Eine Weihnachtsgeschichte
Es muss in der Mitte der 50er Jahre gewesen sein, als sich diese
Geschichte ereignete. Wir waren vier Kinder in der Familie und meine Eltern
bewirtschafteten einen kleinen Bauernhof auf der Holsteinischen Geest bei
Neumünster.
Das Familieneinkommen war nicht sonderlich hoch. Das spürten wir Kinder
immer dann, wenn unsere Eltern am Tisch darüber beratschlagten, wie sie die
Winterkleidung, Stromgeld oder eine notwendige Maschinenreparatur bezahlen
sollten. Weil meine drei Schwestern und ich sehr wohl merkten, wie knapp das
Geld bei den Eltern war, fielen wir alljährlich auf das vorweihnachtliche
Theater unseres Vaters herein. Als wäre es heute noch so erinnere ich mich
daran, wie er in der Adventszeit anfing, uns auf die schwierige finanzielle
Lage hinzuweisen, in der sich die Eltern gerade zum Weihnachtsfest befanden.
Es hatte seit einigen Tagen gefroren und wir Kinder wurden bei Anbruch
der Dunkelheit zum Adventskaffee hereingerufen. Feinbrot mit Butter und braunen
Keksen! Kaum in der warmen Stube, gab es erst einmal eine Predigt! Der Geruch,
den wir verbreiteten, machte jegliches Leugnen zwecklos. Wir hatten uns auf der
zugefrorenen Jauchegrube eine Glitschbahn gebaut. Nun, in der warmen Stube,
begann die gefrorene Jauche, die an unseren Hosen haftete, zu schmelzen. Gleich
im Anschluss an das Rutschverbot auf der Jauchegrube für alle Zeiten setzte
unser Vater sein bekannt sorgenvolles Gesicht auf und sagte mehr zur Mutter
gewandt:
„Einen Tannenbaum gibt es dieses Jahr nicht. Paßvogel will schon wieder
eine Mark mehr für den Baum und ich soll erst die Rechnung für die zwei
Futtertröge bezahlen bevor ich Geld für einen Tannenbaum ausgebe.“
Paßvogel, unser Stellmacher, besaß ein kleines Fichtenwäldchen, in dem
schon die Tannenbäume meiner Großmutter geschlagen wurden. Es ging also wieder
los, ein untrügliches Zeichen, dass Weihnachten nahte, wenn unser Vater uns
schonend darauf vorbereitete, dass wir
das Weihnachtsfest in diesem Jahr wohl wirklich ohne Tannenbaum feiern müssten.
„Für ein paar Tannenzweige wird es schon reichen“, meinte er nach
kurzer Pause. Auch das kannten wir schon. Ute, meine etwas vorlaute Schwester,
sprach aus, was der Vater als nächstes gesagt hätte.
„Ja, ja, Papa, wir wissen´s. Dann müssen wir eben wieder eine
Wäscheleine durch das Weihnachtszimmer spannen, ein paar Tannenzweige, Kringel
und Kerzen und Heiligabend kommen wir dann in das Weihnachtszimmer und wieder
steht ein Tannenbaum da!“
Kaum war die Fröhlichkeit nach dieser Einlage verklungen, als der Vater
wieder ansetzte:
„In diesem Jahr ist es anders; aber so schlecht wird es mit der geschmückten
Wäscheleine auch nicht aussehen. Vielleicht klappt es ja im nächsten Jahr
wieder mit einem Weihnachtsbaum.“
Es war wirklich anders in diesem Jahr – die Kinder waren für dieses
Spielchen zu alt geworden. Angesteckt von der Sicherheit der Großen verloren
auch wir Kleinen den Respekt vor des Vaters Neuauflage vom Fest ohne
Tannenbaum. Allgemeine Heiterkeit erstickte jegliche Versuche, uns das
Wäscheleinenmärchen noch einmal aufzutischen.
Es muss die Woche vor Weihnachten gewesen sein, als dann plötzlich das
Weihnachtszimmer verschlossen war. Selbst das Schlüsselloch konnte nicht
weiterhelfen: Es war mit einer Stanniolkugel verstopft und zusätzlich von innen
verhängt.
Wäscheleine oder Tannenbaum?
