.

„Ulla, weißt du, wann Anton das letzte Mal bei uns war?“

Auch sie kann sich nicht mehr erinnern:

„Vielleicht vor zwei Jahren?“

Anton ist weggeblieben und wir haben es nicht bemerkt bis uns dieses stumpfe Küchenmesser an der Ostsee an unseren Scherenschleifer erinnert hat.

Ich versuche mich an meine letzte Begegnung mit ihm zu erinnern. Er hatte von unterwegs angerufen und gefragt, ob wir etwas zu schleifen hätten. Ich zögerte etwas, weil ich in Gedanken alle Gerätschaften durchging, die eventuell eine Behandlung durch Anton vertragen könnten. Bevor ich antworten konnte, presste er mit etwas Verlegenheit in der Stimme heraus:

„Ich habe kein Geld mehr und mein Tank ist leer. Wenn du für 5 oder 10 Euro zu schleifen hast, genügt es um genug Benzin für den restlichen Heimweg zu kaufen.“

„Ja, klar  Anton, halt dich aber nicht zu lange auf, ich muss gleich aus dem Haus.“

Anton muss schon in unserer Straße  gestanden haben. Keine zwei Minuten nach unserem Telefonat klappte er den Schleifstein im Kofferraum eines alten Mazda auf.

Er war selig, dass seine Heimfahrt gesichert war. Kaum, dass ich ihn ausbezahlt hatte, verabschiedete ich mich, um im Haus meine Tasche zu packen. Wieder habe ich es nicht geschafft, mit diesem freundlichen und genügsamen Mann ins Gespräch über seine Geschichte zu kommen.

Das nächste Mal!

Nun liegt diese Begegnung wohl schon mindestens zwei Jahre zurück. Einige Male habe ich unsere Küchenmesser selbst geschärft und dachte dabei sicherlich:

„Es ist eigentlich Zeit, dass Anton mal wieder kommt.“

Er ist über zwei Jahre nicht mehr bei uns gewesen. Kein gutes Zeichen! Die letzten Jahre hatte er immer seinen Besuch telefonisch angekündigt, um sicher zu gehen, dass er nicht vergebens an unserer Haustür klingelt.

Das nächste Mal, Anton, will ich mit dir reden.

Ich fürchte nur, ein nächstes Mal wird es nicht mehr geben.

Anton, wir haben nicht bemerkt, dass du nicht mehr bei uns gekommen bist. Uns hatte scheinbar nichts gefehlt. Nun aber, da wir dein Ausbleiben entdeckt haben fehlst du mir.

 

150 g Lieberwurst


Ich stehe am Fleischtresen bei meinem EDEKA. Nicole ist heute mal wieder da. Ich mag ihre fröhliche Art, wenn sie mich fragt, was es denn heute einmal sein darf.

 „150g von der Lieberwurst, bitte.“

Nicole greift zur Leberwurst und hält inne. Sie sieht mich leicht irritiert an.

„Ähh, Lieberwurst? Ha´m wir nicht.“

„Hab´ ich Lieberwurst gesagt? Tschuldigung, Leberwurst natürlich von der mit den Fleischstückchen.“

„Ich weiß, Sie wollen ja immer ganz gerne sehen können, was alles so in der Wurst drinnen ist.“

Ja, man kennt mich hier. Ich muss schon lange nicht mehr bei jedem Einkauf  meine Standardsprüche rauslassen.

 

Lieberwurst! Es ist mir einfach so herausgerutscht und das nicht ohne Grund. Dazu gibt es eine Geschichte.

Als unsere Anne noch lange nicht alle Zähne hatte, langsam aufhörte sich allein von Milch und Breis zu ernähren und anfing zu sprechen, begann sie kleine Feinbrothäppchen ohne Rinde mit weichem Belag zu essen. Da sie durchaus schon einige Brotaufstriche unterscheiden konnte, fragte ich:

Anne, was möchtest du auf dein Brot? Schmierkäse oder lieber Wurst?“

„Lieberwurst.“

Zu dem Zeitpunkt dachte ich mir nichts bei dieser Antwort. Die Wurst, die es aufs Brot gab, war Leberwurst. Gut zu streichen und, was für das Kind viel wichtiger war, gut zu beißen. In den folgenden Wochen wurde die Frage nach Wurst oder Käse sehr häufig gestellt. Mal fiel die Entscheidung zu Gunsten des Käses aus, mal sollte es lieber Wurst sein.

Dass wir unserem Kind ohne es bemerkt zu haben, ein falsches Wort beigebracht hatten, merkte ich irgendwann, als ich Anne im Einkaufswagen am Wursttresen vorbeischob und sie plötzlich immer „Lieberwurst, Lieberwurst,“ rief und ganz aufgeregt auf die ihr bekannte Leberwurst in der Auslage zeigte. In Zukunft verkniff ich mir das Wörtchen „lieber“ vor die Wurst zu setzen und fragte einfach nur:

„Anne, möchtest du Käse oder Leberwurst?“

„Lieberwurst!“

So leicht gibt man nicht auf, was man einmal, wenn auch falsch, gelernt hat. Für Anne blieb Leberwurst noch bis fast zur Einschulung Lieberwurst.

Und wenn mich heute jemand fragt:

„Isst du lieber Wurst oder lieber Käse?“ antworte ich:

„Lieber Käse!“ und meine bestimmt nicht Leberkäse.