Diese Frage wurde immer wieder von uns Kindern mit viel Heiterkeit
erörtert. Nein, diesmal sind wir ihm nicht auf den Leim gegangen und er hat es
bemerkt. Vom Vater kam seit jenem Adventsnachmittag kein Wort mehr zu dem
Thema. Er hatte eben begriffen, dass wir uns nicht mehr so leicht von ihm
verschaukeln ließen.
Trotz Stanniol war die Versuchung zu groß, das Schlüsselloch regelmäßig
zu kontrollieren. Vielleicht ist ja doch etwas zu sehen. Am Sonntagmorgen vor
dem Fest war es dann soweit: Statt Stanniol leuchtete Licht durch das
Schlüsselloch! Allein nicht mutig genug, musste ich erst meine kleine Schwester
Franziska holen, um mit ihr gemeinsam das Geheimnis hinter der verschlossenen
Tür zu lüften. Was wir dann sahen, wirkte wie ein Schlag und trieb uns die
Tränen in die Augen. Quer durch den Sichtbereich des Schlüsselloches spannte
sich eine Wäscheleine mit einigen kümmerlichen Fichtenzweigen behängt und zwei
oder drei Kerzen, die dem Gesetz der Schwerkraft folgend mit dem Docht zur Erde
hingen.
Zur Mittagszeit fand uns die Mutter auf den Betten sitzend mit
verheulten Gesichtern. Auch die großen Mädchen hatten ihren Übermut verloren.
Nun war nicht nur offensichtlich, wie arm wir wirklich waren. Wir mussten uns
zusätzlich mit der abscheulichen
Vorstellung abfinden, diese Weihnachten unter einer Wäscheleine feiern
zu müssen. Da halfen auch die tröstenden Worte der Mutter nichts, die immer wieder
beteuerte, dass wir alles versuchen würden, das Beste aus dieser Situation zu
machen. Wir beruhigten uns; aber die Vorweihnachtsstimmung der anderen Jahre
wollte einfach nicht aufkommen.
Dann war es endlich soweit. Nach einem bescheidenen Mittagsmahl am
Weihnachtstag – am Abend sollte es ja noch das Festessen geben – mussten wir
vier Kinder der Reihe nach durch die graue Zinkwanne. Eingewickelt in Decken
ging es aus der warmen Waschküche über kalte Kellergänge und Treppen in unser
Zimmer. Unter dem Gebläse des umgedrehten Koboldt Bohnerbesens trockneten die
Haare. Ein Föhn für die Haare gab es in unserem Haushalt nicht.
Mutter trug das schwarze Kleid mit Goldfäden, das ich nur immer
Weihnachten an ihr gesehen hatte. Auch wir Kinder waren mit unseren besten
Kleidungsstücken herausgeputzt. So standen wir in dem dunklen Flur vor dem
Weihnachtszimmer und warteten auf das Glöckchen des Christkindes, das noch
gemeinsam mit unserem Vater letzte Vorbereitungen im Weihnachtszimmer traf.
„Jetzt zündet er die Kerzen an“, sagte meine Schwester Regine in der
Pause zwischen zwei Weihnachtsliedern.
„Nee“, meinte die kleine Zissi, „die können doch gar nicht brennen – über
Kopp!“
„Oh du fröhliche“ musste Mutter dann alleine singen, weil unsere
Gedanken bei der Wäscheleine waren.
Vater und Christkind hatten ein Erbarmen mit uns, das Glöckchen
klingelte. Die Doppeltür öffnete sich und vor unseren Augen strahlte ein
Tannenbaum vom Fußboden bis zur Decke buntgeschmückt im Lichterglanz.
„Oh Tannenbaum“ haben wir dann alle aus vollem Herzen gesungen und
manch eine Freudenträne mag den Blick auf die Geschenke unter dem Baum getrübt
haben. So schön, wie in jenem Jahr, habe ich nie wieder einen Tannenbaum erlebt.
Es war das letzte Weihnachtsfest, vor dem Vater versuchte, uns mit der
Wäscheleinengeschichte auf die Folter zu spannen. Bis heute vergeht jedoch kein
Weihnachtsfest, ohne dass ich an die Wäscheleine im Weihnachtszimmer denken
muss.
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